Boyle | Drop City | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 528 Seiten

Boyle Drop City

Roman
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-446-23968-5
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 528 Seiten

ISBN: 978-3-446-23968-5
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Boyles grandiose Geschichte einer Hippie-Kommune, die von Kalifornien nach Alaska zieht, mit allen berechenbaren und unberechenbaren Folgen. "Drop City" ist der Roman einer naiven und idealistischen Generation, die das Lebensgefühl von vielen von Grund auf verändert und bis auf den heutigen Tag geprägt hat. Satirisch, realistisch, skurril.
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1
Der Morgen war ein Fisch im Kescher, glitzernd und zappelnd am pechschwarzen Rand ihres Bewußtseins, aber sie hatte noch nie einen Fisch mit einem Kescher gefangen, ebensowenig wie mit der Angel, so daß sie nicht recht sagen konnte, ob oder wie oder warum. Der Morgen war ein Fisch im Kescher. Das sagte sie wieder und wieder vor sich hin, machte einen Singsang daraus – ein Mantra –, während sie Quecken mit der Guillotine ihrer Hacke köpfte, die schlitzäugigen Ziegen melkte und dann gemeinsam mit sechzig ekstatischen Gleichgesinnten schlürfend und kauend vor dem saß, was irgend jemand sich unter Haferbrei vorstellte. Draußen brannte die Sonne Kaliforniens ein Statement in den Staub und zeigte den Nebengebäuden und den Bäumen zehn oder halb elf an. Ringsum erklangen Stimmen, lautes Lachen, vormittägliches Scherzen und Sticheln, sie selbst aber genoß das Schweben und ließ nur ihr Ein-Millionen-Kilowatt-Lächeln aufstrahlen, nahm den Keramiknapf mit den Nüssen und Körnern und Rosinen in Ziegenmilch und einem klebrigen Haferflockenklecks darin und wanderte zur Tür hinaus auf den Hof, um sich auf einem Baumstumpf niederzulassen und zu spüren, wie der heiße Staub des Tages zwischen ihre nackten Zehen kroch. Essen war kein privater Akt – auf Drop City war überhaupt nichts privat –, aber dafür gab es hier auch keine Aufseher im Schlafsaal, keine Animateure, weder Eltern noch Chefs, und sie hatte endlich das Gefühl, ihr eigenes Ding durchzuziehen. Nämlich locker abzuhängen. Denn darum ging’s ja wohl bei allem, oder? Sich die kalifornische Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen, ohne Spielchen, ohne die Plastikgesellschaft – nichts als Freiheit und verwandte Seelen, lauter Brüder und Schwestern. Star – Paulette Regina Starr, die ihren Namen und ihr Wesen auf vier Buchstaben reduziert hatte – war inzwischen schätzungsweise drei Wochen auf Drop City. Schätzungsweise. In Wirklichkeit hätte sie nicht sagen können, wie lange sie nun schon auf einer bestimmten Matratze in einem bestimmten Zimmer zwischen einem Haufen unbestimmter Leute pennte, und das war ihr auch nicht wichtig. Sie zählte keine Tage, Wochen und Monate – nicht mal die Jahre. Und Äonen auch nicht. Urknall. Wer hat das Universum erschaffen? Gott hat es erschaffen. Der Morgen ist ein Fisch im Kescher. War es nicht ein Dienstag gewesen, als sie eingetrudelt waren? Am Dienstag war abends immer eine Session, und heute ... Heute war Freitag. Das sagte ihr schon der Trubel rund um die Kochtöpfe in der Küche – die Wochenendhippies rollten an, samt den Gaffern und den Spannern –, aber was die Zeit anging, so hatte sie damit wenig Probleme, wie ja wohl aller Welt klargeworden sein dürfte, als sie in Taos ihre Tissot mit dem Goldarmband abgestreift und einem Indianerkind geschenkt hatte – ohne daß der Junge sie angeglotzt oder gar angebettelt hätte, er stand einfach so an der Bushaltestelle, an der Hand seiner Mutter. »Hier«, hatte sie gesagt und sich das Ding vom Handgelenk gezogen, »willst du die haben?