E-Book, Deutsch, 392 Seiten
Caprez Die illegale Pfarrerin
3. Auflage 2019
ISBN: 978-3-03855-193-5
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Leben von Greti Caprez-Roffler 1906 - 1994
E-Book, Deutsch, 392 Seiten
ISBN: 978-3-03855-193-5
Verlag: Limmat Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Am 13. September 1931 tut das Bündner Bergdorf Furna etwas, was zuvor noch keine Gemeinde der Schweiz gewagt hat: Es wählt eine Frau zur Pfarrerin. Ein Skandal, der bis nach Deutschland Schlagzeilen macht, sogar der berühmte Theologe Karl Barth mischt sich ein. Greti Caprez-Roffler ist 25 Jahre alt, frisch gebackene Theologin und Mutter. Sie zieht mit ihrem Baby ins Bergdorf, ihr Mann bleibt als Ingenieur in Pontresina. Die Behörden konfiszieren das Kirchgemeindevermögen, doch die Pfarrerin arbeitet weiter, für "Gottes Lohn". Nach ihrem Tod macht sich die Enkelin auf die Spuren der ersten Schweizer Gemeindepfarrerin. Sie stösst auf die aussergewöhnliche Emanzipationsgeschichte einer Frau, die im Dorf Skihosen für Mädchen einführte und ihren Söhnen das Stricken beibrachte. Die ihren Mann zum Theologiestudium inspirierte und mit ihm das Pfarramt im Jobsharing ausübte, lange bevor der Begriff existierte. Die für sich in Anspruch nahm, was damals für viele undenkbar war: ihrer Berufung nachzugehen und Mutter zu sein, eine glückliche Liebe und eine erfüllte Sexualität zu leben. Eine Frau mit einem grossen Hunger auf das Leben, die ihre Zeitgenossen mit ihrem festen Willen und ihrer direkten, bestimmenden Art immer wieder herausforderte. Dies digitale Fassung enthält im Unterschied zur Druckfassung die gesamten wissenschaftlichen Nachweise.
Christina Caprez, geboren 1977, Soziologin und Historikerin, war Redaktorin bei Radio SRF 2 Kultur und arbeitet heute als freie Journalistin und Autorin. Radio-, Film und Buchprojekte sowie Moderationen im Bereich Familie, Migration, Religion, Geschlecht, Sexualität. Im Limmat Verlag ist das Buch "Familienbande. 15 Porträts" lieferbar. Christina Caprez lebt bei Zürich.
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Schwanger über
den Ozean
Ein Koloss, diese Conte Rosso!2 Aus den zwei haushohen Schornsteinen des Luxusdampfers strömte Rauch, und die Turbinen dröhnten. Im Schiffsbauch mit den vier Flügeln3 hätte die ganze Bevölkerung von Igis4 Platz gefunden, sogar mit den Arbeitern des rasch wachsenden Dorfteils Landquart. Stünde umgekehrt die Conte Rosso in Igis, so verstopfte sie die Gasse, vom Pfarrhaus bis zum Dorfplatz, und risse nebenbei noch ein paar Häuser ein, denn die Gasse war eng und das Schiff breit.5 Das prunkvolle Innenleben, gestaltet von Künstlern aus Florenz, hatte allein vierhunderttausend Dollar gekostet. Kristallleuchter verströmten ein dezentes Licht, schwere Teppiche dämpften die Schritte, und zwischen handgeschnitztem Täfer aus Eiche und Mahagoni, an dem Ölbilder hingen,6 flanierten die Passagiere wie in einem italienischen Schloss. Pfarrerstochter Greti Caprez-Roffler mochte ein ähnliches Ambiente als Kind in Marschlins gesehen haben, das etwas abseits vom Dorf Igis lag. Schlossherr Ludwig Rudolf von Salis-Maienfeld, jahrelang Kirchgemeindepräsident7, pflegte einen guten Kontakt zum Ortspfarrer und empfing die Pfarrfamilie ab und zu.8 Greti Caprez-Roffler interessierte sich jedoch weniger für pompöse Dekorationen als für die feudalen Mahlzeiten und ihren Platz im Liegestuhl auf dem Deck der zweiten Klasse. Essen mag ich fürchterlich, und arbeiten kann ich auch gut,9 berichtete sie der Mutter. Die täglichen Menus kamen ihrem Appetit entgegen: Horsd’œuvre, Austern, Ragout und Kartoffeln, Wurst und Kartoffelbrei, Emmentaler