E-Book, Deutsch, 588 Seiten
Breitbart Sinnzentrierte Psychotherapie für Patienten mit einer Krebserkrankung
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-17-038384-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bedeutung und Hoffnung im Angesicht des Leidens finden
E-Book, Deutsch, 588 Seiten
ISBN: 978-3-17-038384-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weitere Infos & Material
1 Der existenzphilosophische und -psychologische Rahmen der Sinnzentrierten Psychotherapie
William S. Breitbart
As If I Were an Angel It’s as if I were an angel flying through the clouds. As if that could be. Me. An angel. As if there could be a future I could not know. A future without death being the end, but a beginning. As if that could be. Me. An angel. A lapsed Jewish angel with wings to fly. As if I would transcend what I ever could have imagined. Me. As if that could possibly be Me, An angel. Not alone. But with other angels. Angels like me who never imagined love beyond limits. William S. Breitbart, MD [1] Einleitung
Inspiriert durch die Schriften von Viktor Frankl [2, 5], Irvin Yalom [6] und vielen anderen existenzialistischen Philosophen und Psychotherapeuten [7-17] entwickelte und konzipierte unsere Forschungsgruppe ein existenzialistisches Rahmenkonzept und die Sinnzentrierte Psychotherapie (SPT) für onkologische Patienten. Die SPT soll insbesondere jene Patienten mit fortgeschrittener Krebserkrankung unterstützen, die mit Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Sinnverlust und Leiden in einem von der Zeit begrenzten Leben konfrontiert sind. Die Entwicklung der SPT und die anschließende Evaluation der Sinnzentrierten Gruppenpsychotherapie (SGPT) sowie der Sinnzentrierten Einzelpsychotherapie (SEPT) in mehreren randomisiert-kontrollierten Studien [18-24] begannen vor ungefähr 15 Jahren. Unsere von mir geleitete Psychotherapie-Forschungsgruppe an der Abteilung für Psychiatrie und Verhaltenswissenschaften des Memorial Sloan-Kettering Cancer Center (MSKCC) entdeckte, dass die in Anlehnung an Frankls Werk konzipierte SPT eine Intervention für fortgeschritten erkrankte Krebspatienten darstellt, die an Sinnverlust leiden. Die SPT basiert auf Frankls zentralen Erkenntnissen über die Bedeutung der Sinnfindung im menschlichen Dasein und den allen Menschen zur Verfügung stehenden sinnstiftenden Ressourcen. Sie ist als Therapiekonzept jedoch umfassender ausgearbeitet als die Logotherapie für die Allgemeinbevölkerung, die nicht an Krebs erkrankt ist. Diese hochspezialisierte Therapieform steht in einer langjährigen existenzialistischen philosophischen und psychotherapeutischen Tradition. Ein Kliniker, der die SPT anwendet, wird von Frankls Arbeiten sowie der Vertrautheit mit existenzphilosophischen und -psychologischen Grundlagen profitieren. Die Ontologie der Onkologie
Ontologie ist die Lehre von der Natur des »Seienden« und der »Existenz«: Der Existenzialismus ist der Zweig der Philosophie, der sich mit der Frage nach der Natur der Existenz beschäftigt. Existenzialistische Psychotherapie ist ein Zweig der Psychotherapie, der sich die Erkenntnisse der Existenzphilosophie zunutze macht und diese Ideen in einen psychotherapeutischen Ansatz für eine Vielzahl von klinischen Problemen einbezieht. In der Onkologie und insbesondere in der Versorgung von Patienten mit einer fortgeschrittenen Krebserkrankung, die mit einer existenziellen Krise des drohenden Todes konfrontiert sind, sind psychotherapeutische Ansätze, die die Beiträge der Existenzphilosophie und der Psychologie einbeziehen, von hoher Relevanz, gut anwendbar und wirksam [2-24]. Als menschliche Wesen (Homo sapiens – »sapiens« bedeutet vernünftig, weise oder zu höheren Gedanken fähig) neigen wir im Gegensatz zu anderen Lebewesen dazu, uns mit einer Vielzahl existenzieller, spiritueller und religiöser Fragen über die Natur unserer Existenz, den Sinn und Zweck unseres Lebens, die Frage nach unserem Platz im Universum und dem Geheimnis des Todes zu beschäftigen. Der Mensch muss sich oft mit drei grundlegenden Fragen auseinandersetzen: 1. Woher komme ich? 2. Warum bin ich hier? 3. Wohin gehe ich (d. h. was liegt jenseits des Todes)? Diese Fragen sind die zentralen Fragen