E-Book, Deutsch, 214 Seiten
Burkard Zwischen Bomben und Besatzung
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-17-041020-6
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stadt und Universität Tübingen (1943-1946)
E-Book, Deutsch, 214 Seiten
ISBN: 978-3-17-041020-6
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie erlebte das akademisch-bürgerliche Milieu der Universitätsstadt Tübingen die letzten Phase und das Ende des Zweiten Weltkriegs, Einmarsch und französische Besatzungsmacht, Entnazifizierung und Neubeginn? Die hier vorgelegten privaten Briefe thematisieren Stadt, Universität und besonders die Katholisch-Theologische Fakultät Tübingens in den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren. In ihrer Unmittelbarkeit gewähren sie einen intimen Einblick in die Stadtgesellschaft, die Umbrüche an der Universität und die großen Herausforderungen des alltäglichen Lebens.
Der Herausgeber hat die "Tübinger Briefe" sorgfältig kommentiert. Alle erwähnten Persönlichkeiten werden näher vorgestellt. Zu den Professoren finden sich ausführliche biographische Informationen im Anhang.
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Einleitung
Kriegsende – Besatzung – Neubeginn
Das Kriegsende kam für Tübingen am 19. April 1945. Von Seebronn bei Rottenburg aus rückten französische Truppen frühmorgens in der Universitätsstadt ein. Das Ende des Krieges, und damit auch das Ende der nationalsozialistischen Diktatur, hatte sich freilich – erhofft und gefürchtet – schon lange abgezeichnet. Monate hindurch hatte Tübingen Schwärme feindlicher Bomber über sich hinziehen sehen, hatte in fast permanentem Luftalarm gelebt, hatte Meldungen von zerstörten Nachbarstädten (Reutlingen, Stuttgart, Pforzheim) gehört und selbst den einen oder anderen Treffer erhalten. Auch das alltägliche Leben hatte sich längst verändert: Seit September 1939 waren viele Evakuierte nach Tübingen gekommen, Ende April 1945 waren es 6.077 Flüchtlinge. Wohnungsnot und zahllose Einschränkungen prägten den Alltag. Auch die Universität befand sich seit Beginn des Krieges in einer Art Ausnahmezustand. Ein reduzierter Lehrkörper, zum Kriegsdienst eingezogene Studenten, Todesnachrichten, die Übersiedelung und Eingliederung fremder Institute, zuletzt noch der »Reichsuniversität Straßburg«, in die Tübinger Universität. »Sommersemester 1944: das Kriegsgeschehen kam im Osten wie im Westen den Reichsgrenzen näher. Bomberschwärme zogen am hellichten Tag über Tübingen hinweg, während auf der ›Rennbahn‹ (Wilhelmstraße) noch ein Betrieb herrschte, als ob uns das alles nichts anginge. Man wollte es in der Tübinger Idylle noch nicht so recht wahrhaben, was sich da nun bedrohlich zusammenbraute. [...] Das Wintersemester 1944/45 war mit Abstand das schlimmste Kriegssemester. Die Kriegslage brachte einen akuten Kohlenmangel mit sich. Die Neue Aula blieb wochenlang ungeheizt. Der bescheidene Vorlesungsbetrieb spielte sich in Privathäusern, Warteräumen der Kliniken und anderen Notunterkünften ab. [...] Die Fronten rückten näher. Das Gespenst des Volkssturms tauchte auf. Das studentische Leben, die Aktivitäten der Fachschaft – im Sommersemester 1944 noch so hoffnungsvoll angelaufen – erstarben, schon der vielfach gestörten Zugverbindungen wegen. Das Reisen war niemandem mehr zuzumuten. Es ging jetzt ums Überleben«.1 Mit dem Kriegsende und der Besatzung kam auch die Schließung der Universität. Es folgte als wohl einschneidendste Maßnahme die »Épuration« des Lehrkörpers, die auch nach der erstaunlich raschen Wiedereröffnung der Universität am 15. Oktober 1945 weitergeführt wurde. Verschiedentlich wurde versucht, ein Bild von Stadt und Universität des Jahres 1945 zu zeichnen. Als wichtigste Quelle gelten die Aufzeichnungen des Journalisten Hermann Werner (1880?–?1955)2, der 1950 mit der Abfassung einer städtischen Nachkriegschronik beauftragt worden war. Die Ereignisse lagen damals erst wenige Jahre zurück und so konnte Werner en gros aus Zeitzeugenberichten schöpfen. Unter den von ihm Befragten war auch der damalige Tübinger Oberstaatsanwalt Richard Krauß (1897?–?1978)3. Dieser riet Werner zwar zum Sammeln, warnte aber vor einer Darstellung, weil er die Zeit dafür noch nicht gekommen sah: »Er rät von einer Veröffentlichung über die Vorgänge der letzten Tage von Tübingen wie auch über die Anfänge der Besatzungszeit dringend ab. Mit dem ersten steche man in ein böses Wespennest und habe bei der Empfindlichkeit der Beteiligten sicher mit anschließenden Beleidigungsklagen zu rechnen [...]