E-Book, Deutsch, 264 Seiten
Brake / Büchner / Kade Bildung und soziale Ungleichheit
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-17-029518-6
Verlag: Kohlhammer
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Eine Einführung
E-Book, Deutsch, 264 Seiten
ISBN: 978-3-17-029518-6
Verlag: Kohlhammer
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2 Chancengleichheit im Bildungswesen – Konfliktlinien im historischen Rückblick
2.1 Bildung im Spannungsfeld zwischen Symbol- und Realpolitik
Klagen über herkunftsbedingte Bildungsungleichheiten und eine damit verbundene Diskriminierung von Individuen und ganzen sozialen Gruppen beim Zugang zu (höherer) Bildung aufgrund »geburtsständischer Privilegien« haben in Deutschland eine lange Tradition (vgl. dazu Herrlitz/Hopf/Titze 1993). Viele der damit zusammenhängenden Probleme einer Demokratisierung der Bildungschancen in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft sind bis heute weitgehend ungelöst und stehen auch weiterhin auf der bildungspolitischen Agenda. Immer wieder haben wir vom Bildungsbürgertum getragene Elterninitiativen und Elternaktivitäten erlebt, die Gründe dafür ins Feld führen, dass vorgeschlagene, auf mehr Bildungsgerechtigkeit zielende Bildungsreformen mit problematischen Folgen verbunden seien und deshalb unterbleiben müssen. Das führt zu (endlosen?) kontroversen Zieldebatten, die letztlich die Umsetzung von entsprechenden Reformschritten immer wieder behindern oder verhindern, so dass der Abbau der fortbestehenden »sozialen Selektivität« der Teilhabechancen an Bildung nicht wirklich vorankommt. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert ist es dem deutschen Bildungsbürgertum so durch eine entsprechende Interessenpolitik gelungen, dem eigenen Nachwuchs mit Hilfe der Ressource Bildung den Zugang zu exklusiven sozialen und beruflichen Positionen in der Gesellschaft zu sichern. Und bis hinein ins 21. Jahrhundert geht damit zugleich die soziale Schließung des Zugangs zu (höherer) Bildung für große, bis dato bildungsferne soziale Gruppen aus der unteren Mittelschicht und der Arbeiterschaft einher (Herrlitz/Hopf/Titze 1993). Heute sind es darüber hinaus besonders Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund, die bei der Gestaltung ihrer Bildungsbiographien mit den Widrigkeiten solcher sozialer Schließungstendenzen fertig werden müssen. Zwar ist die in der ständisch geprägten Gesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bestehende »selbstverständliche« Trennung von hohem und niedrigem Bildungswesen nach Standes- und Klassenzugehörigkeit ebenso überwunden wie die grundsätzliche Trennung von Jungen- und Mädchenbildung oder die Trennung nach Konfessionen. Aber in Fragen der gerechten Bildungsbeteiligung hat die deutsche Gesellschaft auch am Beginn des 21. Jahrhunderts noch immer deutlichen demokratischen Nachholbedarf. Und dies umso mehr, je einhelliger programmatisch erklärt wird, dass Bildung eine Bedingung von Demokratie und gesellschaftlicher Teilhabe ist und Bildungsgerechtigkeit vor allem auf Beteiligungsgerechtigkeit abzielt, wobei ein ungleicher Zugang zu Bildung an möglichst allen Bildungsorten ausgeschlossen sein soll. Das Thema »soziale Selektivität« und die sich ständig wiederholenden Aufforderungen zur Demokratisierung des Bildungswesens im Spannungsfeld der Verteidigung traditioneller Bildungsprivilegien und dem Kampf um Anerkennung »neuer« Bildungsansprüche ziehen sich, wie wir an ausgewählten Beispielen zeigen wollen, wie ein roter Faden durch die Bildungsdebatten vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte. Da gab es z. B. bereits Schulkämpfe zu Beginn der Weimarer Republik, die vor fast einhundert Jahren – reformpädagogisch begründet und von der Arbeiterbewegung getragen – zur Aufhebung der Privatschulen und zur Einrichtung der vierjährigen Grundschule für alle führten. In der Mitte der 1960er Jahre löste die denkwürdige Streitschrift von Ralf Dahrendorf (»Bildung ist Bürgerrecht«) den Startschuss für eine in der alten Bundesrepublik ausgesprochen wichtigen Phase der Bildungsexpansion aus, und nun sind es die Ergebnisse der ersten PISA-Studie (2001), die (erneut) einer Zwischenphase, in der die Ungleichheit in Sachen Bildung mehr oder weniger in Vergessenheit geraten war, ein vorläufiges Ende bereitet haben. Dabei ist der normative Anspruch der Chancengleichheit bei der Teilhabe an Bildung und Kultur schon weitaus länger auf der Agenda der Bildungsreformdebatte. Machte doch bereits vor fast 200 Jahren der große Gelehrte und pädagogische Klassiker Friedrich Schleiermacher in seinen Vorlesungen aus dem Jahr 1826 auf das Problem der Chancenungleichheit aufmerksam, als er »die Ungunst der äußerlichen Verhältnisse« als Ursache dafür ausmachte, dass es zu einer »Aristokratie des geistigen Vermögens und der geistigen Bildsamkeit« komme (Schleiermacher 1996). Diese Einsicht veranlasste ihn zu der noch heute zentralen Forderung, dass man zwar der Natur freien Lauf lassen müsse, dass man aber der Natur kein Hindernis in den Weg