E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Brüggemann Wenn nachts die Kampfhunde spazieren gehen
24001. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8437-3272-7
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman | Über die Erwartungen der Mütter, ihr toxisches Erbe und die Schönheit des Erwachsenwerdens
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-8437-3272-7
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anna Brüggemann erzählt vom schmerzhaft engen Band mütterlicher Erwartungen Regina ist eine typische Vertreterin der Nachkriegsgeneration, sie hatte bereits viele Möglichkeiten, sie konnte Psychologie studieren und von einer akademischen Laufbahn träumen, um dann doch der Familie zuliebe Abstriche zu machen. In ihre Töchter Antonia und Wanda setzt sie nun alle Hoffnungen. Antonia unterläuft diese konsequent, bricht ihr Studium ab und wird alleinerziehende Mutter. Wanda erfüllt alle in sie gesetzten Wünsche und wird dabei in ihrem wahren Wesen übersehen. Als sie sich am Sterbebett Reginas ein letztes mal zu dritt treffen, brechen die alten Konflikte auf - und die Frage, wer wem was verzeihen kann, prägt den Abschied.
Anna Brüggemann, 1981 geboren, wuchs in Südafrika, Stuttgart und Regensburg auf. 1996 stand sie erstmals vor der Kamera, seit 2004 schreibt sie Drehbücher. 2014 gewann sie zusammen mit ihrem Bruder den silbernen Bären, ihr literarisches Debüt Trennungsroman wurde 2021 mit dem Debütpreis der lit.cologne ausgezeichnet.
Autoren/Hrsg.
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1. Das Abitur
Regina saß in der Aula der großen Schule und betrachtete ihre Hände. Auf der Bühne ging gerade mühselig ein Querflötensolo zu Ende. An der Flöte ihre Tochter Antonia. Regina wagte nicht, hinzusehen. Antonia inmitten des Orchesters, wie sie mit Engelsgeduld ein fragwürdiges Solo konsequent seinem Ende entgegensteuerte. Die dunklen, langen Haare zu einer Strähne nach hinten gebunden, einen Fuß leicht abgespreizt, sodass sich ihre Oberschenkel zusammenpressten, die Ellenbogen abgewinkelt, der Körper in eifriger Musikalität wippend. Antonia hatte eine helle Haut, fast weiß. Sie war schlank, aber weich. Ihre weißen Oberarme bewegten sich im Takt der Musik, sanft und unmuskulös. Reginas eigene Oberarme, ihr ganzer 51-jähriger Körper, war besser trainiert als der ihrer älteren Tochter. Ihre Oberarme waren sehnig und braun gebrannt. Regina sah zu ihrem Mann Edgar. Der wartete gelassen ab, bis Antonia zu Ende war, das Gesicht mit der randlosen Brille in gutmütige Falten gelegt. Es brauchte Mut, vor dem versammelten Abiturjahrgang und den dazugehörigen Eltern etwas vorzutragen. Ihm wäre niemals eingefallen, unter der Darbietung seiner Tochter zu leiden. Wanda, ein Jahr und ein halbes jünger als Antonia, drehte sich zu Regina um. Sie saß zwei Reihen weiter vorne, in einem azurblauen Kleid. Ihre sportlich blauen Augen verrieten nichts, keine Regung. Sie lächelte ihrer Mutter kryptisch zu und drehte sich wieder weg. Antonia setzte die Querflöte ab, zufrieden damit, das Vorgenommene geleistet zu haben, die Gäste applaudierten. Antonia erhob sich wie eine Pflanze, beweglich und ergeben. Sie verbeugte sich kurz. Man sah das schneeweiße Dekolleté, ahnte ihren schönen Busen, bekam eine Idee ihrer schmalen Taille und ihrer weiblichen Hüften, alles verborgen unter einem schwarzen, wadenlangen Kleid aus Chiffon, tailliert und nach unten sanft weiter werdend. Antonia würde perfekt in ein Gemälde der Nazarener passen, dachte Regina. Die