E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Bugul Die Nacht des Baobab
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-293-30471-0
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Afrikanerin in Europa. Autobiografischer Bericht
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-293-30471-0
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weitere Infos & Material
Kens Vorgeschichte
Fode Ndao war es gelungen, die heißbegehrte Frucht loszuschlagen. Er brüllte vor Freude, als er sah, wie sie hoch aus dem Baum herunterfiel, in senfgelben Samt gehüllt, eine Farbe wie der Bauch eines Löwenjungen, eine Farbe wie die Savanne. Die Frucht fiel in Spiralen, schien in der Luft zu zögern, landete auf dem wurzelbedeckten Boden. Der kleine Fode hob sie vorsichtig auf, tastete sie ab, um festzustellen, ob sie im Sturz aufgeplatzt war. Die Frucht war unbeschädigt. »Komm schnell«, sagte er zu seiner Schwester Kodu. »Schau mal, wie lang sie ist, und diese Samthaut zeigt, dass sie reif und saftig sein muss. Du darfst die Früchte vom Baobab erst pflücken, wenn sie diese dunkle Farbe haben. Der Savannenwind und die Sonne haben sie dick und reif gemacht. Komm, wir essen sie gleich. Ich werde sie aufschlagen.« Sie gingen in den Hof zwischen den Hütten und fanden in einem leeren Vorratsschuppen einen ungestörten Platz. »Hol ein bisschen Wasser«, sagte Fode. »Und wenn du die Mutter um Zucker fragen kannst, dann machen wir uns daraus einen Fruchtsaft.« Fode Ndao streichelte die Frucht, bis der falsche Flaum auf der Schale ihn juckte. Er suchte sich einen Stein und kauerte sich auf die Fersen, den Oberkörper vornübergebeugt, neigte sich über die Frucht, die ihn faszinierte und erregte. Die Mutter bereitete gerade die Hirse für das Mittagsmahl vor, das sie dann aufs Feld tragen musste, zum Vater, der früh am Morgen mit den beiden großen Söhnen aufgebrochen war und den ganzen Tag fortblieb. Es war die Zeit des Pflügens vor der nächsten Aussaat von Hirse und Erdnüssen. »Mutter, gibst du mir Zucker?« bat Kodu, Fodes Schwester. Die Mutter hörte nicht. Sie saß auf einem Ziegenfell, eine Kalebasse zwischen den kräftigen Schenkeln, die seit dem Tag, an dem der Vater kam und seinen Heiratsantrag machte, schon so oft gebebt hatten, und war über der in Wasser eingeweichten Hirse eingenickt. Die eine Hand hielt das Gefäß, die andere steckte in der Hirse; ihre Beine waren entblößt, der Oberkörper nackt, und die Brüste hingen wie leere Beutel herunter. »Mutter!« Kodu legte ihr die Hand auf die Schulter. Die Mutter wachte mit einem Ruck auf. »Oh, was willst du?« »Ein bisschen Zucker für Fruchtsaft.« Sorglos fügte Kodu hinzu: »Fode hat die schönste Frucht vom Baobab heruntergeholt.« Die Mutter wurde ärgerlich. »Ah, jetzt reichts mir aber. Komm und hilf mir hier! Zünde das Feuer an, und hol den Kochtopf!« Sie zog die Kalebasse an sich und brummelte in sich hinein: »Oh Gott, womit hab ich das verdient, so eine Tochter, zu nichts ist sie nutze! Den ganzen Tag rennt sie mit den Jungen herum und fängt Vögel und Ratten.« Kodu wollte den Augenblick nutzen und sich davonmachen. »Oh nein, jetzt reichts, du bleibst hier, du Sündenmädchen. Zuerst rufst du mir Fode Ndao. Ich hab ihm schon einmal gesagt, er soll mir Holz hacken. Er ist auch ein Faulpelz, ich werde seinem Vater sagen, er soll ihn mit aufs Feld nehmen. Ein Mann, der daheim bleibt, hat man so etwas schon gesehen? Wird er nicht bald acht Jahre alt? Jetzt geh ihn holen, und komm sofort wieder, du nutzloses Ding, das nichts tut und nichts kann!« Die Mutter begann wieder, den Hirsebrei zu kneten, unterbrach sich plötzlich und rief Kodu zurück, die langsam zur Vorratshütte hinüber schlenderte und dabei spielerisch die Füße durch den feinen Sand schleifte, der die Schritte dieser Familie schon seit einer Generation trug. »Komm mal schnell her, mich sticht etwas im Rücken. Beeil dich, du Faulpelz!« Kodu kam zurück und beugte sich über sie. »Da unten, ach, was bist du dumm, ich hab gesagt, zwischen … daneben … und da …« »Aber Mutter, ich seh nichts, es ist nichts da«, sagte Kodu. »Dein Herz ist so schlecht.« Die Mutter schien verzweifelt. Sie ließ die Kalebasse mit einer Hand los, griff nach dem Besen und kratzte sich damit den Rücken. Kodu hatte schon kehrtgemacht und rannte zur Speicherhütte. Auch Fode war dabei, sich überall zu kratzen; die Samthaut der Baobabfrucht verursachte Juckreiz. »Ah, Kodu, da kommst du endlich, was hast du so lange gemacht? Wo ist der Zucker?« Er kratzte sich noch immer. »Du hast die Frucht angefasst, und jetzt schmierst du dir das juckende Zeug selbst überallhin. Fode, Mutter hat nein gesagt. Und du sollst kommen und das Holz hacken!