Caduff | Kränken und Anerkennen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 169 Seiten

Caduff Kränken und Anerkennen

Essays
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-85787-575-5
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)

Essays

E-Book, Deutsch, 169 Seiten

ISBN: 978-3-85787-575-5
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Unser emotionales Leben vollzieht sich zwischen den Polen Kränkung und Anerkennung. Der Bedarf an Anerkennung scheint dabei unerschöpflich: Wieder und wieder wollen wir anerkannt sein, in unserem Charakter, in unserem Beruf und Körper, wieder und wieder brauchen wir neuen Zuspruch. Wo einem solche Anerkennung verweigert oder entzogen wird, da tritt die Kränkung auf den Plan: Wir sind gekränkt, wenn wir uns missachtet und ungerecht behandelt fühlen, wenn wir zurückgesetzt und respektlos behandelt werden, wenn wir nicht so wahrgenommen werden, wie wir es uns wünschen. Je stärker das Streben nach Anerkennung, desto größer das Risiko von Kränkung. In der heutigen Zeit scheint das Kränkungsgefühl besonders verbreitet. Weshalb behalten wir Kränkungen so gut im Gedächtnis? Warum leiden Künstler so sehr, wenn ihre Werke keine Anerkennung finden? Wie kränkt und wie anerkennt man mit Blicken? Wie wird der Tod als wohl größte Kränkung des Lebens inszeniert? In ihren Essays geht Corina Caduff sowohl von eigenen Erfahrungen - unter anderem einem Gang zu einem Medium, das Kontakt mit dem Jenseits verspricht - als auch von Beispielen aus dem Kunstbetrieb oder der Wissenschaftsgeschichte aus. Dabei behandelt sie scheinbar Entlegenes genauso wie klassische Themen: Geld, Krankheit und das Antlitz von Toten.
Caduff Kränken und Anerkennen jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Fliegen
Kränkung, Anerkennung
Krankheit, Tod, Literatur
Kunst und Kritik
Erschrecken
Geld
Blicken
Die Kränkungen der Menschheit
Tote zeigen
Die Anerkennung des Jenseits