alabasterfarbene Haut, das kleine Kinn, der weiche Mund. Leider lebten sie aber nicht im Jahr 1850, sondern 1998, und Antonias Sanftmut und Passivität hatten etwas aufreizend Veraltetes. Das gesamte Orchester hatte sich erhoben, der musikalische Teil des Abends war beendet, und die Jugendlichen verteilten sich im Saal zwischen ihren Freunden und Familien. Antonia setzte sich zu den anderen Abiturienten, die in den ersten drei Reihen platziert worden waren, zwischen ihre besten – und einzigen – Freundinnen, Fairouz und Marianne. Regina versuchte, sich an Antonias ersten Schultag zu erinnern. Mit ihrem Abitur schloss sich ein Kreis, da konnte man das ja wenigstens mal versuchen. Antonia war ein sehr hübsches Kind gewesen, man hatte Regina immer wieder gesagt, ihre Tochter sähe aus wie ein kleines Schneewittchen, trotzdem empfand Regina sie nicht als hübsch. Ihre Ausstrahlung war schon immer seltsam verwaschen, Regina fand in dem Gesicht ihrer kleinen Tochter keinen Anhaltspunkt und in ihrem Wesen auch nicht. Antonia redete nicht viel. Hatte sie sich damals auf die Schule gefreut? Regina wusste es bis heute nicht. War es für sie damals schlimm gewesen, am ersten Schultag kein einziges anderes Kind zu kennen? Auch das war Regina verschlossen geblieben. Antonia war in die Schule gegangen, wie sie jetzt auch wieder aus ihr hinausging. Ohne ein inneres Verhältnis dazu aufzubauen, ihre Emotionen Regina ein Rätsel. Manchmal hatte Regina sich Sorgen um Antonia gemacht, Sorgen, dass sie ihr Dinge verheimlichte, Mobbing, Depressionen, Vorwürfe. Aber wenn sie Edgar davon erzählt hatte, hatte dieser nur abgewiegelt und dazu geraten, Antonia einfach in Ruhe zu lassen. Er sei ganz ähnlich gewesen. Das glaubte Regina gerne. Gleichzeitig wusste sie, dass sie sich als Teenager oder »Backfisch«, wie man damals sagte, nie in Edgar verliebt hätte. Das war erst möglich geworden durch die herben Rückschläge und Enttäuschungen, die sie in ihren Zwanzigern erlebt hatte. Im Vergleich zu gewissen anderen Männern waren Edgars Ruhe und Zuverlässigkeit, um nicht zu sagen seine Langeweile, Balsam gewesen. Und deswegen hatte sie ihn geheiratet. Regina dachte an ihre eigene Abiturfeier im Jahr 1966. Sie hatte ein wirklich sehr schönes Kleid angehabt, cremeweiß, mit orangenen, großen Knöpfen, A-Linie, sehr kurz. »So gehst du nicht aus dem Haus«, hatte ihre Mutter gesagt, und ihr verkniffener Mund war dabei noch schmaler geworden, die graue Dauerwelle noch undurchdringlicher. Regina war natürlich »so« aus dem Haus gegangen, die Wimpern dick getuscht, ihre dichten blonden Haare mit einem weißen Haarreifen zurückgebunden. Sie hatte »so« auch die Abiturrede gehalten, und danach hatte ihre Deutschlehrerin Fräulein Oppelmann ihr nahegelegt, zum Radio zu gehen, weil sie so gut frei sprechen konnte. Ihre Eltern hatten die Rede natürlich nicht zu würdigen gewusst. Klein und verkrampft hatten sie die Zeugnisverleihung über sich ergehen lassen und sich für ihre strahlende, extrovertierte Tochter geschämt. Sie hatten sich sogar dafür geschämt, dass sie überhaupt das Abitur abgelegt hatte. Was hätte aus ihr werden können, wenn sie von ihrem Elternhaus mehr gefördert worden wäre, dachte Regina bitter. Was hätte sie nicht alles erreichen können. Sie betrachtete sich in ihrem Taschenspiegel und zog den Lippenstift nach. Edgar schaute noch immer geduldig zur Bühne und nahm, ohne den Blick von den Abiturienten zu wenden, Reginas Hand. »Ich bin da«, sollte diese Geste heißen. Leider nur du und kein