E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Braun Geschlecht
21001. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8437-2511-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine persönliche und politische Geschichte
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-8437-2511-8
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es war eine ganze Generation von Frauen, die in der jungen Bundesrepublik plötzlich neue Rollen und Lebensentwürfe erprobte und gegen die patriarchalen Strukturen rebellierte. Was trieb sie an? Christina von Braun zeigt am Konfliktfeld „Geschlecht“, wie politische und persönliche Geschichte ineinander greifen. Und sie erzählt vom unbändigen Drang nach Erkenntnis.
Christina von Braun begibt sich auf eine innere Reise, die sie aus dem Deutschland der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart, von Rom, London und New York bis nach Paris und Berlin führt. Wann beginnt eine wohlerzogene Tochter aus liberalem Elternhaus über die Frauenrolle nachzudenken? Welchen Einfluss übt die nie gekannte Großmutter aus? Offen und persönlich erkundet Christina von Braun ihre Geschichte und zugleich die ihrer Generation: Sie erzählt vom feministischen Aufbruch im 20. Jahrhundert, an dem sie als Autorin, Denkerin und Filmemacherin federführend und an entscheidender Stelle beteiligt war. Zugleich erzählt sie von ihrem individuellen Ringen, den Feminismus in alltägliches Leben zu übersetzen: Wie gelingt eine Ehe, in der beide Partner selbstbestimmt entscheiden und ihre Ziele gleichberechtigt verfolgen? Wie schafft man es, Mutter zu sein, ohne auf ein eigenständiges Leben zu verzichten?
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VORWORT Das mit dem Patriarchat war nur mal so ’ne Idee Wir leben im ersten Zeitalter, das zugibt, nicht genau zu wissen, was das ist: »der Mann«, »die Frau«. Vorangegangene Epochen hatten präzise Vorstellungen von der »Natur der Geschlechter«, auch wenn jedes neue Zeitalter die früheren Definitionen Lügen strafte. Bis etwa 1800 vollzog sich der Wandel der Geschlechterrollen allmählich. Das Bestehen eines Regelwerks konnte sich über Jahrhunderte hinziehen – Jahrhunderte, in denen sich die Geschlechterbilder nur minimal verschoben. Bei uns hingegen, die wir im 20. Jahrhundert geboren wurden, veränderten sich die Dinge schnell und immer schneller. Noch um 1900 waren angesehene Wissenschaftler der festen Überzeugung, dass Frauen aus anatomischen Gründen nicht zu akademischer Ausbildung befähigt seien und man ihnen auch kein politisches Stimmrecht anvertrauen könne. Die Frauen seien »nicht reif für die Demokratie«, hieß es, die ökonomische Unabhängigkeit der Frau sei mit den »Naturgesetzen« nicht vereinbar und so weiter. Wenige Jahrzehnte später sitzen Frauen in den Aufsichtsräten großer Unternehmen, sie üben politische Macht aus und machen mehr als die Hälfte aller Studierenden aus. Amerikanische Eliteuniversitäten haben in manchen Fächern klammheimlich Männerquoten eingeführt, um die »Feminisierung« von Disziplinen zu verhindern. In immer mehr juristischen Auseinandersetzungen entscheiden Richterinnen über die Auslegung von Gesetzen, die Politikerinnen durch die Parlamente gebracht haben. Feministische Kämpferinnen – und vereinzelt auch Kämpfer – haben zu diesen Veränderungen beigetragen. Und sie tun es (zum Glück) auch weiterhin. Aber ihr Beitrag erklärt nicht alles. Es gab immer schon Frauen, die Bildung einforderten und gern ökonomische Unabhängigkeit besessen, politischen Einfluss ausgeübt hätten. Das wurde ihnen beharrlich verweigert. Das Erstaunliche an diesem Zeitalter ist nicht, dass Frauen die Gleichberechtigung einfordern, sondern dass sie ihnen gewährt wurde. Zum ersten Mal in Tausenden von Jahren. Was