Buckel / Christensen / Fischer-Lescano | Neue Theorien des Rechts | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 500 Seiten

Buckel / Christensen / Fischer-Lescano Neue Theorien des Rechts


3. neu bearbeitete Auflage 2020
ISBN: 978-3-8463-5325-7
Verlag: UTB
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 500 Seiten

ISBN: 978-3-8463-5325-7
Verlag: UTB
Format: EPUB
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Moderne rechtstheoretische Fragestellungen im Überblick

Das vorliegende Lehrbuch gibt einen Überblick über moderne rechtstheoretische Fragestellungen. Diese werden vor dem Hintergrund der aktuellen Herausforderungen für das Recht vorgestellt. Die Autoren behandeln wichtigste Theorien im Kontext benachbarter Grundlagenfächer.

Die Neuauflage ist um sechs Abschnitte erweitert worden und bezieht nun auch Post-Juridische Theorien, Neuen Rechtsempirismus, Ästhetische Theorien des Rechts sowie Medientheorien des Rechts mit ein. Einzelne Abschnitte wurden gänzlich neu verfassst.

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Weitere Infos & Material


Vorwort V
Sonja Buckel, Ralph Christensen und Andreas Fischer-Lescano
Einleitung: Neue Theoriepraxis des Rechts 1
Erster Teil: Trennung und Verknüpfung von Recht und Politik
Peter Niesen und Oliver Eberl
Demokratischer Positivismus: Habermas und Maus 13
Thomas-Michael Seibert
Derrida und das Modell der Dekonstruktion 29
Kolja Möller
Systemtheorie des Rechts: Teubner und Luhmann 47
Hannah Franzki
Post-Juridische Rechtstheorien: Benjamin, Menke, Loick 67
Zweiter Teil: Rechtsverständnisse
Jochen Bung und Markus Abraham
Sprachphilosophie: Davidson und Brandom 87
Friedemann Vogel und Ralph Christensen
Neuer Rechtsempirismus 105
Nikolaus Forgó und Alexander Somek
Nachpositivistisches Rechtsdenken 123
Jörn Reinhardt und Eva Schürmann
Ästhetische Theorien des Rechts 139
Dritter Teil: Politik des Rechts
Andreas Fischer-Lescano und Gunther Teubner
Prozedurale Rechtstheorie: Wiethölter 157
Günter Frankenberg
Partisanen der Rechtskritik: Critical Legal Studies etc. 171
Sonja Buckel
Neo-Materialistische Rechtstheorie 189
Thomas Biebricher
Macht und Recht: Foucault 207
Sarah Elsuni
Feministische Rechtstheorie 225
Soraya Nour Sckell
Bourdieus juridisches Feld: Die juridische Dimension der sozialen Emanzipation 243
Vierter Teil: Fragmentierung und Responsivität des Rechts
Gianna M. Schlichte und Johannes Haaf
Medientheorien des Rechts 263
Malte-Christian Gruber
Psycho- und Neuro-Theorien des Rechts 283
Johan Horst
Ökonomische Theorien des Rechts 301
Fünfter Teil: Transnationaler Rechtspluralismus
Felix Hanschmann und Tim Wihl
Theorien transnationaler Rechtsprozesse 323
Miriam Saage-Maaß und Carolijn Terwindt
Recht im Kontext imperialer Lebensweise 341
Maxim Bönnemann und Maximilian Pichl
Postkoloniale Rechtstheorie 359
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 377
Personenregister 379
Sachregeister 381


