Auf der Suche nach einem unzeitgemäßen Gefühl. Ein philosophisches Lesebuch
Buch, Deutsch, 226 Seiten, Format (B × H): 138 mm x 211 mm, Gewicht: 286 g
ISBN: 978-3-593-51736-0
Verlag: Campus Verlag GmbH
Langeweile wird in dieser Anthologie als Signatur der Moderne lesbar: Sie durchdringt die gegenwärtige Kultur, wird aber nach wie vor weggeschoben, ja tabuisiert. Der Band bietet eine Textauswahl von klassischen Denkern sowie von Autorinnen und Autoren des modernen Diskurses bis heute und stellt den Zusammenhang mit verwandten Phänomenen der Sinnleere und Erschöpfung her. Als zunehmendes Massenphänomen in saturierten Gesellschaften entwickelt die Langeweile eine pathologische Dynamik, wenn ihr nicht ein eigener Raum gelassen wird. Ein Plädoyer für die Anerkennung dieses unvermeidlichen Gefühls.
Mit Texten von Blaise Pascal, Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer, Søren Kierkegaard, Charles Baudelaire, Friedrich Nietzsche, Georg Simmel, Walter Benjamin, Bertrand Russell, Iwan Gontscharow, Siegfried Kracauer, Emil Cioran, Giacomo Leopardi, Wolf Lepenies, Elizabeth S. Goodstein, Peter Toohey, Martin Doehlemann, Françoise Wemelsfelder und anderen.
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Inhalt
Einleitung 9
I. Unerträgliche Langeweile
Blaise Pascal
Völlige Untätigkeit 31
Immanuel Kant
Anekelung der eigenen Existenz aus Leerheit des Gemüts 41
Arthur Schopenhauer
Das Leben zwischen Schmerz und Langeweile 53
Ludwig Tieck
Trübe Lebens-Saumseligkeit 59
Sören Kierkegaard
Alle Menschen sind langweilig 61
Philipp Mainländer
Das schrecklichste Übel von allen 73
II. Unerlässliche Langweile
Johann Wolfgang von Goethe
Mutter der Musen 81
Charles Baudelaire
Wo dumpfe Trübsal Langeweile spinnt 89
Friedrich Nietzsche
Tauwind für den eingefrorenen Willen 93
Georg Simmel
Wider das blasierte Großstadtleben 103
Walter Benjamin
Die Schwelle zu großen Taten 109
Bertrand Russell
Ein unerlässliches Verlangen 115
III. Die Leere der Zeit
Giacomo Leopardi
Die Leere in den Zwischenräumen 123
Iwan A. Gontscharow
Entgleitendes Leben 127
Siegfried Kracauer
Das Einzige, was sich ziemt 133
Emil M. Cioran
Sonntage des Lebens 137
Bernard Williams
Wie lange leben ohne Langeweile? 147
IV. Entzauberte Langeweile
Wolf Lepenies
Räume der Langeweile und Melancholie 157
Elizabeth S. Goodstein
Signum der Moderne 175
Martin Doehlemann
Das Elend der modernen Konsum- und Entertainmentgesellschaft 183
V. Lebensfunktionen der Langeweile
Peter Toohey
Die Evolution der Langeweile 195
John D. Eastwood, Alexandra Frischen, Mark J. Fenske, Daniel Smilek
Von der richtigen Lenkung der Aufmerksamkeit 201
Françoise Wemelsfelder
Gelangweilte Tiere 213
Autoren- und Quellenverzeichnis 219
Literaturhinweise 225
Einleitung
Ob sich die Menschen immer schon gelangweilt haben oder nicht, ist ungewiss. Gewiss aber ist, dass Langeweile in der abendländischen Kultur erst zu Beginn der Neuzeit zu einem Gegenstand des Nachdenkens geworden ist. Bedeutende Philosophen haben sie als Ausdruck einer wesentlichen Bestimmung des Menschen und seiner Welt verstanden: Der erste herausragende Beitrag stammt im 17. Jahrhundert von Blaise Pascal, der alle rastlose Tätigkeit des Menschen als Flucht vor der Langeweile erklärt; im 19. Jahrhundert behauptet Arthur Schopenhauer, dass das menschliche Leben zwischen Leid und Langeweile hin und her pendele; im 20. Jahrhundert schließlich erhebt Martin Heidegger die Langeweile zur Grundstimmung des Menschen, in der sich die Verfasstheit des Daseins erschließe.
Der Langeweile ein solches Gewicht beizumessen, mag befremdlich erscheinen, bedenkt man den gemeinhin banalen Charakter dieses Gefühls. Als typisch langweilig gelten öde Orte, Tageszeiten (wie die Sonntagnachmittage), monotone Tätigkeiten oder seichte Unterhaltungen. Das unangenehme Gefühl wächst, wenn sich die lästige Situation nicht umgehen oder beseitigen lässt. Langeweile ist oft bloß Ausdruck eines Unmutes, der sich so wenig allgemein beschreiben lässt, wie er von persönlichen Vorgaben und inneren Einstellungen abhängt.