anderer, dachte Regina, dicht gefolgt von einem zarten schlechten Gewissen. Wo bleibt denn eigentlich Wandas Rede, fragte sich Regina. Dieser Abend muss doch noch mehr zu bieten haben als ein verkorkstes Flötensolo. Da bog Wanda den Rücken durch, reckte das Kinn und eilte zum Rednerpult. Wanda zeigte beim Lächeln ihre weißen Zähne, schüttelte ihr blondes Haar und blickte auffordernd ins Publikum. »Liebe Abiturienten«, begann sie. »Ich als Schulsprecherin und Zwölftklässlerin spreche wohl für viele im Saal, wenn ich sage, ich bin neidisch auf euch. Ihr seid wieder da, wo ihr mal angefangen habt. Außerhalb der Schule. Nackt, unschuldig, bereit, neu zu beginnen. An uns Zwölftklässlern haftet noch der Mief des Nicht-Geschafften. Wir sind der Jahrgang, der als Nächstes beweisen muss, was er kann. Ihr habt schon alles bewiesen. Ihr seid frei und ihr seid: sexy.« Alle lachten. Regina blickte zufrieden um sich. Wanda war ihre Tochter. Sie war sexy, und sie bekam heute den größten Applaus. Die Stehparty danach war eine Enttäuschung. Im Vorraum der Aula, zwischen Glaskästen mit fragwürdigen Robotern aus »wiederverwendbarem Hausmüll« und seltsam verrenkten Figuren aus Ton, hatten die Elternvertreter einen kleinen Sektausschank aufgebaut, außerdem vier Stehtische, die wahrscheinlich seit vielen Jahren für solche Gelegenheiten in einer Abstellkammer der Schule aufbewahrt wurden. Regina hatte sich schnell einen Sekt geschnappt und ließ ungeduldig ihren Blick schweifen. Die Eltern aus Antonias Jahrgang waren noch nie interessant gewesen. Frau Jansen, eine rothaarige Frau, die viel spannender aussah, als sie in Wirklichkeit war, kam auf Regina zu. Andreas und Antonia seien ja schon zusammen zur Schule gegangen, und jetzt machten sie zusammen Abitur, sei das nicht … toll? Sie habe die ganze Zeit die Tränen zurückhalten müssen. Ihr sportliches Gesicht durchflog ein Hauch Rührung. Regina war das völlig egal. Andreas war langweilig, Frau Jansen war langweilig, was spielte es da für eine Rolle, welchen Weg man da schon gemeinsam gegangen war. Herr Jansen kam hinzu. Er sah noch immer gut aus. »Musstest du auch weinen?«, fragte Regina ihn. »Ich? Was? Weinen? Nee, nee, nee, ich bin nicht nah am Wasser gebaut!« Herr Jansen sprach immer viel zu laut und war für Flirts leider unempfänglich. »Prost«, sagte Regina. »Ich geh mal zu meinen Töchtern.« Wanda stand an einem der Stehtische, umringt von ihren Freundinnen, der intelligenten E. M., der wunderschönen Katharina und der netten Imke. Ihr schöner, kluger, fantastischer Freund Markus hatte seinen Arm um ihre Taille gelegt. Regina breitete die Arme aus. »Mein Schatz! Tolle Rede! Alle Achtung!« Sie drückte ihre Tochter an sich. Wanda. Ihre Hoffnung, dass diese ganze Kinderkriegerei, diese Ehe, die beruflichen Opfer und das immer öfter hereinbrechende Gefühl der Leere nicht umsonst gewesen waren. Wanda, die ihr das Gefühl gab, vielleicht doch zu wahrer, selbstloser Liebe fähig zu sein. Wanda, der sonnige Pfeil, der Zukunft versprach und noch nicht von Vergangenheit umgeben war. »Das soll dir erst mal eine nachmachen«, raunte Regina in ihr Ohr. »So eine Rede nicht nur zu schreiben, sondern auch noch zu halten.« Arm in Arm standen die beiden Frauen da, Wanda hatte den Rücken durchgedrückt, aber suchte mit ihrem Blick Markus, um ihn nicht außen vor zu lassen. »Ähm, Mama, wir würden dann jetzt mal weiterziehen, ich übernachte bei Fairouz«, kam da eine vor sich selbst davoneilende Stimme von rechts. Antonia stand da, die weichen Schultern wie...