Buch, Deutsch, Band 15, 319 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 214 mm, Gewicht: 400 g
Reihe: Historische Politikforschung
Fallanalysen vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert
Buch, Deutsch, Band 15, 319 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 214 mm, Gewicht: 400 g
Reihe: Historische Politikforschung
ISBN: 978-3-593-38730-7
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
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Inhalt
Einleitung
Neithard Bulst, Ingrid Gilcher-Holtey, Heinz-Gerhard Haupt
Die Grafschaft Flandern im langen 14. Jahrhundert: Ansteckende Gewalt in einer urbanisierten Gesellschaft
angesichts der Krisen des Spätmittelalters
Marc Boone
Gewalt in der Jacquerie von 1358
Bettina Bommersbach
Obrigkeitliche Gewalt bei der Niederschlagung der englischen Erhebung von 1381
Helmut Hinck
Hinabgestiegen von den Barrikaden? Revolutionäre und gegenrevolutionäre Gewalt 1848/49
Rüdiger Hachtmann
Bierpreis, Brauer und Behörden Teuerungsproteste 1844 bis 1866 in München
Martina Engelns
"Gewalt" als Argument in der Marktkommunikation: Marktpolizei, Kornhandel und Versorgungssicherheit im französischen Departement Finistère, 1846-1867
Marcel Streng
Im Feld: Ein Beispiel außerinstitutionellen Protests in Japan
David E. Apter
Die "Gewaltfrage" an der Startbahn West
Freia Anders
Gewaltlosigkeit und Gewalt im politischen Raum. Die Übernahme antikolonialer Proteststrategien durch die britische Antiatomwaffenbewegung 1957 bis 1963
Steffen Bruendel
Autorinnen und Autoren
Der Gewaltbegriff aus der Perspektive einer Neuen Politikgeschichte
Um einer ubiquitären Verwendung des Gewaltbegriffs entgegenzuwirken, legten mit Beginn der neunziger Jahre auch Soziologen, die sich als "Innovateure" unter den Gewaltforschern bezeichneten, theoretische und empirische Studien zur Ausdifferenzierung des Gewaltbegriffs vor. Ausgangspunkt ihrer "neuen" Gewaltsoziologie, die "Gewalt als Tun" (von Trotha) akzentuierte, war die in Anlehnung an Heinrich Popitz vorgenommene Einengung des Gewaltbegriffs "auf eine Machtaktion, die zur absichtlichen Verletzung anderer führt". Ins Zentrum ihrer Analyse rückte die "Eigendynamik" von Gewalt, verstanden nicht nur als Prozess der Eskalation von Gewalt in Interaktionsprozessen - beispielsweise sozialer Bewegungen -, sondern als "Wesensmerkmal von Gewalt schlechthin" (Sofsky). Ihr Erkenntnisinteresse richtete sich auf die "entgrenzte" Gewalt, der "Motivlosigkeit" unterstellt wurde. Suchte die "Mainstreamgewaltforschung" nach dem "subjektiv gemeinten Sinn", den Täter mit ihrer Gewalttat verbinden, wiesen die "Innovateure" die Suche nach Motiven und Rationalitäten von Gewalt als zu deren Verständnis "kaum hilfreich" ab. Wenn Gewalt überhaupt einen Sinn habe, so ihre Hypothese, liege dieser weder "›vor‹ ihr (etwa in den Motiven oder Einstellungen der Täter), noch ›über‹ ihr (in dem ideologischen Überbau, einem höheren Ziel oder einer übergeordneten Funktion), auch sei er nicht ›unter‹ ihr (in der Sozialstruktur) zu finden oder gar ›außerhalb‹ ihrer (in sonstigen sozialen Bedingtheiten)". Wenn Gewalt überhaupt einen Sinn habe, so liege er "in der Figuration und Prozeßhaftigkeit der Gewalt selbst". Ob nun "Mainstreamgewaltforschung" oder "Innovationsansatz", Peter Imbusch weist darauf hin, dass die starke konjunkturelle Beschäftigung mit Gewalt "gravierende thematische Versäumnisse und strukturelle Defizite" aufweist, die in einer mangelnden Differenzierung zwischen individueller und kollektiver Gewalt begründet liegen. Bei der Kontroverse zwischen "Innovateuren" und "Mainstreamgewaltforschung" handelte es sich um Positionskämpfe im soziologischen Feld, die um die Frage geführt wurden, welches die "legitime" Vorgehensweise der Gewaltforschung sein sollte. Die konkurrierenden Positionen schließen sich aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive keineswegs aus. Allein die Fragestellung und das Erkenntnisinteresse entscheiden jeweils, welcher der Ansätze als analytischer Bezugsrahmen für die historisch-empirische Untersuchung gewählt werden kann.
Geht man von der Perspektive einer Neuen Politikgeschichte aus, die das Politische als Kommunikationsprozess definiert, der die Regeln des Zusammenlebens, Machtverhältnisse oder Grenzen des Sag- und Machbaren thematisiert, ist Gewalt ein konstituierendes Element des Politischen in dreierlei Hinsicht: als Gegenstand, Auslöser beziehungsweise Endpunkt sowie als Medium politischer Kommunikation. Es stellt sich die Frage, inwiefern die An- oder Abwesenheit von Gewalt politische Kommunikationsprozesse beeinflusst beziehungsweise welche Rolle gewaltsame Ereignisse für die Institutionalisierung und Ausprägung politischer Kommunikation spielen. In den Blick der Analyse treten "Verhaltensweisen von Personen, die Gewaltakten beiwohnten und durch ihre Zustimmung oder ihre Ablehnung gewaltsame Handlungen beeinflussten, sie legitimierten oder gar radikalisierten". Wenn Gewalt als Kommunikationsakt an Dritte verstanden wird, gewinnt die Form der Gewaltausübung, die in "dichter Beschreibung" erfolgen kann, eine spezifische Bedeutung für die Analyse des Politischen. Dadurch ergibt sich eine veränderte Perspektive auf ihre Ziele. Gewalt wird nicht nur als Infragestellung der Legitimität des Gewaltmonopols verstanden, sondern auch als Herausforderung der Gesellschaft und sozialer Gruppen, die nicht über den Einsatz staatlicher Gewalt entscheiden. Gewalt wird als Medium gefasst, das soziale Missstände akzentuieren und dramatisieren sowie Individuen und soziale Gruppen zur Stellungnahme provozieren kann. Kommunikation durch und über Gewalt kann die Konfliktkonstellation in personaler und thematischer Hinsicht erweitern oder verengen.
Der Begriff der Gewalt kann sich im Prozess der Kommunikation durch und über Gewalt verändern. Damit verändern sich auch die Klassifikations- und Wahrnehmungskriterien von Gewalt. Wenn "politisches Handeln" dort beginnt, wo Akteure herrschende Wahrnehmungsschemata und Klassifikationsmuster in Frage stellen, durch subversive oder performative Diskurse Zeichen setzen, welche die Aufkündigung des stillschweigenden Einverständnisses signalisieren, Situationen oder Ereignisse redefinieren, alternative Bezugswerte oder Leitideen formulieren und damit der etablierten Ordnung eine mögliche andere Ordnungskonzeption entgegensetzen, bieten die Auseinandersetzungen mit dem Gewaltbegriff ein exemplarisches Untersuchungsobjekt, um das Politische als Kommunikationsprozess zu erfassen.