Wäre Langeweile nur die Kundgebung eines konkreten Missfallens, hätte sie kaum das Interesse der Philosophie gefunden. Bereits Pascal stellt aber fest, dass Langeweile - in Französisch spricht er von "ennui" - auch aufzutreten vermag, wenn kein Gegenstand oder keine Situation für öde gehalten wird. Sie signalisiert nicht nur die Abneigung gegen etwas Vorhandenes, sondern tritt auch angesichts der Abwesenheit von Objekten sowie der eigenen inneren Leere auf (siehe in diesem Band). Nach Pascal bringt das Individuum in Situationen, in denen nichts Äußeres geschieht, aus sich selbst nur wenig hervor, so dass es ein Gefühl der Ruhe, aber auch der Leere überkommt. Und häufig ist die Langeweile mit einem unbestimmten Gefühl der Angst verbunden. Als Ausdruck eines horror vacui kann sie so universell verbreitet sein, dass sie zum Kennzeichen einer ganzen Kultur, wenn nicht sogar zum Kandidaten für eine Wesensbestimmung des Menschen aufsteigt. Sie zeigt den einzelnen Menschen in einer Verfassung, in der er nicht in der Lage ist, die wohltuende Wirkung der Ruhe für sich zu nutzen. Ohne selbst in Erscheinung treten zu müssen, steckt die Langeweile hinter einer ubiquitären Suche nach Beschäftigung und Zeitvertreib. Dabei steht nicht der Inhalt der Tätigkeiten, sondern ihr bloßer Vollzug im Vordergrund. Während im folgenden Langeweile als konkrete Unmutsäußerung "einfache" Langeweile heißt, wird Langeweile, in der sich die innere Leere zeigt, als "existenzielle" Langeweile bezeichnet.
Das philosophische Interesse an der existenziellen Langeweile gilt unter anderem ihrer anthropologischen Dimension, an die sich verschiedene Fragen knüpfen. Handelt es sich um ein spezifisches menschliches Merkmal (z.B. Johann Wolfgang von Goethe in diesem Band) oder tritt existenzielle Langeweile im Ansatz schon bei Tieren auf (z.B. Françoise Wemelsfelder in diesem Band)? Muss für den Menschen von einer kaum wandelbaren Bestimmung ausgegangen werden, so dass es wenig Erfolg verspricht, der existenziellen Langeweile entgehen zu wollen, es vielmehr darauf ankommt, sich mit ihr ins Verhältnis zu setzen? Oder ist Langeweile ein Phänomen der Moderne, dessen Auftreten aktuell zunimmt? Hängt sie von den Lebensumständen ab, mit denen sie sich verändert und auch wieder zum Verschwinden gebracht werden kann? Welches sind die Beziehungen zwischen existenzieller und einfacher Langeweile? Steckt in der einfachen immer schon etwas von existenzieller Langeweile?
Mit der existenziellen Langeweile verbinden sich erkenntnistheoretische Interessen. Wo sie vorkommt, erlaubt sie eine einzigartig paradoxe Erfahrung - eine Erfahrung ohne Inhalt. Da die äußeren Objekte überhaupt gleichgültig sind und innere Impulse fehlen, scheint die Zeit alle Anhaltspunkte zu verlieren, an denen sie gemessen werden könnte. Das hierbei auftretende Zeiterleben findet sich auch bei der einfachen Langeweile. Die Zeit verlangsamt sich, ihre Einheiten werden gedehnt wahrgenommen, worauf die wörtliche Bedeutung des deutschen Begriffes "Langeweile" noch verweist. Das Vergehen der Zeit wird gleichsam rein, das heißt ungestört erfahrbar. Aber diese Erscheinungsweise ist von einem drohenden und oft als unerträglich erlebten Zeitstillstand begleitet. Die Zeit staut sich gewissermaßen, gewinnt dadurch eine Aufdringlichkeit und verliert den Charakter, Form der inneren Wahrnehmung zu sein.
Nicht zuletzt wird die existenzielle Langeweile philosophisch auch als Begegnung mit dem Nichts interpretiert: Keine Stimmung kommt dem Nichts so nahe wie die existenzielle Langeweile. Sie hat damit ebenso nihilistischen Gehalt wie sie für die Lehre des Nihilismus eine grundlegende Erfahrung darstellt. Denker des Nihilismus wie Friedrich Nietzsche oder Emil Cioran haben sich mit der Langeweile befasst (vgl. in diesem Band). Dass die existenzielle Langeweile den Wert des Lebens radikal in Frage zu stellen vermag, haben allerdings auch andere - z.B. Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer (vgl. in diesem Band) - klar gesehen.
Einfache und existenzielle Langeweile sind nicht die einzigen Bezeichnungen, die gewählt wurden und werden, um die Fülle von unterschiedlichen Formen der Langeweile zu klassifizieren. Martin Doehlemann unterscheidet etwa zwischen den Arten der situativen, überdrüssigen, existenziellen und schöpferischen Langeweile (in diesem Band); Heidegger, um ein weiteres Beispiel zu nennen, hebt drei Formen voneinander ab: "das Gelangweilt werden von etwas", "das Sich-Langweilen bei etwas" und "die tiefe Langeweile als das ›es ist einem langweilig‹". Die Erscheinungsvielfalt korrespondiert mit der historischen und kulturellen Bedeutung des Phänomens und stellt für die vereinheitlichende Begriffsbildung eine Herausforderung dar. Manche Autoren bestreiten, dass sich eine gemeinsame Eigenschaft für alles, was Langeweile heißt, angeben lässt (vgl. in diesem Band Peter Toohey). Um das Interesse der Philosophie und die Absichten der vorliegenden Anthologie deutlich zu machen, genügt es, sich auf die beiden vorgestellten, weithin als Grundformen (wenn auch mitunter mit anderen Namen) anerkannten Typen zu beschränken. Für die philosophischen Diskussionen über die existenzielle Langeweile ist es typisch, dass sie die enge Verbindung zur einfachen Langeweile betonen. Für das, was in unserem Zusammenhang existenzielle Langeweile genannt wird, setzt Heidegger den Begriff der "tiefen Langeweile" ein. Als philosophische Grundstimmung unterscheidet er sie von der einfachen und verwendet sie deshalb, weil er das Dasein auf seine Seinsbestimmungen ("Existentialien") hin befragt. Dabei geht es ihm um ein Existieren als einen sich verstehenden Selbstvollzug. Genau diesen Sinn meint auch "existentiell" als ein Ausdruck der Existenzphilosophie: Das Dasein ist nicht durch sachhaltige Angaben zu definieren, sondern es ist Selbstvollzug. Wenn wir nun in unseren Ausführungen von existenzieller Langeweile reden, wird dies in einem weiteren, nicht nur existenzphilosophischen Sinn sein, der allgemein auf die innere Leere dieser Stimmung verweist.
