Boyle | Grün war die Hoffnung | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 1880 Seiten

Boyle Grün war die Hoffnung


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-446-23962-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 1880 Seiten

ISBN: 978-3-446-23962-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Vier Romane des großen amerikanischen Autors T.C. Boyle, die anhand ihrer Geschichten und Charaktere auf jeweils einzigartige Weise von der Beziehung Mensch - Natur erzählen, vom unlösbaren Konflikt zwischen rationalen Fähigkeiten und animalischen Trieben, von plötzlich drohenden Katastrophen und ungeahnter Machtlosigkeit. In "World's End" wird ein junger Mann von den Geistern der Vergangenheit heimgesucht und begibt sich auf die Suche nach seinem Vater. In "Ein Freund der Erde" befinden wir uns mit einem militanten Umweltschützer im Jahr 2025. "Drop City" beschreibt die Auswanderung einer kanadischen Hippie-Kommune nach Alaska. Und "Wenn das Schlachten vorbei ist", Boyles neuester Roman, handelt von der Ausbeutung der Natur durch den Menschen und den katastrophalen Folgen. Mit "Das gierige Tier" enthält die Compilation außerdem ein ausführliches Interview, in dem Boyle über aktuelle Umweltfragen, unseren Umgang mit der Natur und deren Rolle in seinem Werk spricht.
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EIN ZUSAMMENSTOSS
MIT DER GESCHICHTE
An dem Tag, als Walter Van Brunt seinen rechten Fuß verlor, hatten ihn sporadisch Spukgestalten der Vergangenheit heimgesucht. Es begann beim Aufwachen, als ihm der Geruch von Kartoffelpuffern in die Nase stieg, ein Geruch, der ihn an seine Mutter erinnerte, die nach den Unruhen von Peterskill 1949 an Kummer gestorben war; weiter ging es während der trostlosen Mittagspause, die er teils nostalgischen Erinnerungen an seine Großmutter väterlicherseits, teils einem Leberwurstbrötchen widmete, das nach totem Fleisch und Chemie schmeckte. Am Nachmittag, an der heulenden Drehbank, stand auf einmal schemenhaft sein Großvater vor ihm, ein mürrischer, bierbäuchiger Mann, behaart wie ein Menschenfresser aus dem Märchen; und dann, kurz vor Feierabend, hatte er noch die vage, verschwommene Vision von einem grinsenden Holländer in Pluderhosen und hohem Spitzhut. Den ersten Geist, den Kartoffelpuffergeist, beschwor die flinke kulinarische Hand von Lola Solovay, seiner Adoptivmutter, herauf. Obwohl Walter noch nicht einmal vier gewesen war, als seine leibliche Mutter den Mächten der Bigotterie und eines fehlgeleiteten Patriotismus erlag, erinnerte er sich vor allem an ihre Augen, die wie fleischgewordene Seelen gewesen waren, und an die federleichten, leckeren Kartoffelpuffer, die sie immer reichlich mit saurer Sahne und selbstgemachtem Apfelmus übergossen hatte. Er lag im Bett, in dem Dämmerzustand zwischen Wachen und Träumen, und wartete auf den Wecker, der ihn zu seinem höllischen Job im Werk der Depeyster Manufacturing zitieren würde, als er den Duft dieser ätherischen Kartoffelpuffer schnupperte, und einen Moment lang war seine Mutter da, direkt neben ihm. Der Geist seiner Großmutter, Elsa Van Brunt, stand ebenfalls mit Essensgeruch in Verbindung. Er wickelte das Weißbrot mit Leberwurst aus, das Lola für ihn im morgendlichen Zwielicht kreiert hatte, und auf einmal war er zehn Jahre alt und verbrachte den Sommer mit den Großeltern am Fluß; es war ein Tag, so dunkel wie im Dezember, und ein Gewitter hockte oben auf dem Dunderberg. Die Großmutter war von ihrer Töpferscheibe aufgestanden, um das Mittagessen zu machen, und erzählte ihm dabei die Geschichte von Sachoes’ Tochter. Sachoes, so wußte Walter aus früheren Episoden, war der Häuptling der Kitchawanken, jenes Stammes, dem die Gründer von Peterskill-on-the-Hudson in den Tagen der holländischen Kolonie das Land für die Siedlung abgeschwatzt hatten. Damals waren die Kitchawanken, im Grunde ein lethargischer, friedliebender, Rindenhütten bauender Clan von