E-Book, Deutsch, Band 15, 320 Seiten
Reihe: edition fünf
Burkart Grundwasserstrom
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-942374-62-0
Verlag: edition fünf
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 15, 320 Seiten
Reihe: edition fünf
ISBN: 978-3-942374-62-0
Verlag: edition fünf
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Was wir äußern in Briefen, Gesprächen, ist nicht mehr als die Spitze des Eisbergs. Unter Wasser zieht, was uns umtreibt.' In diesem Buch fügen sich kostbare Weisheiten zu einem poetischen Vermächtnis, das Antworten auf Fragen des Lebens und der Kunst gibt. Mal eine Zeile lang, mal mehrere Seiten umfassend, dokumentieren sie die geistig-seelische Vita einer nachdenklichen, klugen, ja weisen Autorin. Kein Buch, das man von vorne bis hinten durchliest, sondern eines, das man immer wieder zur Hand nimmt.
Erika Burkart (1922-2010) schrieb Prosastücke, Romane und vor allem Lyrik. Sie lebte mit ihrem Mann Ernst Halter in einem alten Äbtehaus in Aargau, das mitsamt seinem 'Gartenparadies' eine wichtige Rolle in ihrem Werk spielt. Die Schweizerin gilt als eine bedeutendsten Lyrikerinnen im deutschsprachigen Raum. Ihre letzten Gedichte sind bei Weissbooks neu erschienen. 2012 wäre sie 90 Jahre alt geworden.
Autoren/Hrsg.
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»Stellen Sie sich vor, wie sie jemandes Bewegungen – oder Reglosigkeit – ohne Wissen jener Person interpretieren.« Joseph Brodsky Der Anstand (Takt) zu schweigen, auch wenn man weiß und leidet an dem, was man weiß. Die davon leben, daß sie »bedeutende« Leute kennen, dies auch gerne anführen im Gespräch. Die viele kennen, erkennen selten die wenigen, die sich aus »guten Beziehungen« zurückziehn zugunsten von zwei, drei verbindlichen Freundschaften. Gesellschaft und Vergesellschaftung: dem andern bist du ein Gerücht, ein evtl. einzusetzender, Erfolg versprechender Faktor (Macher), mehr nicht. Gerüchte sind der trübe Schaum entstellter Wahrheiten. Dezemberschlaf. Von Kopf bis Fuß spüren, wie der Schlaf auf die Schwelle tritt, hinter sich die offene Türe in ein Dunkel, vor dem ich mich nicht fürchte. Indes er sich nähert, senken sich die Lider, nehme ich mich zurück, werde ich zurückgenommen, nimmt die Leuchtkraft der Nachtlampe ab, das Licht verglimmt wie ein Stern, über den eine erst durchsichtige, dann dichte Wolke kommt. Es dämmert, »wird Nacht im Haus«, langsamer zieht der Strom, verschwindet unter der Erde, ist ein Grundwasserstrom, ein silbernes Wasser in einem fremden Land, noch blinken einzelne Kiesel, funkelt ein Gedanke auf, glitzert eine Schuppe. Es sind nicht Körner, die der Sandmann streut, Flaum flockt aus seinen lautlos wehenden Ärmeln, lauer grauer Schnee schneit mich ein, gelassener pocht das Herz, tiefer lotet der Atem, am längsten wach bleibt die Stelle, der Brennpunkt im Hirn, wo, fern dem ruhenden Rumpf, den wie in einem Mutterwasser gelösten, vom Bewußtsein abgelösten Gliedern, etwas nach einem Satz sucht, einem Wort sucht, Wort sucht … das Wort findet, das zurückgleitet, abwärts einwärts, um eingesogen, ausgewischt zu werden. Am Rand der Ebene treten meine Toten ins Bild, gehen im Schnee, die Ebene bebt. Unter den Lidern dreht sich der Himmel. Aurora borealis; dann ein elektrischer Schlag. Der Flügel des Schlafs hat mich berührt. Der Schmerz. Eine gezielte, eine zentrale