Obwohl die existenzielle Langeweile teilweise als spezifisch philosophische Stimmung, die nur Wenigen vorbehalten ist, angesehen wird, gehen doch in kaum einer ihrer Betrachtungen die Gemeinsamkeiten und die Beziehungen zur einfachen, jedermann bekannten Langeweile verloren.
Bevor auf diese Verbindungen näher eingegangen wird, sind zunächst die bemerkenswerten Differenzen hervorzuheben. Sie haben einige Theoretiker (darunter Toohey in diesem Band) zur Behauptung veranlasst, dass die beiden Typen noch nicht einmal mit dem gleichen Wort bezeichnet werden dürften. Tatsächlich treten die beiden Typen nicht nur gemeinsam, sondern auch unabhängig voneinander auf. Einfache Langeweile muss selbstverständlich nicht mit existenzieller verbunden sein, existenzielle Langeweile bedarf der einfachen nicht. Mit dem schon genannten Unterschied im Objektbezug verbindet sich eine Differenz im Urteilsvermögen: Einfache Langeweile drückt in aller Regel ein gewisses Maß an Urteilsfähigkeit aus. Um etwas langweilig zu finden, benötigen wir Kriterien, die wir zur Anwendung bringen. Je präziser die Kriterien, je treffsicherer ihr Gebrauch, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass ihnen ein Gegenstand als langweilig zum Opfer fällt. Die negative Beurteilung verbindet sich mit einem Gefühl der Unlust. Bei der Beurteilung der Inhalte und Situationen kommen individuelle Unterschiede ins Spiel: Was dem einen interessant vorkommt, findet der andere todlangweilig.
Existenzielle Langeweile hingegen zeugt eher von einem Verlust der Urteilskraft. Es findet keine Bewertung von Objekten und Relationen statt, sondern ihre Vergleichgültigung. Der Objektverlust verbindet sich mit einer für die existenzielle Langeweile typischen Unbestimmtheit. Sie stellt sich ohne erkennbaren Grund ein, überfällt das von ihr betroffene Individuum. Aber diese Vereinnahmung ist ohne äußere Verursachung. Die sich langweilende Person weiß mit sich selber nichts mehr anzufangen. Sie selbst ist es, die sich langweilt. In ihrer Handlungshemmung meldet sich die Ohnmacht des Subjekts. Existenzielle Langeweile verbindet sich mit Angst und wird selbst als unangenehm oder gar als eine unerträgliche Qual erlebt (vgl. Kant und Giacomo Leopardi in diesem Band). Existenzielle Langeweile, die typischerweise in sozialer Isolation auftritt, vergrößert die Vereinsamung der betroffenen Person. Während die einfache Langeweile richtig als Gefühl bezeichnet ist, ist mit der existenziellen Langeweile eine Befindlichkeit des Daseins gemeint, die in Stimmungen (beziehungsweise einem fahlen Ungestimmtsein) sich ankündigt.
Als Gefühl ist die Langeweile intentional gerichtet. Sie bezieht sich als Unmutsäußerung auf einen Gegenstand wie öde Orte, monotone Tätigkeiten usw. Als Stimmung fehlt ihr hingegen Herkunft und Ziel. Stimmungen haben einen länger anhaltenden Charakter und sind weniger differenziert als Gefühle. Neben der existenziellen Langeweile sind Angst, Melancholie oder der Optimismus weitere Beispiele für Stimmungen. Der philosophische Begriff der Stimmung gewinnt erst im 19. Jahrhundert Kontur. Durch den Zerfall der Systeme des Idealismus stellt sich für die Philosophie die Frage nach der Ganzheit des Lebens in der Welt. Auf diese Problematik antwortet Wilhelm Dilthey in seiner "Weltanschauungslehre" dergestalt, dass Weltanschauungen in Lebensstimmungen fundiert sind. Dort heißt es: "Diese Lebensstimmungen, die zahllosen Nuancen der Stellung zur Welt bilden die untere Schicht für die Ausbildung der Weltanschauungen. In diesen vollziehen sich dann aufgrund der Lebenserfahrungen, in denen die mannigfachen Lebensbezüge der Individuen zur Welt wirksam sind, die Versuche der Auflösung des Lebensrätsels." Mit dieser Kennzeichnung verweist er auf die nicht begrifflichen Grundlagen der menschlichen Weltverständnisse. Heidegger grenzt unbestimmte Stimmungen deutlich ab gegen gegenstandsbezogene Gefühle, denen er für seine existenziale Untersuchung keine vergleichbare Bedeutung beimisst. Zwischen Stimmung und Gefühl wird heute allgemein nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Psychologie und der Verhaltensforschung unterschieden.