Faulenzern und Austernessern, den kriegerischen Mohawk im Norden zur Treue verpflichtet. Tatsächlich waren diese Mohawk so wild, so grausam, so kriegerisch und raubgierig, daß sie nur einen einzelnen Krieger zum Abholen des Tributs schicken mußten, und Manitou mochte dem Stamme gnädig sein, der ihn nicht wie einen Gott bewirtete und mit wampumpeak und seawant in rauhen Mengen überhäufte. Kanyengahaga nannten sich die Mohawk selbst: Leute vom Ort des Feuersteins, bei den Kitchawanken und ihren mohikanischen Vettern dagegen hießen sie Mohawk: Leute, die Leute fressen – eine Anspielung auf ihre Neigung, all jene zu braten und zu verzehren, die ihnen nicht zu Willen waren. Nun ja. Weißbrotscheiben wurden auf den Teller gelegt, Tomaten geschnitten, eine in Zellophan gewickelte Leberwurst aus dem Kühlschrank geholt. Sachoes hatte eine Tochter, sagte Walters Großmutter, und deren Name war Minewa, nach der Göttin des Flusses, die Blitz und Donner schleuderte. Dabei zeigte sie aus dem Fenster über den breiten Rücken des Hudson hinweg zum Dunderberg, auf dessen Gipfel die Blitze wie Nervenenden zuckten. So wie die da. Eines geruhsamen Nachmittags im August kam ein Mohawkkrieger ins Dorf, nackt bis auf den Lendenschurz und bemalt wie Tod und Teufel. Tribut, verlangte er mit einer Stimme, die wie das Zischen einer Viper klang, dann brach er ohnmächtig zusammen; Blut spritzte ihm aus Mund und Ohren, und die Pockennarben in seinem Gesicht schwollen an. Minewa pflegte ihn. Falls er starb, wäre es aus mit dem Austernessen, mit den lustigen Fahrten in Rindenkanus und dem Auslutschen des süßen weißen Fleisches aus den Panzern der Blauscherenkrebse: es wäre aus mit den Kitchawanken. Dafür würden die Mohawk schon sorgen. Einen Monat lang lag er in Sachoes’ Hütte flach, den Kopf auf Minewas Schoß gebettet, während sie mit Ottermoschus sein Fieber linderte und ihn mit Kräutern und wilden Zwiebeln labte. Allmählich kam er wieder zu Kräften, bis er eines Tages ohne fremde Hilfe aufstehen und seine Forderung nach Tribut wiederholen konnte. Diesmal jedoch verlangte er weder Biberfelle noch wampumpeak – er wollte Minewa. Sachoes zögerte, aber der Mohawk tobte und drohte und schnitt sich an drei Stellen die Brust auf, um seine Lauterkeit zu beweisen. Er würde sie nach dem Land im Norden bringen und zu einer Königin machen. Natürlich, wenn es Sachoes lieber war, ginge der tapfere Krieger eben mit leeren Händen heim, um irgendwann in einer sternlosen Nacht mit einem Stoßtrupp wiederzukehren und die Kitchawanken wie Hunde niederzumetzeln. Sachoes, der bald darauf von einem holländischen Kaufmann übertölpelt werden sollte, was zur Gründung von Peterskill auf demselben heiligen Felsen führte, von dem aus des Häuptlings Ahnen Manitous Große Frau zur Erde hatten niederfahren sehen, sagte: »Klar, nimm sie mit.« Zwei Wochen später durchkämmte eine Gruppe Kitchawanken auf der Suche nach Eicheln, Kastanien und Hagebutten das Nachbartal, als sie den Rauch einer Feuerstelle bemerkten. Vorsichtig, voller Mut und Neugier und nicht ohne gehörige Kühnheit – bei Manitou, der Teufel selbst mochte dort sitzen und irgendeine Seuche zusammenbrauen – näherten sie sich der Lichtung, von der Rauch zum Himmel aufstieg wie der Traum eines Kapnomanten. Was sie dort sahen, sagte Walters Großmutter, während sie Mayonnaise verstrich, war Verrat. Was sie sahen, waren Mohawk und Minewa, vielmehr, was von ihr noch übrig war. Von der Hüfte abwärts war nichts mehr da, erzählte seine Großmutter und legte das Sandwich vor ihn hin – die Leberwurst sah aus wie Menschenfleisch, ja sie roch auch so –, nichts als Knochen. Waren die Bilder von Mutter und Großmutter durch Reizungen des Geruchszentrums wachgerufen worden, so lag der Fall beim Geist seines Großvaters komplizierter. Vielleicht ist es mit Assoziationen ebenso: es braucht nur einen kleinen Anstoß, schon folgt eine auf die andere, und das Gehirn reiht Erinnerungen aneinander wie Perlen