Byrne | Die Brücke | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

Byrne Die Brücke

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-16260-3
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

ISBN: 978-3-641-16260-3
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine bessere Zukunft?

Wir schreiben das Jahr 2068: Die Vereinigten Staaten und Europa sind in die Bedeutungslosigkeit gefallen, Indien und Äthiopien dagegen die stärksten Wirtschaftsmächte der Welt, deren Mega-Cities ständig mit Energie versorgt werden müssen. Zu diesem Zweck wurde der TRAIL erfunden - eine gigantische schwimmende Pontonbrücke, die über das Arabische Meer verläuft, Indien mit Äthiopien verbindet und Sonnenlicht in Strom umwandelt. Doch der TRAIL ist auch die letzte Hoffnung für die, die in den pulsierenden Riesenstädten Indiens keinen Platz mehr finden: Sie wandern über den TRAIL nach Afrika - für sie ist er die Brücke in eine bessere Zukunft. So wie für Meena und Mariama, die einander nicht kennen, aber deren Schicksal auf vielfache Weise miteinander verknüpft ist ...

Monica Byrne wurde in Harrisburg, Pennsylvania, als das jüngste von fünf Kindern geboren. Sie studierte Biochemie am Wellesley College und Geochemie am MIT. Sie arbeitete in den verschiedensten Berufen, bevor sie ihre wahre Berufung im Schreiben fand. Inzwischen hat sie mehrere Theaterstücke und ihren von der Presse gefeierten Debütroman Die Brücke veröffentlicht. Monica Byrne lebt und arbeitet in Durham, North Carolina.