religiöser oder spiritueller Erfahrungen. Carl Sagan [11] schreibt, dass der Inbegriff des menschlichen spirituellen Aktes das Streben nach einem Verständnis des eigenen Platzes im riesigen Mysterium des Universums ist. Dies kann im Grunde genommen auch ein religiöser Akt sein. Das Wort »Religion« leitet sich vom lateinischen Wort »religio« ab, dessen Wurzeln re (wieder) und ligare (binden) sich im Wesentlichen auf das Bemühen beziehen, »wieder zu verbinden« oder »zusammenzubinden«. Der Versuch der Menschen, diese Fragen, woher wir kommen, warum wir hier sind und wohin wir letztlich gehen, zu verbinden, ist im Wesentlichen eine religiöse Aufgabe. Das Streben nach Transzendenz oder Verbundenheit mit etwas Größerem als dem eigenen Selbst ist in seiner grundlegendsten und einfachsten Form auch ein religiöses Unterfangen (unabhängig davon, ob man Theist, Deist oder Atheist ist). Durch diese drei Grundfragen wird auch der Begriff der »Symmetrie« aufgeworfen, insbesondere in dem Sinne, dass »wohin wir gehen« (was jenseits des Todes liegt) und »woher wir kommen« ähnliche, wenn nicht sogar dieselben Orte (oder Zustände des Seins oder Nichtseins oder des Nichts) sind. Dieses Konzept der Symmetrie, zuerst dem antiken griechischen Philosophen Epikur zugeschrieben [25], legt nahe, dass wir dorthin zurückkehren, woher wir gekommen sind. Für denjenigen, dessen religiöses Glaubenssystem die Konzepte einer unsterblichen Seele und des Lebens nach dem Tod beinhaltet, können auf diese Fragen tröstliche Antworten gegeben werden. Demjenigen, der nicht über ein solches Glaubenssystem verfügt, kann das Konzept der Symmetrie immer noch einen gewissen Trost bieten und einige der Ängste mildern, die mit der Vorstellung verbunden sind, nach dem Tod in die »Vergessenheit« verbannt zu werden. Epikur glaubte nicht an die Unsterblichkeit der Seele oder an ein Leben nach dem Tod. Er war davon überzeugt, dass es nach dem Tod nichts gibt; nichts zu (be-)fürchten, keinen Schmerz, keine Vergeltung, keine Verurteilung. Epikur glaubte jedoch an die Symmetrie und daran, dass es dort, wohin wir gehen, ähnlich zu dem ist, woher wir kommen. Diese Annahme impliziert, dass die Erfahrung des Todes der Erfahrung »vor der Geburt« am ähnlichsten ist. Für viele meiner Patienten, die den Tod fürchten (insbesondere die Nicht-Existenz, die Auslöschung), mag die Tatsache, dass ihre Erfahrung vor der Geburt nicht beunruhigend oder quälend war und dass ihre Erfahrung nach dem Tod ganz ähnlich (harmlos) sein kann, etwas Tröstliches haben. Vor kurzem habe ich die Etymologie des Wortes »Vergessenheit« untersucht, ein Wort, das oft benutzt wird, um den Zustand zu beschreiben, in den wir nach dem Tod eintreten. Es hat viele negative Konnotationen, darunter »Auslöschung«, »Vernichtung« und »Nichts«; allerdings stieß ich auf eine tröstlichere Variante der Bedeutung von »Vergessenheit« oder »in Vergessenheit geraten«. Diese Bedeutung des Wortes »Vergessenheit« bezog sich auf das Konzept des Vergessens und Vergebens, wie bei der Amnestie. Ich habe begonnen, mir »Vergessenheit« als einen Ort vorzustellen, an dem alles vergeben und an nichts erinnert wird – ein Zustand des Friedens, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, nur in der Gegenwart. Box 1.1: Die einzigartige existenzielle Natur des Menschen
1. Menschen sind sich ihrer Existenz in einzigartiger Weise bewusst • Ehrfurcht und Furcht, Endlichkeit, Verantwortung, Schuld, Kultur 2. Sinngebung ist das bestimmende Merkmal des Menschen 3. Verbindung/Verbundenheit ist wesentlich für das menschliche Überleben und ist die Essenz der menschlichen Erfahrung • Zueinander, zur Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, zu etwas Größerem 4. Die Fähigkeit zur Transformation ist einzigartig beim Menschen • Reife, Wachstum, Einstellung zum Leiden Die einzigartige existenzielle Natur des Menschen
Der Mensch ist unter den Lebewesen und den am weitesten entwickelten Tieren in mehrfacher Hinsicht einzigartig, wie zahlreiche existenzielle Philosophen und Denker beschrieben haben [2-17]. In Box 1.1 sind die vier Hauptmerkmale zusammengefasst, die den Menschen als einzigartiges existenzielles Wesen kennzeichnen: (1) Menschen sind sich ihrer...