Fliegen
»Jetzt! Lauf, lauf!«, schreit er hinter mir. Ich renne los, blindlings stürme ich nach vorn und renne, so gut ich kann, gegen die Kraft an, die mich an den Schulterriemen zurückzieht, ich renne und renne – und schon mache ich die ersten Schritte im Leeren, zugleich zieht es mich hoch, ich höre auf mit den Beinbewegungen, schaue, starr vor Schreck und Freude, den steilen Bergabhang hinunter und kralle mich mit den Händen an den Seilen fest. »Geht es?«, fragt er zwei, drei Sekunden später dicht hinter mir. »Ja«, sage ich mit klarer Stimme, »ja, es geht gut.« Ich hänge mit Marcel an einem Gleitschirm über der Rigi. Ich mache einen sogenannten Passagierflug, das heisst, wir hängen zu zweit an einem Schirm, ich vorn, er hinten. In praktisch jedem Fluggebiet findet sich dieses Angebot. Der Passagier muss nichts können – ausser loszulaufen, mit seiner ganzen Kraft, mit Vertrauen und Lust, über alle Abgründe hinweg. Dieses Loslaufen in die Luft hinein ist das Schönste. Dieses Loslaufen verwandelt. Angefangen hat es, so rede ich mir ein, mit Träumen. Ich träumte ab und zu vom Fliegen über den Bergen, genauer gesagt von einer Art Schweben, von einem Vorankommen in riesigen Gleitschritten nahe der Erdoberfläche, über Bergkuppen und Abhängen, ein Schweben hoch oben, bei dem ich bisweilen mit dem einen oder anderen Fuss in einer Lichtung oder an einem Hang aufsetzte, um wieder an Höhe und Schwebkraft zu gewinnen. Das Traumgefühl bei diesem Fliegen ist äusserst angenehm, sehr tief und ruhig, ganz und gar friedlich und schön. Und dann, endlich einmal, google ich im Frühjahr 2009 im Internet: Gleitschirm, Taxi, Schweiz. Ein paar Klicks, und Marcels Handynummer erscheint. Ich zögere, lasse die Sache ein paar Tage liegen und rufe aber schliesslich an einem Montag an. Die Auskunft ist vage – wahrscheinlich gehe es am kommenden Wochenende, sagt Marcel, vielleicht Rigi oder Pilatus, je nach Wetterlage. Ein kurzer Schnupperflug, der aus nicht viel mehr als Start und Landung zu bestehen scheint und eine gute Viertelstunde dauert, kostet 100 Franken. Eine halbe Stunde 170, der einstündige Superflug 230 Franken. Wennschon, dennschon, denke ich. Zwei Tage später legt Marcel sich fest, am Sonntag könnten wir fliegen, am Pilatus. Tags darauf ein weiterer Anruf: Die Rigi sei doch besser, weil der Startplatz am Pilatus zurzeit wegen Sanierungsarbeiten schwer zu begehen sei. Also um sechzehn Uhr oben auf der Rigi auf dem Känzeli. Mir ist alles recht. In den Tagen vor dem Flug ist mein Zustand wechselhaft; zuweilen bin ich ganz erregt und auch stolz, mir dieses aufregende Ereignis selbst verschafft zu haben; dann wieder ist mir mulmig zumute, und ich habe so gar keine Lust, von Zürich aus auf den Berg dort zu reisen. Ich recherchiere immer wieder im Netz, erkunde dies und jenes, suche nach Unfallstatistiken, erfahre dabei jedoch nur, dass Paragliding nicht als Extremsport gilt und dementsprechend auch keiner Extraversicherung bedarf. »Der Flug ist genauso sicher wie Ihre Anfahrt mit dem Auto«, verspricht ein Anbieter von Taxiflügen. Ich denke an Ikarus’ Schicksal. Gierig wie kaum je, schlage ich nach langer Zeit wieder einmal die zweitausend Jahre alten Metamorphosen von Ovid auf. Ein so vitales Interesse an einem antiken Mythos hatte ich zuvor noch nie: Wie ist der Traum vom Fliegen hier formuliert? Wie überhaupt phantasiert man das Fliegen zu einer Zeit, in der es noch keinerlei Flugerfahrung gibt? Finde ich hier Sätze, die über meinen Wunsch und meine Angst mehr wissen, als ich selbst zu sagen vermag? Die griechische Mythologie als Ratgeber – das war vor langer Zeit tatsächlich eine ihrer wesentlichen Funktionen. Dädalus, so erzählt die Sage, war ein begnadeter athenischer Bildhauer, der seinen ebenfalls sehr talentierten Neffen bei sich in die Lehre nahm. Als dieser seinen Onkel in der Kunst zu übertrumpfen begann, stürzte Dädalus den Jungen aus Eifersucht von den Klippen ins Meer. Zur Strafe wurde er nach Kreta verbannt, wo ihm eine Sklavin des Königs einen Sohn gebar. Um der Insel zu entkommen, baute er eines Tages jenes Fluggerät, das ihn und den inzwischen herangewachsenen Ikarus zurück in die Freiheit tragen sollte. »Freiheit« meint hier also nicht die Freiheit des Fliegens, sondern den Weg aus der insularen Verbannung zurück zum Festland, Fliegen ist hier nicht wie in meinem Fall Selbstzweck, sondern ganz und gar reale Fluchtmethode. Und so lesen wir bei Ovid, wie der wohl erste imaginäre Gleitschirm der Fluggeschichte gezimmert wird: (…) Federn legt er in Reihe, So, dass die Kleinste beginnt und den Langen die Kürzeren folgen, Wie wenn sie wüchsen am Hang. So steigt mit den ungleichgeschnittnen Rohren allmählich auf die ländliche Flöte des Hirten. Dann verknüpft er mit Garn die Mitte der Federn, die Kiele Klebt er mit Wachs und gibt, es nachzuahmen dem echten Vogel, mässige Schweifung dem Ganzen. (VIII, 