war der Anlass für dieses Umdenken? Und warum geschah die Umwälzung in so kurzer Zeit, gerade mal hundert Jahren? Zwei denkbare Erklärungen: Entweder vollzog sich innerhalb von wenigen Jahrzehnten eine radikale Mutation des geschlechtlichen Körpers (eher unwahrscheinlich) – oder aber es dämmerte allen, dass die Geschlechterrollen nie von der »Natur«, sondern immer schon kulturell bestimmt waren. Dann stellt sich allerdings die Frage, auf welcher Evidenz die Vorstellungen früherer Zeitalter über die natürliche Berufung des Mannes zu akademischer Ausbildung, künstlerischer Tätigkeit, politischer Reife beruhten. Und wie es zu diesem plötzlichen Sinneswandel kam. Ich wusste es nicht, aber rückblickend kann ich erkennen, dass mich diese Fragen begleiteten, seitdem ich zu denken begann. Alle meine Filme und Bücher kreisen letztlich um dieses eine Thema, sie erscheinen heute wie unterschiedliche Herangehensweisen und Methoden, plausible Antworten zu finden. Ich stand mit diesen Fragen nicht allein. In derselben Zeit machten sich Hunderte anderer Frauen auf die Suche nach Antworten: feministische Wissenschaftlerinnen, Filmemacherinnen, Autorinnen, Künstlerinnen. Jede von ihnen trug neue Teile zum Puzzle bei, wir lernten voneinander. Wir suchten in den Texten und schrieben Bücher, wir durchforsteten die Kunstgeschichte und schufen neue Werke, wir hörten die Musik vergangener Zeiten und komponierten zeitgemäße. Jede von uns erfand neue Begriffe oder verlieh alten Wörtern einen veränderten Sinn. Da sich der Wandel kultureller Ordnungen oft unterschwellig vollzieht, mussten wir lernen, die in den Archiven lagernden Akten und Dokumente auf ihr »verborgenes« Wissen zu befragen, die Aufmerksamkeit auf die Auslassungen hinter den Einlassungen zu richten. Der Historiker David Sabean gibt ein beredtes Beispiel für eine solche Leerstelle: Er beschreibt, wie ihm in der Klosterbibliothek von Weingarten eine Urkunde vorgelegt wurde, die mit mehr Siegeln und Stempeln versehen war als irgendein anderes Dokument, das er je gesehen hatte. Die Urkunde hielt fest, »dass Frauen noch nie das Erbrecht auf Höfe oder Teile von Höfen besessen hatten, wobei allein der Umfang der Urkunde diese Aussage Lügen strafte«.1 In Wahrheit waren Töchter bis ins Mittelalter genauso erbberechtigt wie Söhne, doch in den späteren Jahrhunderten verdrängte man sie konsequent aus den Erblinien. Von nun an »bezeugten« Urkunden wie diese, dass es immer so gewesen sei. Die französische Autorin Annie Ernaux nennt sich eine »Ethnologin ihrer selbst«: Sie forscht in ihren persönlichen Erinnerungen, um rückblickend die Prozesse ihrer Zeit zu erkennen.2 Bei anderen Autorinnen ist es umgekehrt: Sie berichten von historischen Begebenheiten, von ethnologischen Forschungen, von sozialen Entwicklungen – von Prozessen also, die weit über die Existenz einzelner Frauen hinausgehen. Das tun sie jedoch im Bewusstsein, dass ihr Blick von den Erfahrungen ihres persönlichen Lebens, von den kulturellen Bedingungen ihrer Existenz geprägt ist. Ich lernte von ihnen, in die Skepsis gegenüber den Erzählungen der anderen auch die eigene Voreingenommenheit einzubeziehen. Ob es sich um die Betrachtung der Geschichte durch die Augen des Selbst oder die Betrachtung des Selbst durch die Augen eines Zeitalters handelt: In beiden Fällen kann das Ich nie mehr als Symptom allgemeiner Entwicklungen sein. Weder das handelnde noch das betrachtende Ego kann sich herauslösen aus den historischen Prozessen, in die es hineingeboren oder verpflanzt wurde. Gewiss, wir sind alle Akteure unserer Lebensgeschichten; zugleich sind wir aber auch die blinden Passagiere eines Projekts der Geschichte: ihrem Kurs ausgeliefert. Und für unser Zeitalter hält dieser Prozess eine besondere Story bereit. Man könnte sie als die Erkenntnis beschreiben: »Das mit dem Patriarchat war nur mal so ’ne Idee.