. Es seien da so viele Legenden und jeder der als Retter Hervorgetretenen habe auch Absichten ganz anderer Art verfolgt, es menschele da überall, [...] die Berichte seien alle weniger streng nach der Wahrheit geschrieben denn zur Verteidigung oder Herausstellung der eigenen Person«.4 Werners »Chronik«5 ermöglicht einen zuverlässigen Überblick über die Ereignisse des Jahres 1945, gewährt auch anschauliche Einblicke in die letzten Kriegsmonate sowie die ersten Monate der »Besatzung« und des demokratischen Neuanfangs. Allerdings ist in seiner Darstellung der Eindruck des Unmittelbaren schon nicht mehr gegeben. Ähnliches gilt für die durch Wolfgang Sannwald herausgegebenen Sammlung von Beiträgen über die Besatzungszeit im Landkreis Tübingen, in der neben einzelnen Ortschaften auch Tübingen und seine Universität behandelt werden.6 Auch sie schöpft aus erinnertem Erleben. Seit 2002 liegt ein illustrativer Band über Tübingen als ›Hauptstadt‹ des Landes Württemberg-Hohenzollern zwischen 1945 und 1952 vor, der sich vor allem auf Zeitungsberichte stützt.7 Dazu kommen noch historiographische Studien, die nicht mehr den unmittelbaren Impetus der Zeitzeugen vorweisen. Die Zeit des Nationalsozialismus ist inzwischen gut aufgearbeitet.8 1978 wurde eine grundlegende Arbeit über die Okkupation Tübingens gefertigt;9 inzwischen liegen weitere Darstellungen vor.10 Das Problem der Entnazifizierung in Württemberg-Hohenzollern wurde 1981 erstmals monographisch untersucht.11 Für die Universität Tübingen selbst gibt es für die Zeit des Umbruchs 1945 noch keine monographische Studie. Hinweise finden sich jedoch nicht nur zahlreich in den bereits erwähnten Publikationen, sondern auch in der grundlegenden Untersuchung von Uwe Dietrich Adam über die Tübinger Universität im Nationalsozialismus12 sowie in den von Urban Wiesing und anderen 2010 herausgegebenen Studien und in weiteren Aufsätzen zur selben Thematik.13 Eine frühe Skizze hatte schon 1978 Angus Munro vorgelegt.14 Wichtig sind ferner die grundlegenden Arbeiten von Wolfgang Fassnacht und Stefan Zauner über die Hochschulpolitik in der französischen Besatzungszone.15 In den hier vorgelegten Briefen wird nicht nur die Tübinger Universität als Ganze häufig angesprochen, sondern in besonderer Weise deren Katholisch-Theologische Fakultät. Dies hat seinen Grund in den beiden Korrespondenzpartnern. Über das Schicksal dieser Fakultät im Krieg und ihren Neubeginn nach 1945 ist bislang wenig bekannt.16 So sind die hier vorgelegten Briefe zugleich Bausteine für eine künftige Darstellung. Die Korrespondenzpartner
Adressat der hier vorgelegten Briefe war Paul Simon (1882?–?1946)17, von 1925 bis 1933 außerordentlicher Professor für Scholastische Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen und 1932–1933 der letzte frei gewählte Rektor der Universität. In den letzten Wochen seiner Amtszeit wurde ihm von der neuen, nationalsozialistischen Regierung Württembergs mit Privatdozent Gustav Bebermeyer (1890?–?1975)18 ein »Kommissar« zur Seite gestellt, der als »Beauftragter mit besonderen Vollmachten an der Universität« der Regierung gegenüber die »Einstellung der Universität auf die hohen Ziele des begonnenen großen Werks einer Staats- und Kulturerneuerung im nationalen Sinne« durchführen sollte. Der Wechsel im Rektoratsamt erfolgte am 1. Mai 1933 zwar ordnungsgemäß, er ließ jedoch bereits etwas erahnen von der Zukunft der Universität im ›neuen Staat‹. Während Simon als scheidender Rektor in Gegenwart von Ministerpräsident und Kultminister Christian Mergenthaler (1884?–?1980)19 die Hochschule zwar »in den Dienst des großen Ganzen« stellte, aber auf ihre besonderen wissenschaftlichen Aufgaben hinwies und insbesondere das Recht auf Selbstverwaltung sowie das Prinzip der Selbstergänzung des Lehrkörpers verteidigte, fuhr Mergenthaler eine Attacke gegen die »Objektivität« und »Neutralität« der Hochschule – und kündigte einen »neuen Geist« an.20 Abb. 1: Professor Paul Simon, Philosoph, als Rektor der Universität, 1933 Nur wenige Wochen später, im Juli 193321, verließ Simon nicht nur Tübingen, sondern auch das akademische Lehramt, um einem Ruf des Paderborner Domkapitels Folge zu leisten, welches ihn zum Dompropst gewählt hatte. Der Abgang Simons war wohl nicht ganz freiwillig. Spekuliert wurde über eine mögliche jüdische Abstammung22; auch seine bekannte, enge Freundschaft mit dem Zentrumspolitiker Heinrich Brüning (1885?–?1970)23, der in der wirtschaftlich und politisch schwierigen Zeit zwischen 1930 und 1932 das Amt des Reichskanzlers innehatte und Simon häufig in Tübingen besuchte24, dürfte eine Rolle gespielt haben25. Klar ist jedenfalls, dass Simon die Paderborner Wahl nur »angesichts der damaligen Lage«26 annahm. Gegenüber dem Paderborner Erzbischof formulierte er am 24. Mai 1933 so: »In der Universität ist die Gemütlichkeit zu...