Boyle | Riven Rock | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 568 Seiten

Boyle Riven Rock

Roman
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-446-24390-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 568 Seiten

ISBN: 978-3-446-24390-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine amerikanische Ehe: Der steinreiche Erbe Stanley McCormick heiratet im Jahr 1904 die schöne Katherine Dexter. Alles paßt zusammen: Reichtum, Schönheit, Prestige, Intelligenz. Doch McCormick leidet unter sexuellen Wahnvostellungen und kann nicht mit einer Frau allein gelassen werden - schon gar nicht mit der eigenen. Primatenforscher, Quacksalber und Freudianer versuchen sich als Ärzte, aber nur seine Frau und ein Pfleger bleiben ihm wirklich treu. Eine bizarre, anrührende Liebesromanze.
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1 Wie seine Hand Wie seine Hand mit ihrem Gesicht in Berührung kam – ihrem süßen, pausbäckigen, provozierenden kleinen Vollmond von Ehefrauengesicht, das jede Nacht auf dem ehelichen Kopfkissen den Platz neben dem seinen fand –, das war für O’Kane ebenso ein Rätsel wie die gefurchte Wölbung des Himmels und der Regen, der wie etwas Zorniges, Unausrottbares auf die erschöpfte Landschaft fiel. Es war nicht spät – noch nicht einmal zehn. Und er war auch nicht wütend. Jedenfalls noch nicht. Im Gegenteil, er hatte gefeiert – hatte sich besudelt, wie sie wohl sagen würde, ordentlich einen draufgemacht, feste gefeiert, und dreimal Hoch dieses und jenes, und Hipp, hipp, hurra –, gefeiert mit Nick und Pat und Mart und mit Dr. Hamilton, ja, mit dem auch. Er hatte sein restliches Leben gefeiert, weil es gerade angeknipst worden war wie ein elektrischer Schalter und ihn mit hellem Licht überflutete, das ihm jetzt zu den Nasenlöchern und zu den Ohren, zum Mund und vermutlich auch zum Hintern herausströmte, obwohl er noch keine Gelegenheit gehabt hatte, dort unten nachzusehen, aber das würde er irgendwann auch noch tun, bestimmt. Dann war er nach Hause gekommen, und da hatte sie gewartet, war im Wohnzimmer auf und ab gepirscht wie eine unermüdliche kleine Rattenfresserin, mit gesträubtem Haar, angespannt und sprungbereit. Er hatte sie nicht schlagen wollen – er hatte sie bis dahin nur einmal geschlagen, vielleicht zweimal –, und das Komische war, daß er gar nicht wütend war, nur... gereizt. Und müde. Zu Tode erschöpft. Dieses Gequake, das sie ausstieß, dazu das greinende Baby im hinteren Zimmer, und die Art, wie sie ihm ständig ihr Gesicht entgegenschob, als wäre es ein Volleyball, gegerbt und genäht und prall aufgepumpt – sie gönnte es ihm nicht, nicht einmal das, nach all der nervenzerfetzenden Ungewißheit, die er die letzten zwei Monate durchgestanden hatte, und als der aufgeblasene Ball ihres Gesichts wieder auf ihn zusteuerte, so etwa zum fünfzigstenmal, da knallte er ihn ohne Umschweife zurück übers Netz, gerade so als wäre er wieder in der Schule und hechtete nach einem Angriff über den harten, festgetrampelten Boden des Volleyballplatzes. Daraufhin legte sie erst richtig los, und von da an fand er keinen Frieden mehr, sie war wie ein artesischer Brunnen, es sprudelte nur so aus ihr heraus, Tränen und Blut und Wut schlugen ihm entgegen, aber während er diesem verheulten Gesicht auswich, bis er so leer und ausgelaugt war, daß er in eine Finsternis taumelte, die schwärzer war als das letzte ersterbende Blinzeln des Bewußtseins, konnte er an nichts anderes denken als an Mrs. McCormick – Katherine – und daran, was für eine Dame sie war, dabei klebte Rosaleen an ihm wie ein Fliegenfänger und schrie herum, daß die Fensterscheiben barsten und das Dach einkrachte und die ganze schlafende, betäubte Stadt in einer tiefen Erdspalte verschwand. Nicht lange davor, am Morgen dieses Tages, war alles anders gewesen. Er war bei Tagesanbruch aufgewacht und hatte sie neben sich liegen gesehen, die weichen Blütenblätter ihrer Lider, ihre Wimpern, ihre Lippen, die fragile Komposition ihres Gesichts, und er wollte sie küssen, wollte sich hinüberbeugen und mit dem Mund über den Flaum ihrer Wange streichen, doch er tat es nicht. Er wollte sie nicht wecken – und seinen Sohn auch nicht. Es war zu friedlich, dieses Unterwasserlicht, das verstohlene Ticken der Uhr, das erste Vogelgezwitscher, und er wollte nicht mit ihr über die McCormicks und die Besprechung reden, über seine Ängste und seine Hoffnungen – die er selbst kaum kannte. Also streifte er sein Nachthemd neben dem Bett ab und huschte nackt ins Wohnzimmer hinüber, den guten Anzug aus Donegal-Tweed über dem einen Arm und frische Unterwäsche über dem anderen, um sich dort wie ein Kleiderdieb anzuziehen. Dann verschwand er zur Tür hinaus in ein anderes Leben. Man schrieb das Jahr 1908, und er war gerade fünfundzwanzig geworden. Knapp eins dreiundachtzig groß, hatte er die Boxerstatur seines Vaters geerbt (der den Prototyp in den neunziger Jahren bei einer Serie von zumeist siegreichen Faustkämpfen ohne Handschuhe gut genutzt hatte) und die versonnenen meergrünen Augen seiner Mutter, mit den zwei haselnußbraunen Uhrzeigern im rechten, die unveränderlich, jedenfalls in diesem Leben, drei Uhr anzeigten. Seine Mutter hatte immer gesagt, dieses chronometrische Auge würde ihm Glück bringen – großes Glück und Reichtum –, doch als er sie genauer befragte, schon mit zehn oder elf etwas skeptisch geworden, da deutete sie nur auf den Beweis und meinte, die Stunde sei vorherbestimmt. Aber was ist mit dir? fragte er dann und ließ den Blick über die farblosen Wände der vier Zimmer schweifen, die sie mit seiner Großmutter, Onkel Billy, seinen vier Schwestern und drei Cousinen teilten, wo ist denn dein Drei-Uhr-Glück geblieben? Und daraufhin nahm sie sein Gesicht in die Hände, die zarteste Berührung der Welt, und flüsterte: »Hier ist es, hier, ich halt’s in meinen Händen.