« Wir haben gelernt, zwischen biologischem Geschlecht (sex) und sozialem, kulturellem Geschlecht (gender) zu differenzieren. Das hatte seinen Sinn: Es galt darauf hinzuweisen, dass die sozialen Geschlechterverhältnisse nicht durch die Biologie bestimmt werden und durch diese auch nicht zu erklären sind. Inzwischen fragt es sich aber, ob nicht die deutsche Sprache – gerade weil sie keine Unterscheidung vornimmt – das Sensorium für den umgekehrten Prozess schärft: dass nämlich die sozialen Rollen und die kulturellen Imaginationen von Männlichkeit und Weiblichkeit einen entscheidenden Einfluss auf die Biologie der Geschlechter auszuüben vermögen. Die Wissenschaftsgeschichte und -theorie hat schon vor einiger Zeit die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur für obsolet erklärt: Ein Gutteil der Natur sei heute ein Artefakt der Kultur.3 Diese Einsicht gilt in erhöhtem Maße für Geschlecht, wo Individuelles und Soziales, Persönliches und Politisches immer eng miteinander verwoben waren. Das machte Geschlecht zum idealen Experimentierfeld, auf dem die Kultur ihre Macht über Natur und Gesellschaft erproben und zugleich darstellen konnte. Auch davon erzählt dieses Buch. Auf welche Weise die Frauen meiner Generation zu Feministinnen wurden und ihren Feminismus gelebt haben, hing mit ihren individuellen Biografien zusammen. Aber dass wir so viele sind, hat etwas mit diesem Prozess der Geschichte zu tun: Die neuen Geschlechterrollen hängen mit ökonomischen Verhältnissen, den neuen Reproduktionstechniken, veränderten Imaginationen über Männlichkeit und Weiblichkeit wie auch der grundsätzlichen Anzweiflung einer Geschlechterpolarität zusammen. Diesen Neuerungen ist es zu verdanken, dass der Begriff Feminismus mittlerweile für viele überholt erscheint. Für meine Generation war er wichtig. Er definierte die Anerkennung weiblicher Selbstbestimmung. Andere Begrifflichkeiten traten seither an seine Stelle. Neben den »feministischen« Blick traten die lesbischen, schwulen, queeren, diversen Perspektiven. Aber auch sie haben ihren historischen Kontext. Das Gendersternchen tauchte erst auf, nachdem Homosexualität zunächst legalisiert, dann gesellschaftlich akzeptiert war* und die Reproduktionsmedizin den Begriffen »Vater« und »Mutter« multiple Bedeutungen zugewiesen, der geschlechtlichen Zugehörigkeit ihre Eindeutigkeit genommen hatte. * Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags veröffentlichte 2016 eine repräsentative Studie, laut der 83 Prozent der Deutschen die juristische Gleichstellung von homosexuellen Paaren mit dem Ehegesetz befürworten. Im Fazit des Berichts steht: »Insgesamt hat die Akzeptanz der Homosexualität in der deutschen Gesellschaft sehr zugenommen. Während bis in die 1970er-Jahre hinein homosexuelle Lebensweisen mehrheitlich als moralisch verwerflich oder krank beurteilt wurden, äußert sich heute eine Mehrheit positiv über Homosexualität. Im internationalen Vergleich steht Deutschland damit laut einer Studie von 2013 an erster Stelle: Auf die Frage: ›Sollte die Gesellschaft Homosexualität akzeptieren?‹ antworten 87 Prozent der Deutschen mit Ja, in Frankreich sind es 77 Prozent, während lediglich 16 Prozent der Russen und neun Prozent der Türken die Aussage befürworten.« (Wissenschaftlicher Dienst 2016) Der Wandel der Geschlechterrollen begann mit der Frauenemanzipation. Deshalb hat der Begriff »Feminismus« noch immer hohes Erregungspotenzial. Den Konservativen treibt er die Zornesröte ins Gesicht, während emanzipierte Frauen wie Marine Le Pen oder Alice Weidel der Rechten ein feministisches Image verleihen sollen. Im linken und liberalen Spektrum kritisieren...