Broicher / Ani / Schück | UNBEHAUSTE 2 | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 252 Seiten, Format (B × H): 110 mm x 170 mm, Gewicht: 250 g

Broicher / Ani / Schück UNBEHAUSTE 2

24 Autor*Innen über Fremdsein und Identität
2. Auflage 2020
ISBN: 978-3-948373-22-1
Verlag: fineBooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

24 Autor*Innen über Fremdsein und Identität

E-Book, Deutsch, 252 Seiten, Format (B × H): 110 mm x 170 mm, Gewicht: 250 g

ISBN: 978-3-948373-22-1
Verlag: fineBooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Was ist Heimat und wie lässt sich Vertrauen in der Fremde finden? Wohin führt der Weg, wenn es kein Ankommen zu geben scheint? Was bedeutet es, ein Menschenleben zu retten?

Die Autor*innen dieses zweiten Bandes gehen diesen Fragen und vielen weiteren Gedanken nach. Ein Teil des Verkaufserlöses kommt der Integrationsförderung zugute.

Mit Friedrich Ani, Moritz Rinke, Eylem Özdemir-Rinke, Norbert Kron, Jo Schück, Katharina Höftmann, Melanie Mühl, Selim Özdo an, Hannah Lühmann, Judith Döker, Robin Baller, Linda Rachel Sabiers, Jule Müller, Manfred Theisen, Mark Horyna, Julia Alina Kessel, Emil Fadel, Juliane Marie Schreiber, Constantin Klemm, Fabian Herriger, Ramona Raabe und Alexander Broicher.

»UNBEHAUSTE« ist ein Buch, dessen Worte, Verse, Gedanken und Geschichten alles andere als flüchtig sind. Sie beschäftigen, berühren, rütteln auf.« Rhein-Zeitung

»Wir müssen mehr Nähe wagen. Gegen die Angst muss man Menschen emotional abholen. Fiktion erzeugt Emotionen, die wir mit klassischem Journalismus nicht bekommen.« Jo Schück (ZDF Aspekte) im Wiesbadener Kurier über UNBEHAUSTE