legen dürfe, wenn es darum gehe, tüchtig zu werden für eine angemessene Stellung in Staat und Gesellschaft. In Anbetracht der »angestammten« (heute würde man sagen: herkunftsbedingten) Ungleichheit der äußerlichen Verhältnisse sei es »frevelhaft«, diese Ungleichheit absichtlich und gewaltsam auf dem Punkt festzuhalten, auf welchem sie stehe. Nach dem demokratischen Prinzip käme es vielmehr darauf an, die durch die äußerlichen Verhältnisse, also die soziokulturellen Voraussetzungen für Bildung und Erziehung Begünstigten nicht noch mehr zu begünstigen. Insofern erklärte schon Schleiermacher das Problem der ungleichen Bildungsteilhabe im Wesentlichen nicht zu einer Frage der Intelligenz oder der Gene, auch wenn diese, wir wissen, keineswegs bedeutungslos sind, wenn es um Bildungsprozesse im Lebensverlauf eines einzelnen Menschen geht. Ein solches Credo, das von Schleiermacher mit Bezug auf die Ständegesellschaft des 19. Jahrhunderts formuliert worden ist, lässt sich weitgehend auf die aktuelle Debatte über den Abbau von ungleichen Bildungschancen am Beginn des 21. Jahrhunderts übertragen. Insofern ist das Nachdenken über die Voraussetzungen und Folgen der sozialen Selektivität bei der Bildungsteilhabe keineswegs »Schnee von gestern« (Solga/Powell/Berger 2009). Noch immer gehen Kinder aus der Bildungsaristokratie (heute: aus Akademikerfamilien) eher auf das Gymnasium und die Hochschulen als Kinder aus dem Volk (heute: aus Arbeiter- und Migrantenfamilien), obwohl sie vielfach nicht dümmer, sondern nur ärmer an Chancen sind. Insofern muss das individuelle Leistungsprinzip als wohl wichtigste normative Rechtfertigung bzw. als Legitimationsinstrument für die soziale Selektivität des Bildungsgeschehens gelten (vgl. dazu Kap. 3.1). 2.2 Restaurations- und Stagnationsphase nach dem Zweiten Weltkrieg
Ein etwas genauerer Blick in die Nachkriegsentwicklung des deutschen Bildungswesens soll nun verdeutlichen, welche bildungspolitischen Strömungen dazu beigetragen haben, dass die Nachkriegs- und Wiederaufbauphase zu den Ergebnissen geführt haben, die bis heute als prägende Merkmale des deutschen Bildungswesens gelten müssen. Gleich in den ersten Monaten nach Kriegsende steht in den Aufrufen des Zentralausschusses der SPD und den gemeinsamen Aufrufenvon SPD und KPD die Forderung ganz oben, durch die Aufhebung aller Bildungsprivilegien (zusammen mit der restlosen Vernichtung aller Spuren des Hitlerregimes auch im Bildungswesen) mehr Bildungsgerechtigkeit zu ermöglichen (Herrlitz/Hopf/Titze 1993, 174). Insbesondere sollten die Tore der höheren Schule und der Hochschule für die Söhne und Töchter des einfachen Volkes nicht länger verschlossen bleiben. Das Ziel dieser Initiativen war die Brechung des Bildungsmonopols »der herrschenden Klassen«, das allerdings von Anfang an in einem ausdrücklichen Spannungsverhältnis zu jenem traditionellen (abgestuften) Begabungsverständnis stand, das ein Recht auf Bildung abhängig machte von den entsprechenden Anlagen und Fähigkeiten eines Kindes (ebd., 178). Hinzu kam, dass der Anspruch einer antifaschistisch-demokratischen Bildungsreform schon sehr frühzeitig überlagert wurde vom zunehmenden Ost-West-Gegensatz zwischen Sowjetischer Besatzungszone (SBZ) und den Westzonen, der dazu führte, dass sich sowohl die bildungspolitische Programmatik als auch die tatsächliche Entwicklung des Bildungswesens bald in sehr unterschiedliche Richtungen zu bewegen begann. Am ursprünglichen Ziel, den Bildungsbesitz einer Minderheit zum Besitz aller zu machen, wurde später nur noch in der DDR festgehalten und dort mit »Instrumenten der Gegenprivilegierung« (Bonus für Arbeiter- und Bauernkinder, soziale Quotierung beim Zugang zu höherer Bildung, Arbeiter- und Bauernfakultäten) äußerst konsequent umgesetzt (Geissler 1992). In den Westzonen (und ab 1949 in der entstehenden BRD) knüpften solche Bildungsreformversuche an anderen Traditionen an. Reformmaßnahmen benötigten hier (im Gegensatz zur »Reform von oben« in der SBZ/DDR) nicht nur eine »revolutionäre Legitimität«, sondern es waren parlamentarische Legitimationsverfahren erforderlich, um entsprechende Mehrheiten für bestimmte Reformmaßnahmen zu erreichen. Selbst die westlichen Siegermächte wagten nicht, die Egalisierung und Demokratisierung des Bildungswesens gegen den Willen der bürgerlichen Eliten in den Westzonen durchzusetzen. Der Zusammenbruch des »Dritten Reiches« und die Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft lösten in den ersten Nachkriegsjahren zwar auch hier viele bildungspolitische Initiativen aus, die eine grundlegende Demokratisierung des traditionellen deutschen Bildungssystems forderten. Ausgangs- und Bezugspunkt für derartige Reformpläne war aber der bis Kriegsende vorgegebene gegliederte Schulaufbau, der in der Weimarer Republik entwickelt worden und auch von der nationalsozialistischen Bildungspolitik weitgehend unangetastet geblieben war, und in dem das fortgeschrieben wurde, was von der »Weimarer Koalition« schulstrukturell ermöglicht worden war: eine obligatorische vierjährige...