Käse, Aprikosenkompott, Orangen und Äpfel, Kaffee oder Tee.10 Ein feudaler, glänzender Frass, spottete sie im Brief nach Igis.11 Nach dem Mittagessen spielte im Salon eine Musikkapelle auf, doch sie verkroch sich in den Liegestuhl hinter ihre Bücher und hoffte, es möge niemand das Gespräch mit ihr suchen.12 In den zwei Wochen bis zur Ankunft in Genua musste sie vier Jahre Theologiestudium vergegenwärtigen, Altes Testament, Neues Testament, Dogmatik, Ethik, praktische Theologie, Pädagogik und Psychologie. Jeden Tag stellte Greti die Uhr eine Viertel- bis eine halbe Stunde vorwärts.13 Wie sich der Zeiger nach vorne drehte, so rückte Gian weiter weg. Es war Ende September 1930, seit der Hochzeit vor einem Jahr waren sie nie mehr als ein paar Stunden getrennt gewesen. Wann sie sich wiedersehen würden, war ungewiss. Und doch fühlte sich Greti innerlich gefasst.14 Die übliche Rastlosigkeit war einer Gelassenheit gewichen, über die sie sich selber wunderte und die sie dem Kind zuschrieb. Wer nichts davon wusste, konnte ihren Bauch auch jetzt noch übersehen. Sie selber spürte «es» jedoch genau und wandte sich im Tagebuch an ihr Kind: Du geliebtes, kleines Wesen. An meines Mamis Geburtstag15 hast Du Dich zum ersten Mal ganz leise und sacht bewegt.16 Wie wenn ein Fisch mit der Schwanzflosse schlägt.17 Ursprünglich hatte Greti mit dem ersten Kind länger warten wollen. Während des Studiums hatte sie sich ausgemalt, zuerst den Abschluss zu machen und dann mit dem Liebsten die Welt zu entdecken. Hand in Hand in die Weite hinausziehen, auf eigenen Füssen stehen und miteinander durch Not und Mangel, den Kampf ums Leben hindurchgehen. Und dann so nach fünf Jahren wiederkommen, im Herzen reich, mit der Menschen Not und Sehnen mitfühlend und innerlich frei geworden, dann sich einen festen Wohnsitz gründen und Kindern das Leben geben, denen unsere reiche Erfahrung und Wissen um die Weiten der Welt zugutekommen würde. Wir brauchen nicht einmal zu heiraten, denn ich kann mich selber durchbringen.18 Doch bald war Greti klar geworden, dass die Eltern und Schwiegereltern dem jungen Paar niemals ihren Segen geben würden, wenn sie unverheiratet ins Ausland gehen wollten. Ohnehin hatte sie zäh um ihre Liebe kämpfen müssen. Ihr Vater, der Pfarrer, hatte sie zu seiner Nachfolgerin bestimmt, und seit Gian am Horizont aufgetaucht war, sorgte er sich, die Tochter könnte die Theologie der Liebe opfern. Gians Mutter wollte keine Studierte als Schwiegertochter, und schon gar keine Frauenrechtlerin. Doch das Paar setzte sich durch. Als Gian nach Abschluss seines Studiums die Stelle in Brasilien in Aussicht hatte, rang Greti Eltern und Schwiegereltern die Erlaubnis ab, ihn zu heiraten und nach São Paulo zu begleiten. Dort mieteten sie zwei Zimmer mitten im Stadtzentrum bei einer deutschen Familie. Die Rua Xavier de Toledo 9 lag eine Viertelstunde zu Fuss vom imposanten Bahnhof Estação da Luz entfernt, dem Symbol der Elite São Paulos, wo Kaffee und Zucker aus den armen Bundesstaaten des Nordens angeliefert wurden.19 Noch näher lagen zwei grosse Baustellen. Hier entstanden die neogotische Catedral da Sé und der Martinellibau, das erste Hochhaus Brasiliens. Die ersten zwölf Stockwerke waren soeben eingeweiht worden, auf dreissig Etagen sollte der Wolkenkratzer noch wachsen. Ingenieur Büchi, ein Schweizer, der mit Greti und Gian in der Pension Helvetia ass, baute für die Firma Schindler den Lift ein, der allein eine Million Schweizerfranken kostete. An einem Feiertag führte Büchi sie durch das Bauwerk. Während Gian seinen Ausführungen zu den technischen Details zuhörte, setzte sich Greti auf eine Kiste und vertiefte