|29|Derrida und das Modell der Dekonstruktion
Thomas-Michael Seibert Das praktische Recht hat einen doppelten Boden. Jeder, der die Justiz anruft und ihre Mittel nutzen möchte, hat zwar eine Vorstellung, in welche Richtung sie wirken soll. Oft kommt aber etwas anderes heraus als gedacht, und nicht selten erschlägt die Justiz diejenige, die sie zu Hilfe ruft. Strafprozesse wegen Vergewaltigung sind ein Beispiel dafür, dass sich die Justiz gegen diejenige wenden kann, die ihre Macht und Hilfe benötigt hätte. Was das praktische Recht anrichtet, kann seit hundert Jahren mit den Methoden der Rechtssoziologie untersucht werden. Seitdem es eine Rechtssoziologie gibt, existiert ein semiotischer Verdacht, der dahin geht, was als Recht ausgegeben werde, sei in Wirklichkeit nur ein verbrämtes Modell der Gewalt. Wer sich seitdem für das Recht zwischen Erkenntnis, Macht und Gewalt interessiert, muss mit diesem Verdacht umgehen. Man kann ihn bezweifeln, besänftigen, manchmal sogar zerstreuen, aber man wird ihn nicht los[92]. Wer Spuren lesen kann, verharrt in beständigem Fragen und in Zweifeln. Ein Modell dafür bietet die Dekonstruktion. Dekonstruktion ist der Einsatz, den man wagen muss, wenn man Zweifel hat: nach dem Unausgesprochenen fragen, Gründe umkehren und jede Umkehr der Gründe wieder verdächtigen, denn es kann etwas anderes als Recht dahinter stecken. (Juridische) Gerechtigkeit ist immer unterwegs. Sie verlangt nach Fragen. A. Zur Vorstellung der Fragen Der Philosoph der Fragen ist Jacques Derrida. Ganze Absätze seiner Texte bestehen aus Fragen und vergeblich sucht der Leser nach entsprechenden Antwortsätzen. Man muss sie erst noch selbst bilden. Derrida stammt aus Zwischenreichen, die Merkmale prägen: er war Jude, aber nicht religiös, Franzose, aber (Jahrgang 1930) aus Algerien mit der Folge, dass die französische Staatsbürgerschaft von Vichy-Frankreich 1942 aberkannt wurde, Philosoph, Leser klassischer Texte von Aristoteles und Plato, schreibender Autor, aber ständig in Vorträgen auf weltweiten Konferenzen präsent. Bereits im Jahre 1967 sind seine Programmschriften erschienen, nämlich die Husserl-Lektüre »Die Stimme und das Phänomen«, die den Primat der Lautlichkeit in der Sprache bestreitet, das Hauptwerk »Grammatologie«, das den Vorrang der Schrift begründet, und schließlich eine |30|Aufsatzsammlung unter dem Titel »Die Schrift und die Differenz«, mit der Derrida die herrschende strukturale Betrachtung auf Prozesse, die »im Kommen sind«, umstellt. Die Nietzsche-Lektüre bietet für Derrida im Jahre 1976 den Einstieg in eine grundlegende Rechtsfrage[93], die Juristen scheinbar beantwortet haben: Wer ist Autor einer Verfassung? Dass es »das Volk« sei, halten inzwischen auch die Juristen für eine dekonstruierbare Aussage, die nicht über Dekonstruktionen reden. Derrida bewegt sich programmatisch »vor dem Gesetz«, liest auf einem weiteren Kolloquium in Cerisy-la-Salle im Jahre 1982 die gleichnamige Kafka-Parabel über den Türhüter »Vor dem Gesetz« und übersetzt die Position des »Mannes vom Lande« als vorbeurteilt, vorverurteilt, vorurteilsverhaftet, fast unübersetzbar aus dem französischen Titel »Préjugés«[94]. Es folgen weitere Beiträge über den Zusammenhang von Recht und Philosophie, mit denen Derrida die Kantische Rechtslehre aufnimmt[95], es folgen lange Ausführungen über Nietzsches Politik der Feindschaft[96], und es folgt vor allem der für die Rechtstheorie programmatisch gewordene Vortrag über »Force of Law« vor der amerikanischen Critical Legal Society im Jahre 1989[97]. Markenzeichen für Derrida-Dekonstruktionen sind lange Textlektüren, die das Augenmerk auf sprachliche Feinheiten richten, Worte, Wortklänge, Assoziationen, die der eilige Leser nicht entdecken wird, mit denen aber dem gelesenen Text etwas Neues »aufgepfropft« werden kann. Diesen Ausdruck verwendet Derrida selbst[98] und er versteht sich gern als Gärtner, als Kultivator, der ein Reis aufpfropft und aus Altem Neues wachsen lässt. Wie dieses Neue aussehen wird oder wie lange es braucht, um zu wachsen, verrät der Meistergärtner aber an keiner Stelle. Was aufgepfropft wird, kommt langsam und ist – ein Grundton der dekonstruktiven Philosophie – »im Kommen«. Was das für das Recht heißen könnte, bleibt noch zu entdecken, und das muss man inzwischen ohne autorisierte Anleitung tun. Derrida starb schnell und unerwartet im Oktober 2004. Hinterlassen hat er ein semiotisches Modell für den Umgang mit Sprachzeichen, das Besonderheiten aufweist, wenn man nur übliche hermeneutische Traditionen kennt, in dem aber gerade Juristen fortlaufend arbeiten, ohne es zu wissen. Das Modell soll zunächst in einer der