Boyle Dr. Sex
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-446-24388-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 472 Seiten
ISBN: 978-3-446-24388-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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25. August 1956
Wenn ich heute zurückdenke, würde ich nicht sagen, daß ich jemals wirklich »verklemmt« war (um eines von Proks Lieblingswörtern zu gebrauchen), aber ich gebe zu, daß ich, als ich ihn kennenlernte, ziemlich naiv war, ganz zu schweigen von hoffnungslos langweilig und konventionell. Ich weiß nicht, was er eigentlich in mir gesehen hat – oder vielleicht doch. Vergeben Sie mir einen Anflug von Eitelkeit: Meine Frau Iris behauptet, ich sei auf der Uni so was wie der Schwarm aller Mädchen gewesen, allerdings war ich der letzte, der davon wußte, denn ich verabredete mich nicht mit Mädchen und fühlte mich schon immer unwohl bei belanglosem Geplauder, das in beiläufige Erkundigungen nach Plänen für den Abend mündet, beziehungsweise danach, ob man am Samstag nach dem Spiel schon etwas vorhat oder nicht. Ich war damals ganz gut trainiert und hatte die Schultern eines Football-Verteidigers und einen Taillenumfang von fünfundsiebzig (auf der Highschool hatte ich in der ersten Mannschaft gespielt, allerdings mitten im zweiten Jahr eine Gehirnerschütterung erlitten, worauf meine Mutter dieser Karriere ein vorzeitiges Ende bereitete), und im Gegensatz zu den meisten anderen Studenten hielt – und halte – ich mich gewissenhaft in Form, aber das gehört jetzt nicht zur Sache. Um das Porträt rasch abzurunden – denn ich habe es schon wieder geschafft, mich auf dünnes Eis zu manövrieren: Ich war mit etwas gesegnet, was Iris als »gefühlvolle« Augen bezeichnet, was immer das heißen mag, und hatte einen weizenblonden Haarschopf mit Naturlocken, die sich von keiner mir bekannten Haarcreme oder Pomade bändigen ließen. Was Sex betraf, so war ich begierig, aber unerfahren und auf die übliche Weise schüchtern – unsicher und etwa so ahnungslos, wie Sie es sich nur vorstellen können. Tatsächlich entwickelte ich zum ersten Mal ein mehr als rein theoretisches Verständnis vom Koitus – das heißt von der Mechanik des Aktes –, als ich im Herbst 1939, während meines letzten Studienjahrs an der University of Indiana, in einem mit sprach- und atemlosen Studenten und Studentinnen vollgepackten Hörsaal saß und Proks riesige, auf die Leinwand projizierte Dias sah. Ich war dort auf Anregung eines Mädchens namens Laura Feeney. Sie war eine der femmes fatales der Uni und schien nie irgendwohin zu gehen, ohne sich bei einem sportlich herausragenden Studenten untergehakt zu haben. Laura stand in dem Ruf, »schnell« zu sein, doch ich kann Ihnen versichern, daß ich nie in den Genuß ihrer sexuellen Freigebigkeit gekommen bin (sofern die Gerüchte überhaupt stimmten: Später stellte ich fest, daß die am heißesten wirkenden Frauen oft das am meisten unterdrückte Sexualleben haben und umgekehrt). Allerdings weiß ich noch, daß ich eindeutig geschmeichelt war, als sie mich eines Tages während der Einschreibung für das Herbstsemester auf dem Korridor anhielt, meinen Bizeps packte und mir einen Kuß auf die Wange drückte. »Oh, hallo, John«, hauchte sie. »Gerade hab ich an dich gedacht. Wie war der Sommer?« Ich hatte den Sommer zu Hause in Michigan City verbracht. Ich hatte Regale aufgefüllt und Einkäufe in Papiertüten gepackt, und wenn mal fünf Minuten lang nichts zu tun war, hatte meine Mutter mich Bäume zurückschneiden, Dachziegel austauschen und im Gemüsegarten Unkraut jäten lassen. Ich war einsam gewesen, ich hatte mich zu Tränen gelangweilt und in meinem Dachzimmer, das mehr einer Einzelzelle in einem Gefängnis glich, zweimal täglich masturbiert. Mein einziger Trost waren Bücher. In diesem Sommer war ich in den Bann von John Donne und Andrew Marvell geraten, und als Vorbereitung auf ein Seminar in englischer Literatur hatte ich Sir Philip Sidneys Astrophel und Stella dreimal gelesen. Aber das alles – oder auch nur einen Teil davon – konnte ich Laura natürlich nicht erzählen. Sie hätte mich für einen Waschlappen gehalten. Der ich ja auch war. Also zuckte ich bloß die Schultern und sagte: »Ganz gut soweit.« Stimmen hallten im Treppenhaus, dröhnten in den Ecken und drangen durch den Korridor bis zur Sporthalle, wo die Einschreibungstische aufgestellt waren. »Ja«, sagte Laura, und ihr Lächeln gefror für einen Augenblick, »ich weiß, was du meinst. Bei mir warnur Arbeit, Arbeit, Arbeit. Wußtest du, daß mein Vater einen Lunchimbiß in Fort Wayne hat?« Das wußte ich nicht. Ich schüttelte den Kopf und spürte, daß eine ganze Haarsträhne sich löste, obgleich ich beinahe eine halbe Flasche Cremeöl hineingeschmiert hatte. Ich trug eins der steifen neuen Arrow-Hemden, die meine Großmutter mir aus Chicago geschickt hatte, dazu eine Glencheck-Krawatte, die ich in diesem Jahr, glaube ich, täglich umband, in der Hoffnung, einen guten Eindruck zu machen; in der einen Hand hatte ich meine Aktentasche, in der anderen einen Stapel Bücher aus der Bücherei. Wie schon gesagt: Für Konversation fehlte mir jede Begabung. Ich murmelte etwas wie: »Fort Wayne, hm?