Wenn in den einleitenden Bemerkungen von zwei Arten oder Formen der Langeweile die Rede war, ist es in der Absicht geschehen, die Vielfalt der Erscheinungsweisen der Langeweile und des philosophischen Interesses an ihr, die in den Texten ausgebreitet werden, zur Geltung zu bringen. Vielfalt ist aber das Gegenteil von Heterogenität: Die eigentümliche Zusammengehörigkeit des Vielfältigen kann durch eine Typisierung aufgrund wiederkehrender Merkmale angemessen gefasst werden.
Die Gemeinsamkeit von einfacher und existenzieller Langeweile besteht vor allem in der Ähnlichkeit des Zeiterlebens. Als Unmutsäußerung gewinnt die einfache Langeweile erst Nachdruck, indem sie auf existenzielle Langeweile verweist. Ein langweiliger Gegenstand ist dann nicht nur lästig und öde, sondern nichtig. Seine Existenz wird der Tendenz nach genauso vergleichgültigt, wie es allen Gegenständen in der existenziellen Langeweile widerfährt. Zudem kann die existenzielle als eine Verallgemeinerung der einfachen Form verstanden werden. Das Missfallen dehnt sich auf die ganze Welt aus und entwickelt damit eine eigene Dynamik, die auf die existenzielle Befindlichkeit einer Person zurückschlägt. Beide Typen der Langeweile werden vornehmlich negativ beurteilt; doch mehren sich seit dem 18. Jahrhundert Stimmen, die in ihnen auch wertvolle Bestimmungen und Funktionen sehen, worauf noch zurückzukommen sein wird.
Warum aber hat die philosophische Thematisierung der existenziellen Langeweile erst mit dem Beginn der Neuzeit eingesetzt? Die Antwort auf diese Frage leitet zum Anliegen der vorliegenden Anthologie über. In historischer Hinsicht nimmt die Textauswahl die These auf, dass der Beginn des bis heute anhaltenden philosophischen Interesses an der Langeweile Ausdruck eines kulturellen Umbruches ist, in dem Langeweile - sei es als einfache oder existenzielle - als massenwirksames Phänomen überhaupt erst entsteht (vgl. Elizabeth S. Goodstein in diesem Band).
Auch diese Aussage mag zunächst merkwürdig erscheinen. Kannte denn die antike oder mittelalterliche Kultur noch keine Langeweile? Tatsächlich kommt in den vormodernen europäischen Sprachstufen kein Ausdruck vor, der dem Phänomen der Langeweile, wie wir es kennen, gerecht wird. Die griechische melancholia (Schwarzgalligkeit), die auf Hippokrates zurückgeht und in einem auf die hippokratische Schule (corpus hippocraticum) sowie in einem Aristoteles und/oder Theophrast zugeordneten Text beschrieben wird, weist nur partiell Verwandtschaft mit der existenziellen Langeweile auf. Vereinfacht gesprochen, benennt sie wie die neuzeitliche Langeweile einen Objektverlust, jedoch keine Vergleichgültigung und Ungestimmtheit. Melancholie begleitet die Geschichte der existenziellen Langeweile bis auf den heutigen Tag und ist für das Verständnis der Langeweile deshalb von besonderer Bedeutung. Die lateinischen Ausdrücke fastidium und taedium bezeichnen den für die Langeweile im Allgemeinen charakteristischen Überdruss, also nur eine Unlustempfindung. Eine solch negative Emotion ist hingegen für den neuzeitlichen Typus der Langeweile nicht konstitutiv. Schließlich finden sich einzelne Elemente der existenziellen Langeweile auch in der mittelalterlichen Acedia (Sorglosigkeit, Nachlässigkeit, Tatenlosigkeit), die zuerst vornehmlich eine Versuchung bezeichnete, die eine Elite von christlichen Einsiedlern betraf und später in den Rang einer offiziellen Todsünde gelangte. Wurden die Mönche von dieser Stimmung befallen, verloren sie das Interesse nicht nur an einzelnen Gegenständen, sondern überhaupt an ihrer religiösen Bestimmung und fühlten die Zeit unendlich lang werden. Obwohl die Acedia in einem christlichen Kontext steht, durch den sie sich deutlich von den heutigen Formen der Langeweile unterscheidet, hat sich die moralische Abwertung der Acedia teilweise doch auf diese übertragen.
Langeweile mag aber auch schon existiert haben, ohne dass es den zugehörigen sprachlichen Ausdruck gegeben hat. Das würde selbstverständlich für den - allerdings nicht unproblematischen - Nachweis der Langeweile bei nichtmenschlichen Lebewesen zutreffen. Auch eine spezifisch menschliche Langeweile, die beispielsweise Goethe den Affen abspricht (siehe in diesem Band), muss nicht an das Vorkommen eines entsprechenden Wortes gebunden sein. Am ehesten kann dies für die einfache Langeweile angenommen werden. So kennt die Rhetorik wohl seit jeher die Regel, dass man sich kurzfassen muss, um die Hörerinnen und Hörer nicht zu ermüden. Aber dieser praktische Ratschlag hat nicht den Stellenwert eines kulturprägenden Merkmals, wie es der Langeweile zukommt.