« »Gut, dann machen wir den Saft eben später«, tröstete Fode sich notgedrungen. »Ich werde Mutter den Zucker klauen, ich weiß, wo sie ihn aufbewahrt.« Und der Tag verging mit kurzen Augenblicken der Fröhlichkeit oder des Träumens, mit Arbeit und Rast, bis die Nacht einfiel. Der Vater und die Brüder kehrten um die gleiche Zeit vom Feld zurück wie die Herde, die Mbunje, der Dorfhirte, den ganzen Tag lang in die Savanne zur Weide führte. Mit der Dämmerung breitete sich Erschöpfung aus. Dunkelheit hüllte die Instinkte und Träume ein. Dieser Augenblick. Die Stunde der Stille. Schatten. Träume. Die Welt ging schlafen. Die Mutter lag ausgestreckt auf der raschelnden Matratze; der älteste Sohn hatte sie vor einer Woche mit frischem Stroh gefüllt. Sie war müde, die Mutter: die Sonne, die reglose Luft, nicht die kleinste Brise, das Schneiden und Trocknen der Hirse, das Mahlen und Kochen für die Familie. Sie war jeden Abend die letzte, die sich schlafen legte, aber auch erst, nachdem sie nochmals nachgeschaut hatte, ob alles hereingeholt und aufgeräumt war. Diesen Moment, in dem nur Atemzüge sprechen und die Seelen in sich gekehrt sind, nutzte Fode, um noch einmal aufzustehen, leise wie die Nacht, seine Komplizin, und in die Kalebasse zu greifen, in der die Mutter den Zucker aufbewahrte. Er brauchte dazu beide Hände, und deshalb konnte er den Deckel nicht wieder schließen. ›Oh, das dauert zu lange, die Mutter wird aufwachen. Ich werde die Kalebasse einfach offen lassen und den Deckel morgen in aller Frühe wieder drauf tun, wenn die Mutter draußen im Hof ist. Sie steht immer als erste auf, bei Tagesanbruch, und geht gleich hinaus und öffnet den Hühnerstall und bindet die Ziegen los und geht melken, damit wir Milch für das Morgenmahl haben‹, dachte sich Fode und legte sich wieder hin. Der Quinquéliba-Tee, schon am Abend zuvor vorbereitet, wurde nun auf den glühenden Scheiten im Hof heiß, der im Sonnenaufgang heiter und hell wurde. Fode schlief noch; sein Vater rüttelte ihn: »Fode, Mann ohne Haltung, steh auf, Sündensohn!« Fode räkelte sich, und der Vater fuhr fort: »Wer hat die Kalebasse aufgemacht? Der ganze Raum ist voll Ameisen. Warst du das, der am Zucker war?« »Nein, ich hab nichts getan, du mein Vater«, antwortete Fode. »Aber wer hat dann die Kalebasse aufgemacht? Das ist doch seltsam, sie hat sich doch sicher nicht allein geöffnet!« »Vielleicht war es sie, meine Mutter«, sagte Fode etwas vorwitzig und unsicher. In diesem Augenblick kam die Mutter herein. »Wo ist der Zucker? Wo hab ich ihn nur hingetan? Und wo kommen all die Ameisen her?« Sie wurde zornig. »Fode, du warst das, du Sündendieb; gib sofort den Zucker her, oder du wirst etwas erleben. Der Zucker ist so schwer zu beschaffen und so schrecklich teuer. Du bekommst zur Strafe kein Frühstück.« Fode schämte sich. Er hätte gerne um Verzeihung gebeten und den Zucker zurückgegeben, der unter seiner Decke versteckt war, doch dann dachte er an den Fruchtsaft und schwieg. Die Sonne war so prächtig aufgegangen wie an allen anderen Tagen. Das Dorf Guye belebte sich, und mit einem Konzert aus Geräuschen und Stimmen begann das Leben neu. Fode nahm den Zucker, holte die Baobabfrucht aus der Vorratshütte und preschte wie ein junges Pferd davon zu seinem Vergnügen. Er schlug die Frucht auf einem Stein auf; die Schote öffnete sich wie ein Mund, der die Welt verschlingen will, und zeigte die im Fruchtfleisch eingehüllten Kerne. Fode lief das Wasser im Mund zusammen. Er holte ein wenig Wasser aus dem Krug, der immer vor dem Hoftor stand, damit jeder, der vorüberging, sich erfrischen konnte, falls er Durst hatte, oder seine rituellen Waschungen vornehmen konnte, wenn er sich unrein fühlte. Fode vermischte das Wasser, den Zucker, die Kerne und das Fruchtfleisch gleich in der Fruchtschale; er kostete ein wenig und verschluckte beinahe seine Zunge. Das war ein guter Saft, wie leichte, frische Sahne, von hellgelber Farbe, und die glatten Kerne schwammen darin herum. Fode behielt einen Kern im Mund und spielte mit der Zunge damit. Während Kodu ihr Frühstück aß, fragte sie sich, wo ihr Bruder geblieben war. >Geschieht ihm recht, er bekommt kein Morgenmahl; er wird auf der Schwertschneide ausrutschen, dachte sie. Aber sie wunderte sich, weil ihr Bruder sich nicht beklagte, und da fiel ihr der Fruchtsaft ein. Sie aß schnell fertig und lief davon. Die Mutter schalt hinter ihr her, sie solle zurückkommen und Fode holen, damit er Holz hacke. Der Vater und die ältesten Söhne waren schon früh aufgebrochen und hatten das Morgenmahl mitgenommen. Die Mutter fuhr wie im Selbstgespräch fort: »Sündenkinder, Kodu, ruf mir sofort Fode, gleich...