« Es spielte jedoch keine Rolle, was ich sagte, denn sie riß ihre türkisgrünen Augen auf (sie hatte rotes oder vielmehr rotblondes Haar und eine Haut, so weiß, daß man hätte glauben können, sie habe nie das Licht der Sonne gesehen), drückte meinen Bizeps und senkte die Stimme. »Hör mal«, sagte sie, »ich wollte dich fragen, ob du dich vielleicht mit mir verloben möchtest...« Ihre Worte hingen zwischen uns und schlossen alles andere aus – das Geschnatter des Pulks von Erstsemestern, der unvermittelt aus der Herrentoilette kam, das Hupen eines Wagens auf der Straße –, und ich kann nur vermuten, mit was für einem Blick ich sie angesehen habe. Das war lange bevor Prok mich lehrte, meine Gefühle hinter der Maske des Unbeteiligten zu verstecken, und wie immer jagten meine sämtlichen Gedanken zusammen mit dem Blut in mein Gesicht und ließen sich als Barometer der Verwirrung in meinen Wangen nieder. »John, du wirst doch nicht rot, oder?« »Nein«, sagte ich, »gar nicht. Ich hab nur...« Sie sah mir direkt in die Augen und genoß diesen Moment. »Du hast nur was?« Ich zuckte die Schultern. »Wir waren in der Sonne – das war gestern, gestern nachmittag. Wir haben Möbel geschleppt. Und da hab ich wohl...« Jemand streifte mich im Vorbeigehen, ein jüngerer Student, der mir entfernt bekannt vorkam – war er letztes Jahr mit mir in Psychologie gewesen? –, und dann ließ sie die Katze aus dem Sack. »Ich meine, nur für dieses Semester. Und nur zum Schein.« Sie wandte den Kopf, und ihr Haar wogte. Dann sah sie mich wieder an, hob das Gesicht, bis es wie ein Satellit meines eigenen war, im Widerschein des Lichts leuchtend, das durch die Fenster am Ende des Korridors fiel. »Du weißt schon«, sagte sie, »für den Ehekurs.« Das war der Augenblick, in dem alles begann, auch wenn es mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewußt war – wie denn auch. Wie hätte ich ahnen können, daß eine seichte, leicht zu beeinflussende Frau, die ich kaum kannte, die treibende Kraft sein würde, daß sie mich zu Prok und Mac, Corcoran und Rutledge bringen würde, zu dem Tisch, an dem ich jetzt sitze und versuche, soviel wie möglich von dieser Geschichte zu Papier zu bringen, bevor die Welt in Stücke fällt. Ich sagte: »Ja.« Ich sagte: »Ja, gut«, und Laura Feeney lächelte. Und bevor es mir klarwurde, war ich im Begriff, ein Adept der Sexualwissenschaft zu werden, das Ideal zugunsten des Nachweisbaren aufzugeben, Stellas Traum (»’s ist wahr, daß wahre Schönheit wahre Tugend weist«) zugunsten von Anatomie, Physiologie und einer intimen Vertrautheit mit Bartholin-Drüsen und kleinen Schamlippen. All das – all die Jahre der Forschung, die Tausende von Kilometern, all die notierten Geschichten, das Suchen und Graben und Bahnbrechen – spulte sich wie ein unendlicher Faden von einer Garnrolle ab, die Laura Feeney an einem im übrigen ganz gewöhnlichen Herbsttag des Jahres 1939 in ihrer lilienweißen Hand hielt. Aber ich will das nicht zu hoch hängen – schließlich erlebt jeder Mensch Augenblicke, in denen Weichen gestellt werden. Und ich will Sie auch nicht allzu lange im ungewissen lassen. Der »Ehekurs«, von dem Laura gesprochen hatte – eigentlich eine Vorlesung mit dem Titel »Ehe und Familie« –, wurde von Professor Kinsey von der zoologischen Fakultät sowie einem halben Dutzend seiner Kollegen aus anderen Fakultäten angeboten und war die Sensation. Es waren nur Professoren und Dozenten, verheiratete oder verlobte Studenten sowie Doktoranden beiderlei Geschlechts zugelassen. Insgesamt würden elf Sitzungen stattfinden, von denen fünf den soziologischen, psychologischen, ökonomischen, juristischen und religiösen Aspekten der Ehe gewidmet waren und von Dozenten der jeweiligen Fakultäten abgehalten wurden, und die dort vermittelten Informationen waren gewiß nützlich und nötig, aber in Wirklichkeit nichts weiter als Dekoration für die sechs unverblümten Vorträge (unter Verwendung audiovisueller Hilfsmittel), die Prok über die Physiologie ehelicher Beziehungen halten würde. Die ganze Uni sprach von nichts anderem, und ich habe den Verdacht, daß eine Menge Studentinnen im dritten Studienjahr denselben Gedanken gehabt hatten wie Laura Feeney und nun in Ramschläden nach billigen Verlobungsringen suchten – vielleicht sogar Studentinnen im ersten und zweiten Studienjahr. Ich nehme an, Lauras Sportskanonen waren zu sehr von den Vorbereitungen auf die Wintersaison und somit von ihren Trainern in Anspruch genommen, und darum besetzte sie die Rolle des Bräutigams mit mir. Ich hatte nichts dagegen. Natürlich könnte ich sagen, daß sie nicht mein Typ war, aber unter den richtigen Umständen ist jede Frau der Typ eines jeden Mannes. Sie war beliebt, sie war hübsch, und wenn die Leute sie...