E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Casper Schultage
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-88769-651-1
Verlag: konkursbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Geschichten & Beobachtungen einer Lehrerin
E-Book, Deutsch, 128 Seiten
ISBN: 978-3-88769-651-1
Verlag: konkursbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Geschichten aus dem Alltag einer Lehrerin an einer Schule mit vielen Migrantenkindern. Nah am Leben erzählt die Autorin von paradoxen Situationen und Zweifeln, von Mut und Elan, auch vom Scheitern, von bösen Gedanken und dann wieder von Momenten, in denen sich wirklich etwas ändert, "pädagogischer Erfolg" sichtbar wird; in manchen Texten erzählt sie auch aus Schülersicht.
Drama, Tragik, Komik und Herzerwärmendes entspringen der Realität; die Geschichten und Beobachtungen lassen sich als berührende Sozialreportagen lesen. Sigrun Casper arbeitete selbst knapp 20 Jahre lang als Lehrerin an einer Förderschule, in der fast ausschließlich Migrantenkinder unterrichtet wurden. Die Thematik ist unverändert aktuell und der Schulalltag heute nicht wesentlich anders, auch in Zeiten der "Inklusion".
"Wirklich gut beobachtet und aus dem Herzen gesprochen. Ich würde das Buch meiner Tochter schenken, die Grundschullehrerin ist." (Gerd Wagner, Büro für Bücher)
"Ihre sensiblen Beobachtungen kleidet die Autorin in klare schöne Sätze. (Tagesspiegel über Sigrun Casper)
Zu den einzelnen Geschichten: Yilmaz verwandelt die Klasse während des Kunstunterrichts in eine Band tobender Schlagzeuger.
Fadime möchte in ihre alte Klasse zurück. Und weg von ihrer Familie. Am liebsten wäre sie ein Junge.
Rainer verlässt mitten in der Stunde wütend den Klassenraum, weil Lehrerin Frau Sonntag seinen Aufsatz nicht wahrnimmt, und beginnt eine Schlägerei.
In „Herz über Schuss“ beschreibt die Lehrerin sich selbst in ihren einander widersprechenden Gefühlen.
Weint sie, weil Benno sie geärgert hat, oder warum weint sie?
„Wunder geschehen nicht an der Förderschule, nicht an irgendeiner Schule, nicht im Leben. Aber Lernprozesse geschehen, und sie geschehen oft auf Arten und Weisen, die in Lehrplänen nicht vorgesehen sind.“
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Der Apfel
Dienstag, Anfang Mai, sechste Stunde. Am Dienstag in der fünften und sechsten Stunde bin ich in der türkischen Vorbereitungsklasse zum Kunstunterricht. In der vorigen Stunde haben wir das neue Thema besprochen: Bäume. Zur Anregung habe ich ein Fotobuch mit Baumbildern mitgenommen. Jeder und jede von ihnen soll sich vorstellen, ein bestimmter Baum zu sein. Alle zusammen sollen einen Wald bilden, der dann eine Wand schmücken soll. Sie haben angebissen, es scheint ihnen zu gefallen, ein Baum zu sein und ein Wald zu werden. Gerade haben sie angefangen, ihren Baum zu malen, als ich draußen auf dem Kiesweg Fadime sehe, ihre Schulmappe in der Hand. In Höhe ihrer ehemaligen Klasse bleibt sie stehen und schaut sehnsüchtig zu den tief liegenden Parterrefenstern. Sie hat doch schon Schulschluss, denke ich. Keine Ahnung, wo sie mitten in der sechsten Stunde herkommt. Vielleicht ist sie auf dem Nachhauseweg umgekehrt und noch mal zurückgekommen, weil ihr eingefallen ist, dass sie jemanden aus ihrer alten Klasse sprechen möchte. Bis vor Kurzem noch gehörte Fadime in diese Vorbereitungsklasse, die sogenannte Türkenklasse. Weil sie aber ihre Deutschkenntnisse überaus schnell verbessert hat, haben wir sie vor einigen Wochen in die 7 a umgesetzt. Ich bin Klassenlehrerin. Fadime ist auch hier besser und flinker als die meisten. Schnappt sie ein Wort auf, was sie nicht kennt, meldet sie sich und fragt. Ich antworte ihr so gut ich kann, manchmal bringt sie mich in Verlegenheit. Wie soll ich auf Anhieb die Frage, was Gewissen oder was ein Gedankensprung sei, beantworten? Mit ihrem Lerneifer ärgert sie die anderen. Sie regen sich auf über die Fragerei. Neugier bringt einen weiter sage ich, und ich fände es gut, wenn ihr alle mal anfangen würdet nachzufragen. Ich bin doch nicht blöd oder Ähnliches entgegnen sie mir dann. Sie wollen ihre Überlegenheit vorführen, die doch nur Verlegenheit ist. Wo sie nur können, machen sie Fadime schlecht, beschimpfen sie, schmieren sogar heimlich in ihre Hefte. Aber sie lässt sich nichts gefallen, sie wehrt sich, mit Worten und nach Leibeskräften. Manchmal heult sie. Dann lachen die anderen. Zum Glück gibt es in jeder Gruppe ein paar Jungen und Mädchen, die