« Sie war noch nie an der Westküste gewesen, hatte so etwas wie ihn noch nie gesehen, aber da war er, die schwarzen Haare hingen ihm über die schwarzen Augen, ein tief in sich gekehrtes Indianerkind, und sie mußte ihm einfach irgendwas geben. In den Hügeln tummelten sich die Kakteen. Die Abgase des Busses stiegen ihr in die Nase, und ihre Augen tränten. In den Westen war sie mit einem Typ von zu Hause gekommen, Ronnie Sommers, der sich Pan nannte, und sie hatten unterwegs etliche Abenteuer erlebt, Star und Pan – ein bißchen wie die Entdecker Lewis und Clark, nur greller in der Optik. Ronnie nahm an Trampern alles mit, was lange Haare hatte, und das machte sich immer sagenhaft gut, denn es eröffnete ihnen eine riesige Welt von Schlafgelegenheiten mit Essen und Drogen gratis. Einmal pennten sie in Arizona eine Nacht in einem Tipi, bei einem Typ, der ganz braungebrannt und mager war und sich das Haar mit einem Stirnband aus Schlangenhaut zurückgebunden hatte. Sie kochten braunen Reis mit Blumenkohl am Lagerfeuer und warfen Peyote-Buttons ein, die er in den grellweißen Hügeln selbst gesammelt hatte. »Jäger und Sammler«, wiederholte er ständig, »genau das sind wir«, und jedesmal, wenn er es sagte, prusteten sie los, und dann baute Ronnie einen Joint, und sie fühlte sich so großartig, daß sie es gleich mit beiden machte. Sie sang immer noch vor sich hin, die Blätter an den Bäumen brutzelten unter ihren Augen, und der Haferflockenklecks starrte sie aus der gelblichen Ziegenmilch heraus an wie etwas, was aus ihrem Körper gekommen war, ausgespuckt, erbrochen, im eigenen Saft glänzend, als ein Schatten über sie fiel, und da war er, Ronnie, schwebte im Rahmen ihres Bildausschnitts wie ein Schemen. »Hey«, sagte er und kauerte sich in seinen Riemensandalen und den abgeschnittenen Bluejeans vor sie hin, »du hast mir gefehlt, wo warst du denn?« Dann hob er ihren Fuß aus dem Staub, ihren rechten Fuß, den mit der angelhakenförmigen Narbe, einer Kindheitserinnerung, und er küßte sie dort, der feuchte Abdruck seiner Lippen glitzerte in der Sonne. Sie starrte auf ihren Fuß, auf seine schlanke Hand und seine abgekauten langen Nägel, auf die Silber-Türkis-Ringe, die das Licht einfingen. »Ringo-Pan«, sagte sie. Er lachte. Sein Haar wurde im Nacken lang, es floß wie Garn über seinen Kopf, und der Bart wuchs allmählich zusammen. Doch sein Gesicht – sein Gesicht war klein und weit entfernt, wie ein Luftballon, der in den Himmel hinaufstieg. »Ich hab die Ziegen gemolken«, sagte sie. Zwei Kinder – kleine Kinder, blond, nackt und dreckig – kamen vorbei, plumpsten auf die Knie und rangelten miteinander. Irgend jemand schlug ein Tamburin, und jetzt hob auch eine Blockflöte an, trällerte und verstummte und hob wieder an wie Vogelgesang. »Gutes Dope, was?« sagte er. Ihr Lächeln kehrte zurück, ganz selig und sonnenerfüllt. Alles lebte, überall. Sie fühlte die Erde als große Kugel unter ihren Füßen rotieren. »Yeah«, sagte sie. »Allerdings. Echt irre.« Und dann war es Abend. Sie war langsam heruntergekommen, im Laufe eines langen, lässigen Nachmittags, der sich gerekelt und gewälzt hatte wie ein Hund auf seiner Decke, später hatte sie mit ein paar anderen in der Küche gewerkelt, Kräuter, Zwiebeln und Tomaten für die Linsensuppe kleingeschnitten und dabei zu Jefferson Airplane und Country Joe and the Fish mitgesungen. Irgend jemand ließ eine Pfeife herumgehen, und sie nahm ein, zwei Züge, außerdem achtete sie darauf, daß ihr Marmeladenglas immer voll mit Rotwein war, beim Kochen und beim Abwaschen ebenso wie beim Essen, das sich hinzog wie das Letzte Abendmahl, während ein Typ namens Sky Dog – oder hieß er Junior Sky Dog? – auf der Gitarre spielte und dazu Texte sang, die er sich offenbar ad hoc