sich in ihr Psychologiebuch.20 Ihre Lust, die Welt zu entdecken, schwand, und plötzlich war ihr mehr nach Nestbau als nach Abenteuer. Gianin hatte eine Zeit lang die fixe Idee, in einer fremden Stadt hätte man abends die Stadt zu besehen, berichtete Greti den Eltern. Wir haben es dann auch versucht, es war aber schrecklich langweilig. Und nun finden wir es am schönsten daheim.21 Nach dem Abendessen schnitten sie eine Papaya22 auf, die Greti auf dem grossen Samstagsmarkt gekauft hatte.23 Solche Früchte hatten die beiden weder in Graubünden noch in Zürich je gesehen. Während sie abwusch, sass er auf dem Gutschi (Couch) in der Stube, las ihr vor oder spielte Handorgel. Wenn sie nicht zu müde waren, fragten sie einander Portugiesischwörter ab.24 Einmal pro Woche setzte sich Greti an die Schreibmaschine. Den Schwiegereltern schickte sie das Original, den Eltern den Durchschlag, das war praktisch. Sie inszenierte sich als gewissenhafte Hausfrau. Am Montag habe ich gewöhnlich ziemlich aufzuräumen und Kleider und Schuhe zu putzen. (…) Am Dienstag habe ich dann die Wäsche. Am Mittwoch ist (…) ein kleinerer Markt, mehr in der Nähe. Der Weg dahin geht stets durch einen wunderschönen Park. Am Donnerstag muss ich flicken, am Freitag Briefe schreiben (…).25 Sonntags besuchten sie den Gottesdienst,26 danach kochte Greti auf ihrer nur halbwegs funktionierenden Platte27 das Mittagessen. Vermutlich vor allem an den Vater gewandt, berichtete sie, dass sie trotz allem jeden Tag etwa fünf Stunden auf das Schlussexamen lerne: Ich habe schon ein Kollegheft und eine Ethik durchgearbeitet.28 Die deutschsprachige Exilgemeinschaft in São Paulo – Kaufleute, Bankiers, Ingenieure und Dienstmädchen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich – wuchs rasch, so dass sie eine eigene evangelische Kirche betrieb. Dort war Greti mit offenen Armen empfangen worden. Die Gemeinde hatte gerade einen zweiten Pastor eingestellt, den jungen Deutschen Martin Begrich, der zur gleichen Zeit wie Gian und Greti mit seiner Frau in São Paulo angekommen war.29 Die beiden Pastoren hatten der Schweizer Studentin nicht nur die Kinderlehre30, sondern sogar einen Gottesdienst anvertraut. Am 27. April 1930 trat Greti erstmals vor die versammelten Auswanderer.31 Ihre Predigt verankerte sie im Alltag der brasilianischen Grossstadt, sie sprach von den zur Arbeit hastenden Menschen, vom Anblick menschlicher Schaffenskraft angesichts des Martinelliwolkenkratzers, von den Ablenkungen des Nachtlebens. So viele Kirchen stehen in dieser Stadt, wo aber bleibt das Christentum? Wir finden es am Morgen nicht, da jeder ohne Freude an seine Arbeit geht, am Mittag nicht, da der Mensch nur seine eigene Grösse sucht, und nachts nicht, da unsere Brüder und Schwestern Gottes Wege verkehren. (…) Und nun stehen wir an dem Punkt, an dem es ganz deutlich wird, was es heisst, ein evangelischer Christ zu sein, dem die Kirche nicht sagt, dies und das musst Du tun (…). Der evangelische Christ steht allein vor Gott und seinem Wort und hat selber zu entscheiden.32 In den Kirchenbänken hörten die beiden Pastoren Greti zu. Nach dem Gottesdienst schallte ihr aus der Gemeinde der Wunsch entgegen, sie möchte doch öfter Predigt halten. Voller Begeisterung schrieb sie ihren Eltern: Ich bin überzeugt, dass ich hier sehr oft predigen kann, wenn ich will. Auch meiner übrigen Mitarbeit wird kaum etwas in den Weg gelegt werden. Dass ich einen Rock anhabe, das spielt hier deshalb keine Rolle, weil sie keine Tradition haben. Deshalb sind hier viel mehr Dinge möglich als drüben. Sie beziehen ihre Kultur von drüben, und da braucht nur einer, in meinem Fall also einer der...