« Der Morgen verging wie im Flug. Zuerst war er im Haus in der White Street gewesen, wo man Mr. McCormick untergebracht hatte, um ihm die Belästigung durch andere Patienten zu ersparen, dann war er zum McLean Hospital aufgebrochen, und jetzt war er spät dran, deshalb ging er quer über den Rasen vor dem Verwaltungsgebäude, es war ein Tag wie ein nasser Lappen, obwohl es bereits die letzte Aprilwoche war, und er hätte den Göttern ein Opfer gebracht für einen einzigen Sonnenstrahl – er war spät dran und in Eile, und es kümmerte ihn einen Dreck, daß er Hut und Mantel im Pflegerzimmer liegengelassen hatte und die Aufschläge seiner Hose aus gutem Donegal-Tweed die Nässe aufsogen, als hätte er sich zwei Schwämme um die Knöchel gebunden. Es hätte ihn aber kümmern müssen, denn als der Schneider damals aus Ballyshannon gekommen und in die Pension ein paar Häuser weiter eingezogen war und seine Mutter ihm geraten hatte, diese Gelegenheit zu nutzen und sich einen guten Anzug nähen zu lassen, denn nur als ordentlich angezogener Zeitgenosse dürfe er je darauf hoffen, mit dem Kopf statt mit den Händen zu arbeiten, da hatte er achtzehn Dollar dafür hingelegt. Achtzehn gute harte Yankee-Dollars, die er im Bostoner Irrenhaus damit verdient hatte, daß er Blut, Kotze und noch Schlimmeres von den Wänden kratzte. Und jetzt waren die Schultern durchnäßt, die Feuchtigkeit kroch ihm die Schienbeine hoch, und das schöne Stück würde garantiert eingehen, doch was machte das schon? Es war zwei Minuten vor elf, das nasse Haar hing ihm in die Augen, aber Dr. Hamilton erwartete ihn. Wenn alles klappte, würde er sich sechs Anzüge kaufen können. Es sah ihm gar nicht ähnlich, zu spät zu kommen – es war unprofessionell, und Dr. Hamilton legte großen Wert auf »die drei Ps«, wie er es nannte: Pünktlichkeit, Pflichterfüllung und Professionalität –, und O’Kane, der sowieso schon nervös war, fühlte sich wie ein Stück Speck in der Pfanne, während er über den feuchten Rasen rannte. Er schwitzte unter den Achseln, und die Haare hingen ihm wie Stricke ins Gesicht. Es sah ihm überhaupt nicht ähnlich, aber er lag im Zeitplan zurück, weil er sich in der White Street hatte aufhalten lassen, und dann noch einmal in der rückwärtigen Station, und beide Male wegen der Affen. Diese Affen. Er konnte an nichts anderes mehr denken. Und das war seltsam, denn es war ein typischer Tag, an dem die tobsüchtigen Spinner unruhig wurden – das passierte nicht nur bei Vollmond, sondern bei jedem Wetterumschwung, auch wenn beständige Düsternis nur von einem Wolkenbruch unterbrochen wurde –, und als er über das Gras hetzte, konnte er hören, wie Katzakis, der verrückte Grieche, und der andere, den sie den Schürzenmann nannten, in der geschlossenen Abteilung aufeinander einkreischten, ja, sie kreischten wie die Affen. Tobsüchtige kannte er in- und auswendig – das sollte er auch, nach sieben Jahren in der Branche –, dagegen waren seine Erfahrungen mit Hominiden, wie Dr. Hamilton sie nannte, eher beschränkt. Und wieso auch nicht? South Boston, Danvers und Waverley lagen ja nicht gerade im tropischen Dschungel. Tatsächlich war O’Kane, abgesehen von den für Kinder üblichen Begegnungen mit Affen – bei Drehorgelspielern, in Zirkusmenagerien oder im Zoo –, einem solchen Tier auf Spuckweite nur ein einziges Mal nahe gekommen, und zwar in einer Kneipe. Er war eines Nachmittags auf ein Bier in Donnellys Bar gegangen, und als er von seinem Glas aufsah, saß neben ihm an der Theke ein Mann mit einem einäugigen Schimpansen an der Leine. Für einen Klaren und ein Bier zum Runterspülen ließ der Kerl den Affen sein Ding rausholen, ein Bierglas vollpissen und das Zeug dann auch noch trinken, als wär’s irischer Whiskey vom Feinsten – und der leckte sich sogar die Lippen danach. Als der Mann seinen dritten Drink intus hatte, sah er bedächtig den Tresen entlang und sagte, für einen halben Dollar Einsatz fordere er jeden in der Bar heraus, zum Armdrücken gegen sein Vieh anzutreten – gegen diesen mickrigen, einäugigen, halb glatzköpfigen Affen, der stank, als hätte man alle Seelen der Hölle im eigenen Saft geschmort und dann eine Woche lang in der Sonne trocknen lassen –, und es gab prompt viel Geschubse und jede Menge obszöne Kommentare, während sich die Kneipengäste um ihn drängten. Schließlich nahm ihn Frank Leary beim Wort, ein vierschrötiger, kräftiger, großmäuliger Stier von Mann, der bei der Eisenbahn arbeitete, aber das Vieh drückte Learys Handgelenk in Sekundenschnelle auf den Tresen und ließ erst wieder los, als seinem Gegner die Tränen in den Augen standen. Jedoch qualifizierte dieses Erlebnis O’Kane noch nicht gerade als Hominidenexperten, was er auch sofort eingestanden...