ausdachte. Die blonden Kinder vom Vormittag waren auch da, immer noch nackt, die Linsensuppe fleckte ihre Bäuche wie Kriegsbemalung, und eine große hagere Frau mit Augen, die wie zwei Krater in ihrem Kopf lagen, hatte sich ihr Baby in einem Weidenkörbchen auf den Rücken geschnallt. Überall waren Menschen, die sie fast alle noch nie gesehen hatte – die Wochenendhippies aus der Stadt –, und ihre Brüder und Schwestern waren auch da. Qualm stieg auf, von Räucherstäbchen und Gras- und Haschischjoints, die gewissenhaft von Hand zu Hand gereicht wurden, als wollten sie alle gemeinsam eine riesige Stickerei in der Luft anfertigen. Zwei magere hellbraune Hunde beschnüffelten die Füße der Leute und stießen die Schnauzen in die Futternäpfe, die überall auf dem Boden standen. Star hatte es sich in der Ecke auf einem Thron aus alten Sofakissen gemütlich gemacht, zusammen mit Ronnie und einer neuen Frau, deren Namen sie vergessen hatte. Sie verspürte nichts als Müdigkeit, und obwohl die ganze Szene einfach phantastisch war, wie ein Sommerlager ohne Aufsicht, wie eine Party, die nie zu Ende ging, fand sie doch, daß es allmählich genug war, und hätte sich am liebsten davongestohlen und einen Platz zum Hinhauen gesucht, um vom Schlaf davongespült zu werden wie von einer dunklen Flut des Nichts. Ronnies Bein lag über ihrem, und sie spürte die Berührung des Haars der neuen Frau an ihrer Schulter, wie eine Prise Salz oder Zucker. Sie schloß die Augen, ließ sich treiben. Die Musik versickerte wie Wasser in einem Ausguß, Wasser, das sie jetzt überspülte, ein Bach, ein Fluß, ein Bassin ergoß sich ins nächste ... Doch dann stieß plötzlich eines der Kinder einen gellenden Klagelaut aus, und sie kehrte zurück in die Wirklichkeit. Es war der kleine nackte Junge, der mit seinen baumelnden Geschlechtsteilen und den fehlenden Vorderzähnen wie ein Mini-Dämon aussah und der gerade seiner Mutter – Reba, so hieß sie, oder vielleicht Rena? – irgend etwas aus der Hand schlug. Er kreischte noch einmal auf, aber damit war der Spuk auch schon vorbei, denn Reba hielt ihm einfach einen Joint an die Lippen und sank dann zurück in die Kissen, als wäre nichts geschehen. Und so war es ja auch. Niemand schien es zu bemerken oder sich drum zu kümmern. Zu Sky Dog hatte sich jetzt ein zweiter Gitarrenspieler gesellt, und sie arbeiteten sich durch die stetigen, stockenden Modulationen eines Blues. Eine Frau mit nacktem Oberkörper, die bisher noch keiner gesehen hatte, stand auf und fing an, mit den Hüften zu wackeln und ihre gewaltigen Brüste im Rhythmus der Musik zu schwenken; es dauerte nicht lange, da erhoben sich auch ein paar der ständigen Mitglieder der Kommune und taten es ihr gleich, wiegten sich im Takt und schlängelten die Arme in die Höhe wie Hindu-Mystiker. »Touristin«, sagte Ronnie, und die Silben perlten ihm hart und trocken über die Zunge. »So ein...


Boyle, T.C.
T. Coraghessan Boyle, 1948 in Peekskill, N.Y., geboren, unterrichtete an der University of Southern California in Los Angeles. Bei Hanser erschienen zuletzt Willkommen in Wellville (Roman, 1993), América (Roman, 1996), Riven Rock (Roman, 1998), Fleischeslust (Erzählungen, 1999), Ein Freund der Erde (Roman, 2001), Schluß mit cool (Erzählungen, 2002), Drop City (Roman, 2003), Dr. Sex (Roman, 2005), Talk Talk (Roman, 2006), Zähne und Klauen (Erzählungen, 2008), Die Frauen (Roman, 2009), Das wilde Kind (Erzählung, 2010), Wenn das Schlachten vorbei ist (Roman, 2012), San Miguel (Roman, 2013), die Neuübersetzung von Wassermusik (Roman, 2014), Hart auf hart (Roman, 2015), die Neuübersetzung von Grün ist die Hoffnung (Roman, 2016), Die Terranauten (Roman, 2017) und Good Home (Erzählungen, 2018).



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