Dem Phänomen der Langeweile entsprechende Wörter europäischer Sprachen (Langeweile, boredom, ennui) etablieren sich erst im 16. und 17. Jahrhundert. Während die Acedia im Wesentlichen ein theologisches Konzept bezeichnete, durchdringt die Langeweile als säkulare Stimmung seit Beginn der Neuzeit zunehmend die abendländische Kultur. Es ist dieser allgemeine Prozess, von dem der philosophische Diskurs nur ein Teil ist. Im 17. Jahrhundert ist die Langeweile bereits ein beherrschendes Gefühl in der höfischen Kultur und Thema in den Salons des Adels (Wolf Lepenies in diesem Band). Im 18. Jahrhundert, das die Langeweile "überall zur Schau stellt", wird das Bürgertum von der Langeweile erfasst (ebenfalls Lepenies). Die deutsche Klassik entdeckt die schöpferische Potenz der Erfahrung ohne Qualität. Für Johann Wolfgang von Goethe bietet sie die Möglichkeit des Sich-Besinnens. Er erkennt in ihr, dass er seine Freiheit nutzen und produktiv werden kann (vgl. in diesem Band). Als eigenständiges Phänomen wird die existenzielle Langweile erstmals in der Literatur der Romantik beschrieben und sogleich mit eigenen Ausdrücken belegt ("tüchtige Langeweile" bei Ludwig Tieck in diesem Band).
Eine Einbruchstelle der Langeweile war im 19. Jahrhundert die Auslagerung der Arbeit aus dem Haus und die damit zusammenhängende Privatisierung des Häuslichen. Das bürgerliche Hauswesen änderte sich von Grund auf. Frauen und Kinder wurden sozusagen freigestellt. Die Rolle der Frau wird neu als Mütterlichkeit definiert. Die Erziehung, die vorher im häuslichen Zusammenleben erfolgte, wird dadurch theoretisch thematisiert. Die Schriften der pädagogischen Klassiker Pestalozzi und Fröbel beziehen sich alle auf diese zum Problem gewordene Erziehung. Dabei gilt aber, dass es den Klassikern im Wesentlichen um die Wiederherstellung der häuslichen Erziehung geht, die durch die Auslagerung der Arbeit und der sozialen Kontakte neu zu bestimmen und jetzt zur Aufgabe der Mütter geworden ist. Die Schriften der Klassiker sind direkt an die Mütter adressiert. Schule und Kindergarten werden in subsidiärer Funktion auf die jetzt thematisch gewordene häusliche Erziehung bezogen. Der Kindergarten ganz speziell ist um eine kindgemäße Lebensweise und um kindgemäße Tätigkeitsformen bemüht. Dem Spiel wird jetzt erst eine besondere, vorher nicht anerkannte pädagogische Bedeutung für das kindliche Leben zuerkannt. Es wird nicht mehr nur naiv und unmittelbar verstanden, sondern ist auf den Erwerb von Fähigkeiten und Kenntnissen ausgerichtet. Damit nimmt es ausdrücklich Bezug auf die in der häuslichen Situation ausgebrochene Langeweile der Kinder. Hiermit soll nicht gesagt sein, dass Kinder zuvor keine Langeweile kannten oder auch im Kindergarten keine Langeweile haben werden, entscheidend ist, dass erstmalig mit der Entdeckung der Kindheit als einer eigenen Lebens- und Tätigkeitsform die Langeweile der Kinder thematisiert wird. Selbstverständlich kann bei Kindern noch nicht von Subjektivität die Rede sein, aber der Boden, auf dem diese sich entwickelt und ausbildet, wird hier bereitgestellt.
Das 19. Jahrhundert bringt neben den ersten Theorien der Langeweile (Schopenhauer, Sören Kierkegaard und Philipp Mainländer in diesem Band) Werke der Weltliteratur hervor, die Langeweile ins Zentrum stellen (Iwan Alexandrowitsch Gontscharow und Charles Baudelaire in diesem Band). Langeweile wird für Frauen des mittleren Bürgertums zu einem identitätsbildenden Motiv, das nicht nur ein gesellschaftliches Unbehagen zum Ausdruck bringt, sondern auch einen Ausgangspunkt ästhetischer Lebensgestaltung bildet. Im 20. und 21. Jahrhundert intensiviert sich die geisteswissenschaftliche Reflexion über das Phänomen (Georg Simmel, Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, Bertrand Russel, Emil Cioran und Bernhard Williams in diesem Band), das in seiner kulturellen Wirksamkeit zunächst aber durch die Katastrophen der Weltkriege verdrängt wird, bis es in der Massenkultur saturierter Gesellschaften zu dominierendem Einfluss kommt (Doehlemann in diesem Band). In den letzten Jahrzehnten ist Langeweile verstärkt auch von den Erfahrungswissenschaften aufgenommen worden. Neben den psychologischen Untersuchungen, die schon in einer längeren Tradition stehen (John D. Eastwood und andere aus den neueren Arbeiten in diesem Band), ist vor allem auf die Biologie, die Neurowissenschaften und die Evolutionstheorie hinzuweisen (Wemelsfelder und Toohey in diesem Band).
Blick man von heute auf die Geschichte der Langeweile zurück, tritt zum einen der Aufstieg der einfachen Langeweile zu einem allgegenwärtigen Phänomen der modernen Kultur hervor. Zum anderen hat die existenzielle Langeweile ihren Charakter als Stimmung einer schmalen Schicht von gutsituierten Kreisen, Literaten und Intellektuellen verloren. Sie ist zu einer gemeinhin anerkannten und verbreiteten Grundbefindlichkeit avanciert. Historisch bemerkenswert sind die Berührungspunkte, die zwischen der existenziellen Langeweile als Phänomen der Neuzeit und der viel älteren Melancholie bestehen. Melancholie weist in der Vielfalt ihrer Bedeutungen wie Langeweile eine existenzielle Dimension auf. Das Subjekt gerät in eine potenziell unendliche Distanz zur Welt, fällt aus den Verstrickungen alltäglicher Verrichtungen und eigener Lebenswichtigkeiten heraus und ist auf sich zurückgeworfen.