auf einer Schnur. In der Hitze des Nachmittags jedenfalls hatte der alte Harmanus Van Brunt gleich links neben der Drehbank Gestalt angenommen, grobschlächtig, bierbäuchig und breitschädlig, behaart wie ein Eber, Schneidöl und Aluminiumspäne in den Haaren seiner Unterarme, eine Tonpfeife zwischen die Zähne geklemmt. Sein ganzes Leben lang war er Fischer gewesen, hatte mit der Kraft seiner Schultern und seinem Bauch als Gegengewicht die Netze eingeholt, und gestorben war er, wie er geboren wurde: auf dem Fluß. Walter war zwölf oder dreizehn gewesen. Sein Großvater war damals schon zu alt, um die schweren Stellnetze mit den Streifenbarschen und Stören an Land zu ziehen, hielt sich aber in Übung, indem er Plötzen einfing, die er aus Trögen als Köder verkaufte. Eines Nachmittags – für Walter war die Erinnerung daran wie ein glühendes Brenneisen – wurde das Gesicht des Alten starr, dann klappte ihn der Schlaganfall wie ein Taschenmesser zusammen, und er fiel kopfüber in den Trog, wo sich das Gewusel der Plötzen über ihm schloß. Bis Walter Hilfe holen konnte, war der alte Mann ertrunken. Bei dem Holländer war es wieder anders. Eine Figur, wie sie Walter auf der Europareise mit den Solovays in einer Amsterdamer Galerie gesehen hatte. Oder vielleicht auf einer Zigarrenkiste. Er grübelte darüber nach und schrieb das Ganze dann seinen Verdauungsbeschwerden und dem genetischen Gedächtnis zu, zu gleichen Teilen. Als die Fünf-Uhr-Sirene heulte, schüttelte er zweimal den Kopf, wie um ihn klar zu bekommen, und donnerte auf seinem Motorrad zum »Throbbing Elbow«, um dort aus Anlaß seines zweiundzwanzigsten Geburtstags in aller Tristesse ein Bier zu kippen. Doch selbst hier, in diesem Schrein der Gegenwart mit den grellen Neonröhren, den dröhnenden Tieftönern und den Schwarzlichtstrahlern, ereilte ihn eine Attacke der Geschichte. Als er in seinen neuen Dingo-Stiefeln mit den Sporenriemenattrappen durch die Tür gestolpert kam, hätte er schwören können, daß da sein Vater an der Bar stand, neben einem Mädchen, dessen Kleid so kurz war, daß es die untere Rundung ihres Hinterns freiließ. Er irrte sich. Bei seinem Vater jedenfalls; der Hintern des Mädchens war unbestreitbar. Sie trug ein Minikleid aus Papier, handgefärbt von den Shawangungk-Indianern aus der Reservation südlich von Jamestown, mit dazu passendem Slip. Der Mann neben ihr erwies sich als Hector Mantequilla, struppiges wildes Haar und ein zwanzig Zentimeter langer Spitzkragen. »Van!« sagte er im Umdrehen, »was liegt an?« Auch das Mädchen wandte sich um: Haare bis in die Augen, knallroter Schmollmund, nichts Halbes und nichts Ganzes. Walter hatte seinen Vater seit elf Jahren nicht mehr gesehen. Walter zuckte die Achseln. Er bemitleidete sich selbst, fühlte sich als Waise und als Märtyrer und total ausgebrannt, voll mit der merde des menschlichen Daseins und angewidert vom Gedanken des Verfalls: er fühlte sich alt. Es war 1968. Sartre machte Schlagzeilen, die Saturday Review fragte: »Können wir den Nihilismus überleben?«, und Life hatte den Theatermacher Jack Gelber auf einer...


Boyle, T.C.
T. Coraghessan Boyle, 1948 in Peekskill, N.Y., geboren, unterrichtete an der University of Southern California in Los Angeles. Bei Hanser erschienen zuletzt Willkommen in Wellville (Roman, 1993), América (Roman, 1996), Riven Rock (Roman, 1998), Fleischeslust (Erzählungen, 1999), Ein Freund der Erde (Roman, 2001), Schluß mit cool (Erzählungen, 2002), Drop City (Roman, 2003), Dr. Sex (Roman, 2005), Talk Talk (Roman, 2006), Zähne und Klauen (Erzählungen, 2008), Die Frauen (Roman, 2009), Das wilde Kind (Erzählung, 2010), Wenn das Schlachten vorbei ist (Roman, 2012), San Miguel (Roman, 2013), die Neuübersetzung von Wassermusik (Roman, 2014), Hart auf hart (Roman, 2015), die Neuübersetzung von Grün ist die Hoffnung (Roman, 2016), Die Terranauten (Roman, 2017) und Good Home (Erzählungen, 2018).



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