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Weitere Infos & Material


Norbert Kron
Eine Geschichte von Flucht und
Hoffnung
1 Er ist gekidnappt worden, er hat erlebt, wie Menschen gefoltert wurden, er ist nur knapp dem Tod entronnen. Der junge Mann, der an diesem Morgen das Klassenzimmer betritt, hat schwarze Augen, in denen ein unergründlicher Schimmer liegt. Er ist ein mittelgroßer, schlanker Junge, der ein breit gestreiftes T-Shirt und einen Ring am Zeigefinger trägt. Seine olivbraunen Wangen haben Schattierungen, die wie Narben aussehen. Und nach allem, was er erlebt hat, ist es wahrscheinlich, dass es Narben sind. Berhe Gonetse ist 18 Jahre alt, und es ist klar, dass das Schimmern in seinen Augen die Dinge widerspiegelt, die er auf der Flucht gesehen hat. Damals, als er in der Geiselhaft von Beduinen war. »Da war eine große Grube, in die sie die Toten geworfen haben. Die Beduinen scherten sich um alles einen Dreck, sie taten, was sie wollten. Sie vergewaltigten die Frauen und wenn die Frauen schwanger wurden, ließen sie viele während der Schwangerschaft sterben.« Berhe Gonetse spricht gut Hebräisch, mit einer ernsten Coolness. Er hat Glück gehabt, ist 2011 nach seiner Odyssee durch den Sudan und Ägypten nach Israel gelangt, wo er in das Saharonim-Gefangenenlager in der Negev-Wüste gebracht wurde. »Ich war dreizehneinhalb, aber weil ich jünger aussah und keinen Pass hatte, habe ich mich für elf ausgegeben. Da haben sie gesagt, du kommst in ein Internat.« Als er die Altersschummelei erwähnt, schleicht sich ein Lächeln in sein Gesicht. Es tastet sich tatsächlich voran, stiehlt sich auf Zehenspitzen in seine Züge, wie ein Tier, das auf der Hut ist und prüft, ob die Luft rein ist. Denn auch das ist klar: Er wäre an diesem Morgen nicht in die Schule gekommen, wenn da nicht die Frau mit den schwarzen schulterlangen Haaren wäre, die nun an seiner Seite steht. Auch sie hat tiefschwarze Augen, aber sie sind von einem anderen, in sich ruhenden Schwarz, einem Schwarz, das Güte ausstrahlt. Devora Schlesinger ist seit über dreißig Jahren an der Schule. Bis vor Kurzem war sie Berhe Gonetses Lehrerin und Berhe Gonetse einer ihrer außergewöhnlichsten Schüler. Als ihre Blicke sich begegnen, spürt man, dass den jungen Mann mit der Frau ein besonderes Vertrauensverhältnis verbindet. »Diese Schule ist mehr als eine Schule«, sagt Berhe Gonetse, »sie ist ein Zuhause.« Die Bialik-Rogozin-Schule ist das einzige Zuhause, das Berhe Gonetse in der Fremde gefunden hat. Vor anderthalb Jahren hat er hier mit sehr guten Noten seinen Abschluss gemacht. Dank Devora Schlesinger ist die tragische Geschichte von Berhe Gonetse in vielerlei Hinsicht auch eine Glücksgeschichte. Eine Geschichte von Flucht und Hoffnung. 2 Eritrea ist ein weites heißes Land, das vom Hochland mit dem angrenzenden Sudan als Wüste zum Roten Meer hin abfällt. Über dreißig Jahre hat es um seine Unabhängigkeit gekämpft, in einem blutigen Krieg, in dem über 200.000 Menschen ums Leben kamen und in dem es sich von der Diktatur durch das Nachbarland Äthiopien befreite. Doch auch im unabhängigen Eritrea herrscht kein Frieden. Seit einem Vierteljahrhundert führt eine »Übergangsregierung«, die sich demokratisch nennt, ein Einparteienregime, das für gravierende Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. Reporter ohne Grenzen stuft Eritrea weltweit als das Land ein, in dem die Pressefreiheit am brutalsten eingeschränkt wird (1). Im Hochgebirge nahe der Haupstadt Asama gibt es bedeutende Rohstoffvorkommen. Kupfer, Zink, Gold und Silber bringen chinesischen und kanadischen Unternehmen hohe Profite ein, doch bei der Bevölkerung kommt nichts davon an. Korruption und Unterdrückung führen dazu, dass der Reichtum an Bodenschätzen und Edelsteinen dem Volk vorenthalten bleibt. 5.000 Eritreer fliehen jedes Jahr aus dem Land und nehmen dabei große Gefahren in Kauf. Wer als Regierungskritiker, Deserteur oder Flüchtling verhaftet wird, verschwindet laut Amnesty International ohne Prozess in dunklen Staatsgefängnissen, aus denen viele nicht wiederkehren (2). Es sind Menschen wie Berhe Gonetse. Solange diese Regierung regiert, kann er nicht in seine Heimat zurück. Während er erzählt, hält er den Kopf gesenkt, blickt von unten herauf. Vielleicht ist es das, woran das Schimmern seiner dunklen Augen erinnert, an den Glanz der ungehobenen Edelsteine, den die eritreischen Hochgebirge bergen. Verhangener Rauchquarz, schwarzer Obsidian – es ist ein schüchternes, aber zugleich bestimmtes Leuchten, das aus seinem Inneren aufsteigt und mehr als versteckten Schmerz andeutet, auch einen tiefen Mut. Berhe Gonetse ist zu Beginn des Eritrea-Äthiopien-Kriegs geboren, der vom Mai 1998 bis zum Juni 2000 dauerte. Der Krieg, eine Eskalation der Streitigkeiten, die die Grenzziehung nach der Unabhängigkeit Eritreas nach sich zog, bedeutete für die Menschen im Grenzgebiet dauernde Lebensgefahr. Manche wurden in den Krieg geschickt, andere einfach ausgebeutet. »Was dem ganzen Dorf widerfuhr, drei- bis vierhundert Familien – darüber will ich nicht sprechen.