Während aber die existenzielle Langeweile durch fehlende Erfahrung und Leere gekennzeichnet ist, findet in der Melancholie eine Reflexion statt, in der sich das Subjekt in seiner Verlassenheit verortet. Die Melancholie ist der Schatten, der sich über der menschlichen Produktivität ausbreitet. Nichts von dem, was der Mensch schafft, hat Bestand: die Werke nicht und auch nicht die Künste, die sie hervorgebracht haben. Die Melancholie ist die Wehmut, die der Betrachtung der Geschichte innewohnt, in der das Vergangene als unwiederbringlich vergangen scheint. Sie überfällt den produktiven Menschen immer dann, wenn im Angesicht des fertigen Produkts die Freude des Gelingens vom Bewusstsein der Hinfälligkeit alles Geschaffenen durchstimmt wird ("Auch das Schöne muß sterben", Schiller). Dürer hat die Melancholie in einem berühmten Kupferstich aus dem Jahr 1514 als Sinnende dargestellt, als Personifizierung der cognitio vespertina, des abendlich gestimmten Denkens, in dem das Tagwerk in seiner interessenbestimmten Hingabe an die Dingwelt überdacht wird. Wenn die Handlungsimpulse ausgesetzt und die Triebregungen angehalten sind, kommt die Welt als Schauplatz der Handlungen und als Ort der Dinge in den Blick. Wo das Interesse an den Dingen erloschen ist, wird ihr Gegebensein, der Grund ihres Gesehenwerdens, bedeutsam. Die Formen, in denen die Dinge sich zeigen, und die Verhältnisse, in denen sie zueinander stehen, ihre Anschauung also, sind räumlich bestimmt.
Dürer stellt die Melancholie in der Figur der Geometrie dar. Sie wurde immer auch im Zusammenhang mit der Mathematik gesehen. Wo das aktuelle Interesse an den Dingen erloschen ist, werden sie in ihrer mathematischen und geometrischen Gestalt neu verfügbar. Das heißt aber, sie müssen von den Künsten neu ergriffen, neu geborgen werden (in dem Dürerschen Kupferstich liegen die Werkzeuge und Künste ungebraucht und ungeübt der Melancholie zu Füßen). In Dürers Allegorie gilt es, die in Untätigkeit und übler Laune verharrende Melancholie auch als Mahnung zu verstehen. Ihr scheint der Weg zur erneuten Tätigkeit versperrt zu sein. Demgegenüber kann die Langeweile als Umkehrung verstanden werden. Sie ist dem Begriff der Arbeit ebenfalls entgegengesetzt, vermag jedoch zugleich als Quelle von Produktivität zu fungieren. Folgt die Melancholie auf Produktivität, gehen bestimmte Formen der Langeweile der Produktivität voran. Wie Langeweile Produktivität negiert und vorbereitet, erhellt das Wechselspiel ihres einfachen und existenziellen Typs.
Die einfache Langeweile entwickelt eine eigenständige begriffliche Vielfalt durch ihre unterschiedlichsten Verwendungskontexte und sprachlichen Oppositionen. Die Verwendungskontexte reichen von alltagspraktischen Situationen über künstlerische Darstellungen bis zu fachwissenschaftlichen Thematisierungen. Inhaltliche Schärfe gewinnt der Begriff durch Abgrenzungen, von denen vor allem die Kurzweil, die Arbeit und das Interesse zu nennen sind. In diesen Oppositionen trägt die einfache Langeweile dazu bei, ihren Gegenbegriffen Nachdruck zu verschaffen. Was nicht den Primaten von Kurzweil, Arbeit und Interesse dient, wird als langweilig diffamiert. Langeweile wird vornehmlich mit den negativ besetzten Eigenschaften der Trägheit, Faulheit und Gleichgültigkeit verbunden. Wieder spielt die Abwertung mit dem Verweis auf das drohende Nichts der existenziellen Langeweile. Die Kontrastierungen bewähren sich auch dann, wenn bestimmte Formen der Kurzweil, der Arbeit oder des Interesses selbst als langweilig gelten: einfallslose Kurzweil, eintönige Arbeiten, oberflächliche Interessen usw. Der Übergang zur existenziellen Langeweile findet erst statt, wenn der Wert der Gegenbegriffe überhaupt zu entschwinden beginnt, wenn keine Kurzweil, keine Arbeit oder kein Interesse mehr dazu in der Lage sind, die quälende Ödnis zu beenden.