seelische Verletzung entwurzelt den Betroffenen und bewirkt, wird der Schmerz nicht in absehbarer Zeit bewältigt, eine Verstörung des Gemüts, die sich zu einer Art Schuldgefühl verzerren kann. Man weiß schon nicht mehr, hat der andere, hat man selbst gefehlt. Die Ursache, die den Schmerz auslöste, geht vergessen. Vereinheitlichendes Dunkel schwärzt was immer ein und läßt jeden Gegenstand als bedrohlich und jeden Menschen als Feind oder Fremden erscheinen. (Der Wahnsinn, der von ihrem Geliebten verlassenen Mademoiselle H.; face en face erkennt sie ihn nicht mehr. Im Trauma des Schmerzes hat sich das Bild des Vermißten getrübt oder verklärt bis zur Abspaltung vom wirklichen Menschen. Keine Realität vermag eine idée fixe zu korrigieren.) Jeder tiefste Schmerz konfrontiert den Heimgesuchten mit dem eigenen Schatten, doch: … »ogni cosa nel dolore / Ha una speranza strana.« Silvio Aman. »Was hört denn nicht mit Schmerzen auf.« Hugo von Hofmannsthal Häufiger als einst (man kennt mehr Leute, der Gesichtskreis hat sich erweitert, der Blick geschärft) glaube ich bei Menschen, fremden und bekannten, Ähnlichkeiten wahrzunehmen mit Personen aus meinen frühern Lebensepochen. Blitzartig fallen mir die schwebenden Gleichungen auf, senkt die Person mir gegenüber den Kopf, zuckt eine Braue, verzieht sich ein Mundwinkel, trübt oder klärt die Dämmerung die Züge. Ob die (in meinen Augen) Mienenverwandten analoge Charakterzüge aufweisen? – Unter einem sehr persönlichen Aspekt entstehen Familien, deren Angehörige nichts voneinander wissen. (Man kann sich den Blickwinkel selten auswählen, unter dem man den andern erscheint.) Nebst den offenbaren, kaum zu übersehenden Ähnlichkeiten stelle ich unter der Oberfläche verborgene, geheime Entsprechungen fest. Die von der Mode nicht unabhängige »Maske« (Frisur, Bart, Schminke, Mimik, Verhalten) unseres Alltaggesichts kann Provokation sein, Wunschbild, Versteck, Tarnung, Zurschaustellung oder Understatement. Es gibt extrem nackte Gesichter, die maskenhaft wirken, und »verhüllte«, über deren Offenheit man staunt. (Das Geheimnis der Wahrhaftigkeit.) Verhindert das Tragen eigengewachsener, den Forderungen der jeweiligen Zivilisation angepaßter Masken Zusammenstöße, wie sie, unberechenbar explosiv, erfolgten, zögen wir uns nicht hinter die »Beherrschung« mimende Maske zurück? Keiner Maske bedürftig und keiner Verstellung fähig sind nur die Seligkeit und der tiefste Schmerz. – Die goldene Maske des Todes schützt. Schale in Schale finden sich darunter weitere Vermummungen. Die letzte, innerste Maske besteht aus Knochen und hat anstelle der Augenschlitze Löcher, durch die du nichts siehst, die Goldmaske des Todes verbirgt das Nichts. … Und wenn ich ihnen, den Mienenverwandten abwesender oder verschollener Freunde, freundlich zunicke, vertraut in die Augen schaue, ahnen sie nicht, daß ich im Grunde, ja Herzensgrund, ein anderes Gesicht grüße. Vielleicht eins, das es nirgends mehr gibt, ein Antlitz aus Asche und Staub, erhalten in meinen Hirnwindungen, Zug und Ausdruck, Substantielles und Seelenhaftes untrennbar. Meine Fingerspitzen bewahren die lebendige warme Haut, Eigenheiten und Struktur des krausen, des glatten Haars, das innere Auge sieht Farben, meine Lippen berühren einen Mund, aus dem die in mir abrufbare Stimme dringt. In Analogien der Natur weilen, irritierend und oft