189–195) Danach geht alles sehr rasch: Dädalus verteilt »auf der Flügel / Paar seines Leibes Gewicht, bewegte die Lüfte – und schwebte« (201f.). Das Startmanöver kommt nicht zur Sprache, auch der Schwebezustand selbst wird nicht weiter beschrieben. Stattdessen weist der Flieger seinen Sohn an, hinter ihm in mittlerer Höhe zu fliegen, damit die Federn weder bei zu tiefem Flug von den Meereswellen bedroht noch bei zu hohem Flug von der Sonne versengt würden. Der Wikipedia-Artikel über das Fliegen rühmt die Sage in fast rührseliger Weise, weil sie so eindringlich vor der »übermütigen Vernachlässigung von Sicherheitsvorkehrungen« warne. Was Ikarus aber schliesslich zum Verhängnis wird, ist die Lust am Fliegen, denn er beginnt plötzlich, »sich des kühnen Fluges zu erfreuen«, er verspürt einen »Drang, sich zum Himmel zu heben« (223f.), er will mehr als einfach nur in die Freiheit aufs Festland fliegen, er will hoch hinaus. Wir wissen, wohin das geführt hat. Die Lust am Fliegen wird im Mythos allerdings nicht nur bestraft, weil Ikarus sich nicht um die Sicherheit schert, sondern vor allem auch, weil er sich in verbotene Räume begibt: Der Himmel gehört hier noch den Göttern. Ich klappe das Buch etwas enttäuscht zu. Tatsächlich phantasiert man das Fliegen bis ins 19. Jahrhundert vor allem – genau wie in der Ikarus-Sage – als Überwindung von Strecken. Man schaut den Vögeln sehnsüchtig nach, weil sie schnell und leicht riesige Distanzen zurücklegen. Als Zustand, der seine Erfüllung im Fliegen selbst findet, als pure Lust am In-der-Luft-Sein wird das Fliegen erst später beschrieben, im Zuge der Luftfahrt, deren Geschichte im 19. Jahrhundert einsetzt: Pioniere wie George Cayley und Otto Lilienthal experimentieren mit verschiedenen Flugapparaten, und schliesslich erlebt die Luftfahrt ihre grosse Gründerzeit im 20. Jahrhundert mit motorisierten Flugzeugen. Erst jetzt wird die »Freiheit über den Wolken« besungen. Am Himmel Nun hänge ich also mit Marcel am Schirm, es ist ein sehr klarer und verhältnismässig warmer Apriltag, spätnachmittags, schon nach siebzehn Uhr, Marcel hatte sich verspätet. In unserer Nähe gibt es noch etliche andere Schirme, die Rigi ist wegen der geeigneten Thermik ein begehrtes Fluggebiet, auch für Flugschulen. Ich trage Handschuhe, einen Helm und Sonnenbrille, eine rote Windjacke und über meiner Jeans eine Überzugshose, die Marcel im Set für seine Fluggäste dabeihat. Sie ist zu kurz, aber darauf kommt es hier oben nicht an, genauso wie es mir hier auch egal ist, dass Marcel mindestens einen Kopf kleiner ist als ich. Ich sitze auf einer Art Rucksack, der von den Schultern bis zum Gesäss reicht und an dem verschiedene Riemen befestigt sind, die ihrerseits wiederum mit etlichen Karabinerhaken an den Oberschenkeln und am Brustkorb des Passagiers festgemacht werden. Diese ganze Vorrichtung, Gurtzeug oder Gstältli genannt, ist durch verschiedene Leinen mit dem Schirm verbunden. Der Flieger hält in beiden Händen Griffe, an denen die Bremsleinen befestigt sind, welche bei Betätigung die Hinterkante des Schirms herunterziehen und somit als Steuer fungieren. Mein Gastgstältli hat keine solchen Griffe, ich halte mich an Leinen ohne Steuerfunktion fest. Wir streifen zunächst den felsigen Abhang entlang, wir fliegen an seiner Längsseite ein paarmal hin und her, langsam und friedlich, so dass ich mich ein wenig daran gewöhnen kann. Mehr als tausend Meter unter uns liegt der Vierwaldstättersee, und gleichsam um die Ecke sehe ich auch ein Stück des Zugersees. Nachdem wir etwa eine Viertelstunde in der Luft sind, lehnt sich Marcel kurz zu mir nach vorn und sagt: »Wenn es dir guttut, kannst du dich ruhig festhalten, aber nötig ist es nicht unbedingt.« Erst in diesem Moment nehme ich wahr, dass meine Finger völlig verkrampft sind, ich kann sie vor lauter Muskelverspannung kaum mehr einzeln bewegen. Für einen Augenblick lasse ich die Arme herunterbaumeln, aber dann nehme ich sie gleich wieder hoch und verkralle mich erneut. Ich sitze in der Luft. Ich und der Schirm und Marcel hinter mir und sonst nichts als Luft – kein Flugzeug um den Körper, kein Ballonkorb unter den Füssen, rundherum nichts als Luft. Dieses In-der-Luft-Sein ist einzigartig, unvergleichlich, eine ungekannte Existenzform, eine Extrem-erfahrung. Was ich gleich in den ersten Sekunden des Flugs realisiere, ist eine Art auditive Verabschiedung: Zwar sehen wir die Sonntagswanderer auf der Rigi sehr gut, die Schiffe auf dem See, die Autos weit unten auf den Strassen – aber man hört...


Corina Caduff, geboren 1965 in Chur. Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, Professorin an der Zürcher Hochschule der Künste. 2005-2009 Mitglied des "Literaturclubs" des Schweizer Fernsehens. Autorin und Herausgeberin verschiedener Bücher zur Gegenwartsliteratur und zu den Künsten.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.