Byrne Die Brücke jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


DIE DRITTE FLUCHT In diesem Moment fängt die Welt neu an. Ich hebe meine Kurta vom Boden auf und schlüpfe wieder hinein. Der blutige Stoff klebt an meiner Haut. Ich bin in einer Seifenoper gelandet. Das kann nicht die Wirklichkeit sein. Ich gehe durch den Flur zurück zur Küche und betaste die Wunden, um zu sehen, wie tief sie sind. Ich bin in Panik. Auf der Suche nach einem Messer zerbreche ich noch mehr Glas. Dabei fällt mir ein, dass mir in Muthashis Klinik schon einmal eine solche Wunde begegnet ist. Damals kam ein kleines Mädchen zu uns, das an einer ungewöhnlichen Stelle, nämlich über dem Solarplexus, in der Vertiefung unter ihren noch unreifen Brüsten, von einer Schlange gebissen worden war. Ich half, Salbe aufzutragen und einen kreuzförmigen weißen Verband anzulegen. Danach sah sie aus wie eine kleine Kreuzritterin. Ich werde ganz ruhig. Genau das Gleiche ist mir passiert. Ich weiß nicht, wer mir die Schlange ins Bett gelegt hat. Ich weiß nur, dass ich auf der Stelle von zu Hause fort muss, weil mir hier jemand nach dem Leben trachtet. Es könnte Semena Werk sein. Die Organisation behauptet zwar, lediglich humanitäre und keine terroristischen Ziele zu verfolgen, ich habe jedoch gehört, dass sie auf dem Weg nach Süden ist und in Keralam aktiv werden will. So viel Fantasie entwickelt man dort allerdings für gewöhnlich nicht; eine Schlange im Bett, das ist neu. Und schon ertönt Mohinis Stimme in meinem Kopf. Sie hält mir vor, ich würde bloß wegen meiner Familiengeschichte den Äthiopiern die Schuld geben, obwohl ich noch keinerlei Informationen hätte. Ihre Stimme ist nicht zu überhören. Ich muss mich alle paar Sekunden wieder daran erinnern, dass wir nicht mehr zusammen sind. Wir hatten eine Heldenfahrt als Liebespaar geplant, nach dem Vorbild von Sita und Rama, Beren und Lúthien oder Alexander und Hephaistion. Nun muss ich wohl alleine reisen. Ehe ich michs versehe, stehe ich an der Küchentheke und greife nach meiner großen Tasche, in der sich mein Sichter, der Mitter und etwas Bargeld befinden. Dann trete ich aus der Tür und gehe um das Pookalam herum, das wir eigenhändig angelegt hatten. Für jeden hohen Festtag pflanzten wir einen neuen Blütenring. Am Ende der Treppe erreiche ich das Eisentor, öffne es und stehe schließlich an der Straße, die vom Monsunregen dampft. In der Ferne krachen Schüsse. Mohini sagt: Beruhige dich. Das sind bloß Knallkörper. Irgendwelche Kinder feiern vorzeitig Onam. Du hast recht, antworte ich. Ich bin außer mir, ich weiß es selbst. Durch meine Adern fließt kein Blut, sondern pures Adre­nalin. Ich marschiere los und beobachte die Schwaden, die vom Asphalt aufsteigen; ihre greifbare Realität lässt mich ruhiger werden. Doch als es erneut zu regnen beginnt, flüchte ich in meinen Kopf zurück. Wenn ich allein auf diese Reise gehen will, muss ich mich wieder daran gewöhnen, solo zu sein. Ich habe gern andere Menschen um mich, allerdings nur solche, vor denen ich mich nicht zu rechtfertigen brauche. Ich bin ein schlichtes Gemüt. Tu Gutes, sei gut, und du fühlst dich gut. Ich lasse die Kathedrale hinter mir zurück, nun ragen zu beiden Seiten der Straße die steinernen Mauern der Altstadt auf. Ich falle in Laufschritt. Meine Tasche hüpft auf meinem Hintern auf und ab. Ich bin völlig durchnässt. Nasser kann ich nicht mehr werden. Zweige von gelber und pinkfarbener Bougainvillea schlagen mir ins Gesicht, und ich hebe den Arm, um mich zu schützen. Noch ein guter Grund, meine Heimat zu verlassen: Hier ist einem ständig irgendwas im Weg. Zum Beispiel die Kletterpflanzen. Und selbst wenn es nicht regnet, ist die Luft im Süden so dick, als würde man Kokosmilch atmen. Die erste Etappe liegt klar vor mir. Ich muss nach Norden, nach Mumbai, um mich umzuhören, denn dort gibt es eine größere Gemeinde von äthiopischen Migranten. Ich habe vom College her noch Freunde in der Stadt – Mohan aus der Campus Alliance for Women, Ashok aus dem Seminar für indische Literaturen, Deepti vom Rugby. Ich glaube, sie wohnt in einem der noblen Hochhäuser unweit vom Taj, wo man zum Duschen Regenwasser sammelt. Während ich mir vorzustellen versuche, wie Deepti mit ihrem muskulösen Körper nackt unter der Dusche steht, wird mir bewusst, dass ich mich bereits dem Vaddukanatha-Tempel im Stadtzentrum nähere. Die letzten zehn Minuten sind mir einfach abhandengekommen. Ich schweife oft ab, besonders wenn ich in einer Krise stecke. Als ich die Round East erreiche, die um die Tempelanlage im Zentrum der Stadt führt, werde ich langsamer. Ich umrunde das Herz der Welt. Über mir hängen bunte Tücher zur Feier von Onam, dem Ende des Monsuns. Heute ist Uthradam, ein Tag, an dem man Gemüse kaufen sollte. Ich sehe eine Händlerin, mit der ich erst vor einer Stunde gesprochen habe, und biege ab, bevor sie mich bemerkt. Im Moment sollte ich besser nicht mit anderen Menschen sprechen. Ich weiß, dass ich in einem manischen Zustand bin, doch dieser Zustand hat auch etwas Weihevolles. Als ich auf