Dekonstruktion an sich nicht angemessenen Kürze dargestellt werden (B), ehe man fragen kann, was davon auf das Recht passt (C) und was in der Rechtslehre bisher diskussionsweise angekommen ist (D) mit einigen wenigen Lektürehinweisen am Schluss (E). |31|B. Die Dekonstruktion in fünf Operationen I. Gegensätze in Texten suchen Dekonstruiert werden fast immer Texte. Das mag erstaunen, weil Derrida sich durchaus allgemeiner philosophischer und lebensweltlicher Phänomene annimmt und die Freundschaft zwischen Menschen oder die Gabe des einen an den anderen untersucht. Für alle diese Lebensweltkonzepte präsentiert er aber schnell und ohne Umstände schon auf den ersten Blick problematische Texte. »O meine Freunde, es gibt keinen Freund« heißt der thematische Satz für die »Politik der Freundschaft«, der Aristoteles zugeschrieben wird[99], ohne dass Entstehung und Kontext klar wären, und ihm wird eine Ergänzung Nietzsches aus »Menschliches, Allzumenschliches« zugeordnet, die da lautet: Freunde, es giebt keinen Freund, so rief der sterbende Weise. Feinde, es giebt keinen Feind, ruf ich, der lebende Thor[100]. Beide Sätze zeigen auf den ersten Blick, wie die dekonstruktive Interpretation sich bewegt und vor allem: wie sie in Bewegung kommt. Sie sucht Gegensätze auf und versucht, sie so zu steigern, dass sie sich nicht friedlich nebeneinander vereinbaren lassen, sondern in möglichst großer Nähe einen scheinbar oder wirklich unauflöslichen Widerspruch herstellen. Wer wissen will, was Freundschaft bedeutet, soll zunächst einmal nach der Feindschaft suchen und überlegen, in welchen Zusammenhängen er wie oft Feinden begegnet. Wer nach der Rechtfertigung der Todesstrafe fragt, soll sich mit den Bedingungen der Begnadigung befassen[101]. Wer die Unabhängigkeit eines Staates fordert, ist aufgefordert, darüber nachzudenken, welchen Abhängigkeiten er oder sie folgen[102]. Wer in der Welt »Schurken« oder gar »Schurkenstaaten« denunziert, mag über das Gute und den guten Staat nachdenken, der möglicherweise in weiter Ferne liegt[103]. Das alles sind verhältnismäßig grobe Oppositionen und Supplemente, vor allem solche, die lexikalisch ohne große weitere Bemühungen auffallen. Freundschaft und Feindschaft, Abhängigkeit und Unabhängigkeit, Schurken und Gutmenschen, Todeskandidaten und Begnadigte – diese Paarbeziehungen sind klassisch. |32|II. Zu Paradoxa kondensieren Weniger klassisch ist die zweite dekonstruktive Bewegung, die Derrida unter Bezug auf Montaigne oder Nietzsche im Freundschaftsbeispiel augenfällig demonstriert. Man wird auf das Verhältnis der Supplementarität und auf die damit einhergehende Paradoxie in einem einzigen Satz gestoßen. Die Widersprüchlichkeit wird kondensiert an einer Stelle, an der man sie hören kann. Als Operation heißt das: Formuliere die Paradoxie und ziehe dabei den Widerspruch auf die deutlichst mögliche Form zusammen. Dazu darf man fernliegende, abseitige Methoden benutzen. Was sieht man, wenn man auf Europa sieht? Wie geht das überhaupt: auf Europa sehen? Von welchem Ort aus oder in welchem Medium lässt sich ein Erdteil überhaupt sehen? Da muss man schon eine Landkarte zu Hilfe nehmen, und wenn man über Phantasie verfügt, sieht man, dass Europa auf einer solchen Landkarte wie ein Kap aussieht oder wie eine Landspitze, die sich vor der viel größeren Landmasse des Kontinents Asien gleichsam in den Ozean schiebt[104]. Europa ist dann »ein Kap« so wie Afrika ins Kap der guten Hoffnung ausläuft oder Südamerika in Kap Horn mündet, und wenn Europa ein Kap ist, dann fragt man wegen des Gegensatzes nach dem »anderen Kap«. Eine solche Frage gelingt möglicherweise nur vor dem akademischen Publikum eines Kolloquiums über die kulturelle Identität Europas, vor dem Derrida im Jahre 1990 einen politischen Vortrag unter dem Titel »L’autre Cap«, also »Das andere Kap« hielt und nach dem Blick auf die Landkarte den Eindruck des Kaps auf das Wort übertragen hat, für das...


Fischer-Lescano, Andreas
Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano lehrt Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht u. Rechtstheorie an der Universität Bremen.

Christensen, Ralph
Dr. iur. Dr. phil. Ralph Christensen ist seit 1991 Repetitor für Öffentliches Recht bei Juristisches Repetitorium Hemmer Bonn für Sprachphilosophie und analytische Rhetorik. Neben der Dogmatik liegt sein Arbeitsschwerpunkt im Bereich von Rechtstheorie und Methodik insbesondere auch des EuGH.

Buckel, Sonja
Prof. Dr. Sonja Buckel ist Professorin für Politische Theorie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an der Universität Kassel.



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