« Er beißt sich bei diesem Satz auf die Lippen, es ist ein Ausdruck des Schmerzes über das, was er damals gesehen hat – und Gegenwehr gegen die Tränen, die ihm kommen, wenn die Bilder wieder in ihm aufsteigen. Mord, Vergewaltigung, Folter, Sklaverei: Wenn er dergleichen schon als kleines Kind erlebt hat, war es nur eine Ankündigung der grausamen Dinge, deren Zeuge er später wurde. Berhe Gonetses Dorf wurde ins Grenzgebiet zum Sudan umgesiedelt, in die Provinz Gash-Barka. »Es war sehr hart dort, es gab kaum Medizin. Die Jungen begannen zu revoltieren, schlugen das Oberhaupt des Dorfes, worauf das Dorf in vier Teile aufgeteilt wurde. Meine Familie landete in einem weiteren Dorf in der Nähe zum Sudan. Ich wusste immer, dass ich eines Tages weggehen würde, aber noch nicht damals, ich war noch zu jung«, sagt er und beißt sich wieder auf die Lippen. »Auch darüber möchte ich nicht sprechen.« War er selbst an den Aufständen beteiligt, wurde er misshandelt? Hat seine Familie ihn losgeschickt, damit wenigstens einer von ihnen ein besseres Leben findet? Oder ist er abgehauen, auf eigene Faust aufgebrochen? Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass Berhe Gonetse bereits damals gekidnappt wurde. Gekidnappt von einer der Banden, die Männer und Frauen aus der Krisenregion verschleppen, auch aus den Flüchtlingslagern Shagrab und Kassala, in dem eritreische Flüchtlinge im Sudan Zuflucht finden. Das unabhängige sudanesische Mediennetzwerk »Dabanga« berichtet auf seiner Webseite über die brutalen Methoden, mit denen kriminelle Gruppen ihre Opfer aus der Grenzregion verschleppen und auf welchen Routen sie sie nach Norden in das angrenzende Ägypten bringen (3). In der Zeit, in der sich Berhe Gonetses Odyssee nach Israel ereignete, waren solche Entführungen nach UNHCR-Angaben an der Tagesordnung. Über Zehntausend solcher Entführungsfälle soll es allein zwischen 2007 und 2014 gegeben haben, etwa dreißig pro Monat. Die sudanesische Polizei arbeitete dabei mit den Menschenhändlern vielfach Hand in Hand. Wie barbarisch die Kidnapper zu Werke gehen, welch grausames Schicksal die Opfer erleiden, hat der preisgekrönte Journalist Michael Obert 2013 in einer Reportage für das SZ-Magazin rekonstruiert. Obert erzählt die Geschichte eines Flüchtlings, der ein älterer Bruder von Berhe Gonetse sein könnte und in einem Flüchtlingslager auf dem Weg zur Essensausgabe »unter den Augen sudanesischer Soldaten, die von den Vereinten Nationen für den Schutz der Flüchtlinge bezahlt werden«, von sechs Männern mit Kalaschnikows verschleppt wird. Die Männer, die dem Nomaden-Verbund des Rashaida-Stamms angehören, transportieren ihn mit enem Pick-up nordwärts. »Von einer kriminellen Bande an die nächste weiterverkauft, wird er von einem gut organisierten Netzwerk über die Grenze nach Ägypten geschafft, mit rund 150 anderen entführten Eritreern in einen als Geflügeltransporter getarnten Lastwagen gepfercht und über die Suez-Kanal-Brücke auf den Sinai gekarrt. Die einzige Frischluft kommt durch die Schlitze hinter dem Motor. Als schwer bewaffnete Beduinen die Heckklappe des Lastwagens aufreißen, sind sieben Afrikaner erstickt, darunter zwei Kinder und ein Baby.« (4) Auch Berhe Gonetse ist wohl auf dieselbe Weise in die Hände von Beduinen im Sinai gelangt. Das Wüstendreieck, das von Rotem Meer, Suez-Kanal und Israel begrenzt wird, wird von etwa 300.000 Menschen besiedelt, von denen die meisten Viehzucht betreiben. Einige Beduinenstämme aber leben vom Menschenhandel. Berhe Gonetse schildert beim Gespräch in der Schule genau, wie die Entführer Kapital aus ihren Opfern schlagen: »Am Anfang verlangen sie 3.000 Dollar Lösegeld. Je mehr Zeit vergeht, desto höher steigt die Summe, von 10.000 auf 15.000 Dollar. Die Verwandten müssen zahlen. Mich hielten die Beduinen in sicherem Gewahrsam, da ich für sie Arabisch-Übersetzungen...



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