die Round South abbiege, kommt mir eine Kinderprozession entgegen, die wie ich dem Regen trotzt. Die Kinder tragen weiße und goldene Gewänder. Mit der Disziplin ist es nicht allzu weit her. Vorneweg gehen ein paar Jungen mit einem Transparent, auf dem steht: Die Grundschule Thrissur grüßt König Mahabali und erbittet seinen Segen, aber ein paar wilde Mädchen tanzen ständig aus der Reihe, laufen nach vorne, berühren mit der Hand den Boden und flitzen wieder zurück, ein Spiel mit unverständlichen Regeln. Ich muss einen Bogen machen, um ihnen auszuweichen. Eines der Mädchen grüßt mich, und als ich nicht antworte, ruft es mir ein gehässiges »Blackie« hinterher. Reizend. Noch ein Grund, von hier fortzugehen. Ich komme am Melody Corner vorbei, wo Mohini Gesangs- und Tanzunterricht gibt, und biege nach links in die Kuruppam Road ein. Mein Abstand zum Herzen der Welt wächst. Der Aufmarsch von religiösen Statuen zieht sich bis zur Station Road. Shiva und Jesus verabschieden mich in goldener Pracht. Ich biege auf den Platz vor dem Bahnhof ein. In meinen Adern scheint immer noch Zitronensaft zu fließen. Die Robo-Rikschas drängen sich mit aufdringlichem Piepsen an mich heran, aber ich winke ab und verlange stattdessen am Schalter eine Fahrkarte nach Mumbai. Da ich jeden Blickkontakt vermeide, fällt es den Leuten seltsamerweise immer schwer, mich zu verstehen. Der Beamte muss nachfragen. Dann hält er mir einen Scanner hin. Ich strecke meinen Mitter aus und ziehe ihn wieder zurück, als hätte ich mir die Finger verbrannt. Wenn ich mit dem Mitter bezahle, könnten mich Semena Werk oder die Polizei oder alle beide aufspüren. Jedenfalls ist das nicht auszuschließen. Und dass ich in einen Zug nach Mumbai gestiegen bin, geht niemanden etwas an. Der Beamte ist überrascht. Ich sage: »Verzeihung, ich habe vergessen zu erwähnen, dass ich bar bezahlen möchte.« Er verdreht die Augen und fächelt sich Luft zu, während ich in meiner Tasche nach den Rupien krame. Ich reiche ihm die Scheine. Sie sind feucht. Er fordert mich auf, in den Retinascanner zu schauen. Auch das hatte ich vergessen – es gibt so viele neue Sicherheitsmaßnahmen. Ich werde nervös, schütze ein Augenleiden vor und entschuldige mich, weil ich so viele Umstände mache. Er holt unter der Theke ein Stempelset hervor und stempelt mir einen Balkencode auf die Hand. Dann schickt er mich weiter. In vierzehn Minuten fährt ein Hochgeschwindigkeitszug ab, eine Magnetschwebebahn. Eine Flucht mit Stil. Der Bahnsteig ist überdacht, hier bin ich endlich vor dem Regen geschützt. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen habe. Ich gehe zu einer der kleinen Imbissbuden. Über der Öffnung hängen viele Metalllöffel. Ein Mann schaut zu mir heraus. Ich bestelle Idli und Sambar und reiche ihm einen Fünfhundert-Rupien-Schein. Er nimmt ihn mit zwei Fingern wie eine verdorbene Sardine. Dann ruft er einen Jungen und weist ihn an, den Schein in einen besonderen Kasten für Papiergeld zu legen. Ich kann von Glück reden, dass ich überhaupt Bargeld bei mir habe. Gewöhnlich nehme ich nur welches mit, wenn ich bei Sunny, dem Gewürz-Waala, an der Ecke Palace Road und Round East Gewürze kaufen will. Er hat die frischesten Kardamomschoten, denn er pflückt sie selbst im Garten seiner Mutter. Heute war er jedoch nicht da, und deshalb musste ich mich bei einem anderen Händler eindecken. Die sechs Plastiktütchen mit den Gewürzen für das Onam-Essen, das ich nicht mehr kochen werde, liegen immer noch in meiner Tasche. Ich habe niemanden mehr, für den ich sorgen müsste, und niemanden, der für mich sorgt. Das Leben geht auch nach einem traumatischen Erlebnis weiter, so viel ist mir klar. Nicht ganz so klar ist, ob sich das Weiterleben auch lohnt. Von ferne ist ein schriller Pfiff zu hören. Ich schaue nach Süden. Der Zug fährt ein, safrangelb mit einem silbernen Emblem, dem Löwen von Sarnath. Die Scheinwerfer sind im Dreieck angeordnet, und der oberste strahlt mich an wie ein drittes Auge. Mir bleiben dreißig Sekunden, um diese Geschichte zu beenden. Alle drängen auf den Bahnsteig, ohne auf den Sicherheitsabstand zu achten. Alle schauen dem Tod ins Auge. Ich schiebe mich nach vorne auf das Gleis zu. Manche sind dem Tod besonders nahe. Ich setze erst den rechten, dann den linken Fuß vor. Dann wiederhole ich die Bewegung. Nun bin ich ihm näher als alle anderen. Ich wiederhole. Ich wiederhole noch einmal. Jetzt stehe ich auf dem Gleisbett. Ich wiederhole. Ich wiederhole noch einmal. Der Zug wächst auf das Dreifache seiner Größe an. Mir werden die Knie...


Byrne, Monica
Monica Byrne wurde in Harrisburg, Pennsylvania, als das jüngste von fünf Kindern geboren. Sie studierte Biochemie am Wellesley College und Geochemie am MIT. Sie arbeitete in den verschiedensten Berufen, bevor sie ihre wahre Berufung im Schreiben fand. Inzwischen hat sie mehrere Theaterstücke und ihren von der Presse gefeierten Debütroman Die Brücke veröffentlicht. Monica Byrne lebt und arbeitet in Durham, North Carolina.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.