E-Book, Deutsch, 194 Seiten
Calabrese / Huber Grenzen und Strafen in Sozialer Arbeit und Sonderpädagogik
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-17-036650-3
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 194 Seiten
ISBN: 978-3-17-036650-3
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In pädagogischen Debatten ist die Rede von Strafen, Sanktionen und Grenzen eher verpönt, bisweilen sogar tabuisiert. Dabei gehören insbesondere im Bereich der stationären Kinder-, Jugend- und Behindertenhilfe Grenzsetzung und Strafe für Praktikerinnen und Praktiker zum Alltag. Das Buch stellt den aktuellen Diskurs über Strafe, Grenzen und Erziehung in diesen Handlungsfeldern exemplarisch dar und gibt Einblicke in konkrete Sanktionspraxen sowie ihre Ambivalenzen. Aus den unterschiedlichen Perspektiven der Sozialen Arbeit und Sonderpädagogik heraus werden Ansätze aufgegriffen und weiterentwickelt, wie mit Grenzen, Grenzsetzungen und Strafe in der Praxis reflektiert und professionell umgegangen werden kann.
"Das Buch stellt einen wichtigen (Wieder-)Einstieg in die gemeinsame Arbeit zweier pädagogischer Teildisziplinen zum einen sowie ein gern gemiedenes Thema, Strafe, zum anderen dar [...] - und damit wird hier ein ausgesprochen wichtiger Beitrag zur Diskussion in den Erziehungswissenschaften vorgelegt, als Initialzünder für weitere Schritte auf diesem Weg."
Rezension von Prof. Dr. Roland Stein (Uni Würzburg), erschienen in "Sonderpädagogische Förderung heute" (Heft 1/2021, S. 106)
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Grenzen und Strafe aus sozial- und sonderpädagogischer Perspektive Einleitende Bemerkungen
Sven Huber & Stefania Calabrese
Sozial- und Sonderpädagog*innen, die sich mit den Themen Grenzen und Strafe auseinandersetzen (müssen), sind Enttäuschungen gewohnt. Manche sind enttäuscht darüber, wie die Themen Grenzen und Strafe in der Institution, für die sie tätig sind, verhandelt werden. Andere wünschen sich klar bestimmte Grenzen und vielfältige Möglichkeiten des Strafens, stellen dann aber enttäuscht fest, dass sich die daran geknüpften Erwartungen und Hoffnungen doch nicht erfüllen. So manche*r ist auch enttäuscht von der Erziehungswissenschaft, weil diese sich großteilig abgewöhnt hat, Grenzen und Strafe zu thematisieren. Um den Einstieg in den Band zu erleichtern, wollen wir mit etwas Erwartbarem beginnen, einer Enttäuschung also. Enttäuschen müssen wir die besonders an Systematik interessierten Leser*innen. Diese erwarten Beiträge, für die sich jeweils zwei oder mehrere Kolleg*innen aus der Sozial- und Sonderpädagogik zusammentun, die dann die theoretisch-konzeptionellen Spezifika der jeweiligen Perspektive auf den Gegenstand des Beitrags ausbuchstabieren und schließlich systematisch und gegenstandsbezogen wechselseitige Anschlussmöglichkeiten bzw. Abgrenzungen aufzeigen. Stattdessen bietet der vorliegende Band eine Sammlung von Texten von Kolleg*innen aus der Schweiz, aus Deutschland und Österreich, die sich in pädagogischer Absicht auf unterschiedliche Facetten des Phänomenbereichs Grenzen und Strafe beziehen. Sozial- und sonderpädagogische Perspektiven stehen dabei eher nebeneinander und werden ergänzt durch allgemeinpädagogische und psychoanalytisch-pädagogische Einlassungen. Das Nebeneinander von sozial- und sonderpädagogischen Perspektiven