Aber die existenzielle Langeweile wird, wie bereits erwähnt, keinesfalls nur negativ bewertet. Bereits Pascal weist auf die mit dieser Langeweile verbundene Ruhe hin, in der das Glück des Menschen liege. Goethe, dessen Verständnis von Langeweile auch Dimensionen des existenziellen Typs aufweist, spricht von der Langeweile als "Mutter der Musen" (vgl. diesen Band). Für ihn kann eine in Ritualen und Routine erstarrte Lebenspraxis durch Langeweile wieder in Produktivität transformiert werden. Als die "unangenehme ›Windstille‹ der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht" charakterisiert sie Nietzsche (vgl. in diesem Band). Nach Heidegger dämmern die "Möglichkeiten, die das Dasein haben könnte", in der existenziellen Langeweile, die er tiefe Langeweile nennt, auf. Der Einzelne erkennt, was für ihn von Bedeutung ist und was wirklich für ihn zählt. Diese "Weckung des Subjektes" vollzieht sich bei Heidegger allerdings nur nach einer tiefgreifenden Erschütterung. Zunächst verliert das Subjekt in der tiefen Langeweile seine Verfügbarkeit: Das impersonale Es in "Es ist einem langweilig" zeigt dies an. Die Welt vermag nichts mehr zu bieten, auch die Mitmenschen nicht. In der Ohnmacht des Subjekts bricht das Fundament weg, auf den sich lebensvolle Bezüge zu den Dingen entwickeln können. Dadurch wird der Grund der Existenz in seiner Nacktheit freigelegt; dann, wenn die tiefe Langeweile durchgestanden ist, setzt die "Peripetie" ein: Das Dasein kehrt wieder zurück, jetzt aber freier, offener, da losgelöst von allen festgelebten, zugekleisterten und verdeckten Bezügen. Das Subjekt ist frei. Das je eigene, "eigentliche" Leben tritt unverhüllt zutage.
Diese Denker halten die Erfahrung der Langeweile für sinnvoll, da sie den Weg zum religiösen Glauben oder zur Kreativität vorbereitet. Die positiven Funktionen finden eine Verstärkung, wenn sie an die verwandten Einstellungen der Melancholie und der Muße anknüpfen. Melancholie vermag die Konfrontation mit der Leere in einer reflexiven Haltung zu den unhintergehbaren Lebensbedingungen aufzuheben. Im Übergang zur Muße wird der verlangsamte Zeitlauf bewahrt, um religiösen oder schöpferischen Impulsen der Langeweile Raum zur Entfaltung zu geben.
Der Wert der existenziellen Langeweile muss aber nicht im Hinblick auf etwas außer ihr Liegendes verortet werden. Sie ist selbst eine kritische Instanz, die eine radikale Ablehnung zum Ausdruck bringt, ohne sich schon um Alternativen kümmern zu müssen. Die von der Langeweile praktizierte Distanznahme verdankt sich den Leistungen der neuzeitlichen Subjektivität. Damit eine Person alle möglichen Objekte ihres Denkens vergleichgültigen kann, wie es in der existenziellen Langeweile geschieht, muss sie sich als autonomes Subjekt verstehen. Die Selbstbestimmung des Denkens und Handelns lässt sich aber als Kernelement der Subjektivität, wie sie zu Anfang der Neuzeit durch Rationalismus und Empirismus begründet wird, auffassen. Langeweile setzt nicht nur Subjektivität voraus, sondern ist auch selbst als ihr kennzeichnender Ausdruck zu verstehen. Neuzeitliche Subjektivität konstituiert sich in einer sozialen Isolation, in der die Person auf sich zurückgeworfen ist und erst dadurch die für die existenzielle Langeweile bezeichnende innere Leere erfährt. Existenzielle Langeweile nimmt die Errungenschaften dieser Konstitution ebenso auf wie sie für die betroffene Person eine Herausforderung darstellt, die aus der Isolation aufsteigende Langeweile aushalten zu können.
So wenig wie die einfache ist auch die existenzielle Langeweile für ein Individuum als Dauerzustand vorstellbar. Sie nimmt ein Ende, indem es gleichsam zur Welt zurückkehrt - sei es, ohne sich selbst wesentlich verwandelt zu haben, oder sei es mit einem Neuanfang, zu dem ihm die Leere der Langeweile verholfen hat. Einfache und existenzielle Langeweile bedingen einander. Ihre Begriffe sind aufeinander bezogen, ihre realen Erscheinungsweisen vermögen ineinander überzugehen. Allerdings muss ihr historisch gemeinsames Auftreten nicht heißen, dass sie nicht auch unabhängig voneinander zu bestehen vermögen. Die einfache Langeweile kann schon lange vorher bestanden haben und - eher als die existenzielle Langeweile - von nur langsam veränderlichen naturalen Ursachen beeinflusst sein.
Ob nun die Langeweile eher ein kulturelles oder ein natürliches Phänomen ist - es kennzeichnet den modernen Umgang mit der Langeweile, dass ihr kaum Raum gelassen wird. Sie hat keinen Platz in einer Berufswelt, deren Merkmale die Verdichtung von Handlungsabläufen und die Beschleunigung ihrer strukturellen Veränderungen sind. Der Mangel an tätigkeitsfreien und insofern potenziell langweiligen Zeiten ist als bedenklich anzusehen. Wo wiederkehrende Tätigkeiten, inhaltsleere Routinen oder ziellose Beschäftigungen dominieren, bringt die Berufswelt Langeweile nur als Gegenstand der berechtigten Kritik hervor. Langeweile hat auch kaum einen Ort in der Freizeit oder der Zeit der Arbeitslosigkeit, solange eine gigantische Unterhaltungsindustrie dafür sorgt, dass Zeiten der Leere erst gar nicht an Einfluss gewinnen.