täuschend, auch enttäuschend, die Toten und Fernen unter uns. – Wer hinter die Maske schaut, wird zum Zusammen-Schauer. (Alterssyndrom? Festzustellen auch bei »Verrückten«, die alles auf alles beziehn, eigenwillig lückenhaft.) Unter den Vögeln sind die Corviden die Magier. Es wunderte dich nicht, wenn die Krähe im Schnee zu sprechen begänne. Ihr Flügelabdruck ist eine Botschaft. Auf die Illusion, den Krähen sei nicht entgangen, daß ich mich mit ihren Verwandten, den Raben, beschäftige, verzichtet die Vernunft. Ist sie im Unrecht? Kennt sich, in diesem Fall, der animalische Instinkt besser aus? Denn häufiger, scheint mir, flattern und kreisen die Verzauberten um das alte Haus, seit ich die Abende mit Bernd Heinrichs Bericht Die Seele der Raben verbringe, und länger verweilen sie in den toten Wipfeln der firstüberragenden Robinien, die keinen Schutz gewähren, fährt die Bise ein. Noch bevor wir zu frühstücken beginnen, stellen sich unsere drei (warum stets drei?) Revierkrähen ein und halten, Schnabel nach Westen, in den zackigen Ästen der im Wipfel abgestorbenen Robinien Ausschau. Lustvoll lassen sie sich schaukeln von den knarrenden knöchernen Zweigskeletten. Noch belaubt, trugen die Astgabeln einst die Reisignester der auf der Moräne ansässigen Krähen. Haben wir das Mahl beendet, heben sich zwei Vögel weg, die dritte Krähe fliegt ihnen nach oder setzt sich ab in anderer Richtung. Eingedenk des Treuen Johannes, schaue ich ihr nach. Dem todesmutigen Schweiger haben die Nornen weissagt in Rabengestalt. Vom Idyll einer auf Sichtkontakt erpichten Krähentrinität, die einem Menschenpaar von Baum zu Raum beim Frühstück Gesellschaft leistet, findet sich nichts in Büchern, die uns ernstlich über das Eigenleben und die Rituale der tuscheschwarzen, todesschwarzen Vögel unterrichten. In der Welt der Krähen bin ich ein Störfaktor: am Fenster oder im Garten präsent, figuriere ich als der nicht geheure Schatten, auf den sie einander, verärgert, ja empört krächzend, aufmerksam machen, und ich verstehe, daß ich mich, auf »unsern« Gartenwegen gehend, in ihrer Sicht auf fremdem, allein ihnen zustehendem Boden befinde. Auch hier sind überlagernde, durchdringende Lebensbereiche. Wir wissen nie, wo wir in Wahrheit sind und wessen Lebens- oder Totenpfade wir kreuzen. Die Kundgebungen ihres Unwillens signalisieren Gefahr. Hellhörig für Warnrufe, reagieren die schattenwerfenden Vögel. Flügelknattern, aufgeregtes Flattern: die kleine Schar zieht feldein. Ob es stets dieselben Krähen sind, die sich seit Jahren auf unsern Bäumen niederlassen? Ist unsere Baumburg angestammter, von Generation auf Generation vererbter strategischer Hochsitz: wo fourieren wir heute? Welcher Acker wurde umgebrochen? Woher weht der Wind? Wohin trägt er? Eines Abends, während ich las, wurde ich aufgeschreckt durch nahe, befremdend rauhe, schauerlich hohle Kroahh-Rufe, denen aus dem Moränengehölz eine durch die Distanz gedämpfte Klage antwortete. Mir war, es seien gar keine Rabenresp. Krähenvögel, die diese Vorweltlaute ausstießen, sondern Dämonen, die Einlaß begehrten, um ihr Nevermore zu schnarren, das einzige Wort, das die Schicksalskundigen für die Menschen haben. Joseph Brodsky erzählt in seinen Petersburger Erinnerungen von einer Krähe, die sich anläßlich des Todes der Mutter im Garten seines amerikanischen Exils einstellte. Nach einem Jahr, beim Tod...