verweist u. E. aber auf die Möglichkeit und Notwendigkeit eines Miteinanders auf der Ebene von Disziplin und Profession. Dabei geht es weder um wechselseitige Vereinnahmungsversuche, wie sie etwa von Sasse und Moser (2003, S. 339) beschrieben werden, noch um die Nivellierung von Differenzen. Vielmehr verdeutlicht das Nebeneinander der hier versammelten Texte, dass sich beide Perspektiven gegenseitig ergänzen und erhellen (können) (vgl. Müller & Schmid 2001), was keineswegs eine neue, aber eine zumindest auf disziplinärer Ebene wenig beachtete Erkenntnis darstellt. An entsprechenden Forderungen mangelt es indessen nicht: »Gefordert ist […] eine enge Kooperation und Interdisziplinarität, in welcher die spezifischen Kompetenzen beider Disziplinen zusammenfließen« (Loeken 2012, S. 364). Ein Grund dafür, dass sich die »verwandtschaftliche[n] und nachbarschaftliche[n] Theorie-Praxis-Bezugsverhältnisse« (Buchka 2009, S. 30) nicht ihrem Potential entsprechend entfalten, mag der sein, dass beide Disziplinen stark mit sich selbst beschäftigt sind. Die Sonderpädagogik bzw. Teile von ihr bemühen sich gegenwärtig um eine »Repädagogisierung des fachwissenschaftlichen Diskurses« (Willmann 2018, S. 205; vgl. Müller & Stein 2018), um eine (Wieder-)Aneignung pädagogischer Begriffe (vor allem Erziehung und Bildung) in Abgrenzung zu einer Entpädagogisierung der Disziplin, die die Psychologisierung und Therapeutisierung der Sonderpädagogik mit sich brachte. Die Sozialpädagogik hingegen ist denkbar weit entfernt von einer Repädagogisierung. Pädagogisches Denken erfährt in großen Teilen der Sozialen Arbeit geradezu Ablehnung, wird verdrängt durch sozialpolitisches Denken und ein sozialwirtschaftliches Profil (vgl. Winkler 2018b, S. 284; vgl. Winkler 2018a, S. 124). Das sozialpädagogische Problem bleibt allerdings weiterhin bestehen, stellt sich unter den Bedingungen einer spätmodernen Gesellschaft sogar in verschärfter Form: »Sozialpädagogik hat zum einen mit der Frage zu tun, in welcher Gesellschaft die Menschen leben und aufwachsen; sie richtet zum anderen den Blick darauf, wie die Entwicklungsprozesse der Einzelnen (oder ganzer Gruppen) so möglich werden, dass sie nicht von Krisen überschattet, eingeschränkt oder gar verhindert werden – im Gegenteil, dass den Menschen gewahrt bleibt, dass sie autonom handeln, mündig bleiben« (Winkler 2018b, S. 290). Die Frage, mit der sich die Sonderpädagogik primär beschäftigt, lautet, wie Bildung und Entwicklung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Beeinträchtigungen im Kontext von behindernden Bedingungen ermöglicht und organisiert werden kann (vgl. Klauß 2011, S. 22 f.). Beiden Perspektiven geht es letztlich um eine pädagogische Perspektive auf beschädigte Subjektivität, darum, Möglichkeitsräume und Bedingungen für je subjektiv eigene und auch eigensinnige Lern-, Entwicklungs-, Bildungs- und Veränderungsprozesse zu eröffnen und zu gestalten. Beide wollen mithin dem Subjekt gerecht werden und beschäftigen sich mit den Lebens- und Bewältigungslagen von vulnerablen Personengruppen, womit im stationären Kontext z. B. Menschen mit kognitiven und/oder psychischen Beeinträchtigungen, Kinder und Jugendliche aus häufig schwierigen familiären Verhältnissen, abweichend bzw. verhaltensauffällig agierende Personen etc. gemeint sind. Wolf (2007, S. 1; vgl. auch Huber & Kirchschlager 2019, S. 28 ff.) bringt etwas auf den Punkt, was darüber hinaus ebenfalls für beide gelten dürfte: »Man kontrolliert und sanktioniert häufig, oft mit schlechtem Gewissen, solche Elemente eher hinter schönen Formulierungskonstruktionen verdeckend. Fragen Sie einmal Kollegen, ob sie bestrafen, ob sie soziale Kontrolle ausüben. Sie werden Beispiele eindrucksvollen Herumgeeieres bekommen«. Damit ist der Phänomenbereich Grenzen und Strafe angesprochen. Beide bearbeiten Grenzen, d. h., sie schaffen Möglichkeiten für die Überschreitung von Grenzen, stellen gegebene Grenzziehungen in Frage. Gleichzeitig schaffen und setzen sie Grenzen, ggf. mit Hilfe von Strafe, beteiligen sich also an Grenzziehungen. Die Denkfigur der Grenzbearbeitung, wie sie von Fabian Kessl und Susanne Maurer (vgl. Kessl & Maurer 2010; Maurer 2018) für die Soziale Arbeit ausgearbeitet wurde, und an die von verschiedenen Autor*innen angeknüpft wird (vgl. Heite, Pomey & Spellenberg 2013; Bütow, Patry & Astleitner 2018; Huber & Kirchschlager 2019; Kap. 1), ermöglicht sowohl der Disziplin als auch der Profession eine analytische Perspektive auf diese komplexe Pendelbewegung der Grenzbearbeitung. Grenze bzw. Grenzbearbeitung dient Kessl und Maurer dabei als Begriff und Metapher zugleich. »Die Gleichrangigkeit bzw. Parallelität von Begriff und Metapher wird mit der Bezeichnung ›Denkfigur‹ bereits zum Ausdruck gebracht. Der metaphorische Charakter erscheint deshalb so wichtig, weil sich gerade durch die Unschärfe und Offenheit […], durch die – immer wieder neu konkret zu füllende – ›Wendbarkeit‹ des Bildes ›Grenze‹ auch immer wieder neue Eingriffs-, Einhak- und Ansatzpunkte für eine Auseinandersetzung ergeben« (Maurer 2018, S. 21). Die Denkfigur der Grenzbearbeitung bietet den Autor*innen dieses Bandes keinen gemeinsamen konzeptionell-analytischen Ausgangspunkt für ihre Überlegungen. Allerdings beschreiben und analysieren manche von ihnen Grenzen eher im Sinne einer etwas unscharfen Metapher, andere eher im Sinne eines (operationalisierten) Begriffs. Dabei handelt es sich u. E. um kein Manko des Bandes, vielmehr wird durch das In- und Miteinander von Konkretisierung und relativer Unschärfe die Identifikation von anderen und neuen ›Einhakpunkten‹ ermöglicht. An anderer Stelle wäre darüber hinaus zu klären, inwieweit die Denkfigur der Grenzbearbeitung nicht nur einer Selbstvergewisserung über die Bedingungen und Möglichkeiten einer Kritischen (Sozial-)Pädagogik dienen kann, sondern auch als gemeinsamer Bezugsrahmen für eine intensivierte Verständigung zwischen der Sozial- und Sonderpädagogik fungieren könnte. Betrachtet man, abgesehen von neueren Debatten über Grenzbearbeitung, die pädagogische Fachdebatte der letzten Jahrzehnte, wird deutlich, dass der adressierte Themenkreis, insbesondere natürlich die Strafe, tendenziell entpädagogisiert und tabuisiert wurde. Wenn dennoch über Grenzen und Strafe gesprochen wird, geschieht dies häufig aus ideologisch geprägten Positionen heraus. Es bilden sich Fronten in der (idealtypischen) Gestalt von Gegner*innen und Fürsprecher*innen heraus, und die Vertreter*innen der jeweiligen Seiten diskreditieren sich dabei der Tendenz nach gegenseitig. Die einen werden in diesem Prozess zu ›Kuschelpädagog*innen‹, die anderen zu ›reaktionären Erzieher*innen‹ stilisiert (vgl. Huber &...