Der betriebene Aufwand für die Organisation des Zeitvertreibs ist umgekehrt als Ausdruck einer unreflektierten Furcht vor der Langeweile gedeutet worden (vgl. in diesem Band Pascal, Doehlemann, Russell). Zudem besteht eine Tendenz zur Pathologisierung und Tabuisierung der existenziellen Langeweile. Ihre Verwandtschaft mit der Depression erhält einseitige Aufmerksamkeit, ihre Differenz zur einfachen Langeweile oder auch zur Muße einseitige Betonung. Viele Theoretiker fordern, die Langeweile nicht zu unterdrücken, sondern ihr Raum zu geben, solange die Bedingungen ihrer Entstehung vorhanden sind. Diese Theoretiker legen Wert auf die Entfaltung des kritischen Potentials der Langeweile (in diesem Band Russell, Kracauer).
Man kann nicht ausschließen, dass sich diese Zielsetzungen auch innerhalb der modernen Kultur erreichen lassen. Die Verdrängung der Langeweile in der Moderne ist seit jeher von Gegentendenzen begleitet, die Lebensweisen praktizieren, die mit der Erfahrung von Leere, Ruhe und Langsamkeit verträglich sind. Neue Formen der Arbeitsorganisation und technischer Fortschritt werden zukünftig vielleicht fruchtbare Verbindungen von Beschäftigung und Langeweile im Berufsleben erlauben. Sicher wird aber der Umfang der Freizeit weiter wachsen und damit diejenigen Lebenszeiten, die besonders eng mit dem Phänomen der Langeweile verknüpft sind. Gelingt weder die Ausfüllung der als frei verfügbar verstandenen Zeit noch der Umgang mit einer leeren Zeit, droht die Qual der Langeweile. In der jüngeren Vergangenheit ist bereits deutlich geworden, dass bisherige Mechanismen der Erholung, Unterhaltung und Ablenkung immer weniger greifen. Die Reiseziele werden ausgefallener, die Sportarten aufwendiger, die angebotenen Events risikoreicher. Immer höher kommt die Schwelle der Grenzüberschreitung zu liegen, um in der allgemeinen Erlebniskultur noch für Abwechslung zu sorgen.
Es mag sein, dass hinter aller Jagd nach Beschäftigung, dem Hunger nach Erlebnissen und Events eine Sinnsuche steht, die dann auftritt, wenn es kein Versprechen mehr auf ein Jenseits gibt, sondern sich alles nur in der Immanenz verwirklichen lässt. Von daher kann Langeweile als die Krankheit, die Epidemie der Moderne angesehen werden, wie dies Kierkegaard getan hat. Der Mensch spürt Verlassenheit, Leere, Kummer, Verzweiflung, die er mit Ablenkung und Tätigsein anfüllt, das Selbst muss versuchen, mit spirituellen Quellen sich aufzufüllen. Die negativ erfahrene Leere wird immer wieder und ständig betäubt. Es mag ferner sein, dass auch das protestantische Arbeitsethos (Zeitökonomie, Fleiß, Affektkontrolle) zur Abwertung der Langeweile geführt hat. Langeweile wird hier als Zeitverschwendung und Zeitvergeudung gebrandmarkt (siehe Nietzsche in diesem Band). Akzeptanz findet sie einzig in der Regenerierung der Arbeitskraft.
Man mag das Problem der Langeweile für ein spezifisches Problem der Moderne halten, das seine kulturelle Relevanz erst verliert, wenn sich das Subjektverständnis historisch verändert. Der Subjektivität, die der Langeweile vorausgesetzt ist, eignet ein Selbstbezug, der in stärker gemeinschaftlich ausgerichteten Kulturen weniger ausgeprägt sein dürfte. Langeweile, besonders der existenzielle Typ, geht in der Moderne mit Einsamkeit Hand in Hand. Welcher Unterschied besteht zwischen der Langeweile eines sozial isolierten Individuums und einer Gemeinschaft von Menschen, die sich über die Bedingungen ihrer Erfahrung der Leere verständigt haben? Welche Dynamik entsteht unter Menschen, die sich zusammen langweilen? Ist eine geteilte Stimmung nicht immer schon der Leere der Langeweile entgegengerichtet?
Der spekulative Blick auf die zukünftige Entwicklung der Langeweile muss noch um einen Schritt erweitert werden. Auch die Vermutung, die Langeweile werde mit der Moderne, die sie erst thematisiert hat, wieder verschwinden, lässt sich entkräften. Erfahrungswissenschaftlich bieten Hypothesen der Evolutionsforschung ein Gegenargument. Langeweile wird phylogenetisch als adaptives Merkmal verstanden, das Lebewesen mit einer emotionalen Abwehr gegenüber Situationen versieht, in denen das Verhalten von Artgenossen für sie schädlich ist (Toohey in diesem Band). In dem Maß wie die Langeweile von natürlichen Faktoren abhängt, haben kulturelle Veränderungen auf ihre Existenz einen geringeren Einfluss. Gegen die Beschränkung des Phänomens auf die Moderne sprechen auch Annahmen über die fernere Zukunft der kulturellen und technischen Entwicklung. Die in der Langeweile erfahrene Leere könnte auf lange Sicht gesehen vermehrt einen Charakter gewinnen, der sich nicht ohne weiteres durch einen Wandel des Weltverständnisses beseitigen lässt. Langeweile ist bisher vor allem in saturierten Gesellschaften vorgekommen. Gehört ihnen die Zukunft, wird auch mit einer Zunahme der Langeweile zu rechnen sein (vgl. Mainländer in diesem Band). Mit den technischen Möglichkeiten schrumpft zudem der irdische Raum zu einer kleinen Insel, die man schnell kennengelernt hat. Ob interstellare Reisen, die menschliche Lebensalter um ein Vielfaches übersteigen, jemals zur Zeiterfüllung taugen werden?