Boyle, T.C.
T. Coraghessan Boyle, 1948 in Peekskill, N.Y., geboren, unterrichtete an der University of Southern California in Los Angeles. Bei Hanser erschienen zuletzt Willkommen in Wellville (Roman, 1993), América (Roman, 1996), Riven Rock (Roman, 1998), Fleischeslust (Erzählungen, 1999), Ein Freund der Erde (Roman, 2001), Schluß mit cool (Erzählungen, 2002), Drop City (Roman, 2003), Dr. Sex (Roman, 2005), Talk Talk (Roman, 2006), Zähne und Klauen (Erzählungen, 2008), Die Frauen (Roman, 2009), Das wilde Kind (Erzählung, 2010), Wenn das Schlachten vorbei ist (Roman, 2012), San Miguel (Roman, 2013), die Neuübersetzung von Wassermusik (Roman, 2014), Hart auf hart (Roman, 2015), die Neuübersetzung von Grün ist die Hoffnung (Roman, 2016), Die Terranauten (Roman, 2017) und Good Home (Erzählungen, 2018).

T.C. Boyle wurde 1948 in Peekskill, New York, geboren. Er war Lehrer an der dortigen High-School und publizierte während dieser Zeit seine ersten Kurzgeschichten. Heute lebt er in Kalifornien und unterrichtet an der University of Southern California in Los Angeles Creative Writing. Sein 1987 erschienener Roman World's End brachte ihm höchstes Lob der Kritik. Noch im selben Jahr erhielt Boyle den PEN/Faulkner-Preis.



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