bei dem bösen Spiel nicht mitmachen, sich einmischen und Fadime verteidigen, deshalb bin ich sicher, dass sich Fadime eines Tages ihren geachteten Platz in der Klasse erkämpft haben wird. Einige Schülerinnen, auch Schüler schwenken grüßend ihre Tuschpinsel in Fadimes Richtung, ich lächle und nicke ihr durchs geöffnete Fenster zu. Als hätte sie nur auf dieses Zeichen von mir gewartet, rennt sie nun quer über den Rasenstreifen, wirft mit Schwung ihre Schulmappe durchs Fenster und macht Anstalten einzusteigen. Ich spüre, wie wichtig es für Fadime ist, das Gefühl, noch zu ihrer alten, vertrauten Gruppe zu gehören, für den Rest einer Schulstunde einfach nur bei denen zu sein, die sie kennen und mögen. Ich tue also nichts, um das Mädchen von einer nicht gerade üblichen Art und Weise, eine Schulklasse zu betreten, abzuhalten. Fadime sitzt schon auf der Fensterbank, ist im Begriff abzuspringen, als Nazire ihr empört zuruft: »Du spinnst wohl! Wenn das jeder machen würde! Komm durch die Klassentür!« Fadime springt ab, das Gesicht verzerrt. »Du Fotze«, kreischt sie. »Selber Fotze!«, kreischt Nazire. Fadime rast zu Nazire, haut ihr eine runter. Nazire schreit auf. Sie schlagen aufeinander ein, kratzen, kreischen, ziehen sich an den Haaren, Fadime keuchend, Nazire laut heulend. Und ich bin zu nichts anderem fähig, als dumpf auf Fadimes Seite zu sein. Sie hätte nur durch die Tür kommen und nicht durchs Fenster einsteigen sollen. Der größte der Jungen wirft sich dazwischen. Als er es nicht schafft, Fadime kleinzukriegen, greift noch einer ein. Cefer, Birol und Nazire, alle auf Fadime. Mit Armen, Beinen, Händen, ihrem Kopf, ihrer Stimme schlägt sie um sich. Ich sehe mir das an, noch immer wie gelähmt. Wo niemand etwas von einem wissen will, fühlt man sich nicht mehr, da hat man sich verloren. Da fängt man an zu hassen. Wie die anderen gaffe ich stumm auf die keuchenden, aufeinander einschlagenden Jugendlichen herab. Lüstern wie Zuschauer bei einem Boxkampf. Fadimes Hass geht auf mich über. Es ist mein Hass. Dass ich mir so etwas zumuten lassen muss! Kein Respekt. Ungeheuerlich, diese schamlose Gewalt, vor den Augen einer Lehrerin. Vor eurem türkischen Lehrer würdet ihr das nicht wagen! Mit einem Ruck löse ich mich aus meiner Unbewegtheit, stelle mich vor die Kämpfenden. »Schluss jetzt!« Meine Bluse reißt am Ärmel, als ich Fadime, die Verursacherin der Ungeheuerlichkeit, im Polizeigriff packe und aus der Klasse führe. Eisern, mit zusammengebissenen Zähnen. Ich bin stärker als ihr alle. Bitte, wenn ihr es so wollt! Die Tür knallt zu. Ich weiß nicht, was ich auf die Wehrlose einbrülle, die ich gepackt halte und schüttle. Keine Spur von Verständnis. Nur noch Überdruss. Meine Ruhe will ich haben. Schließlich lasse ich sie los wie ein Stück Gepäck. Kein Blick, kein Wort. Lasse sie stehen und renne kopflos den Flur entlang, als rennte ich vor mir davon. Als mir das bewusst wird, fange ich an zu heulen. Im Lehrerzimmer plaudern einige Kolleginnen, schon im Aufbruch begriffen. In die entspannte Stimmung breche ich ein. »Ich halte diese Gewalt nicht aus! Ich habe so etwas noch nie erlebt, in all den Jahren nicht, seit ich hier an der Schule bin«, stoße ich hervor. Stockend und schluchzend berichte ich von der Schlägerei und spüre dabei, etwas stimmt nicht. Wieso rege ich mich so auf? Unbarmherzig kriecht mir die eigene Verlogenheit den Magen hoch bis in die Speiseröhre. Wer sagt, dass ich Gewalt nicht mit ansehen kann? Ich etwa? Ich kenne doch solche Zustände von Angst und Wut und Verzweiflung. Als ich erfuhr, mein Sohn schwänzt die Schule, bin ich fast mit einem Stuhl auf ihn losgegangen. Zum Glück war er stärker als ich. Da haben sich welche geprügelt, hätte ich sagen sollen. Sie sind jetzt alle ganz durcheinander, ich werde damit nicht allein fertig. Hätte ich das zugegeben, hätten die Kolleginnen hinterm Rücken meine pädagogische Unfähigkeit zum Thema gemacht. Na und? Es hätte mir egal sein können. Ich schäme mich, das hätte ich sagen sollen, ich schäme mich meiner Ohnmacht. Ich habe vier türkischen Schülern, zwei Mädchen und zwei Jungen, zugesehen, wie sie sich schlugen, und während ich zusah, fing ich an zu hassen. Dieses zähneknirschende Gefühl, das ich eben als Zuschauerin dieser brutalen Prügelei in mir vorfand, es ist ein Teil meiner eigenen Fähigkeit zu Rohheit und Gewalt. Wie aber hätte ich meinen Kolleginnen auf die Schnelle den Zusammenhang von Ohnmacht, Hass und dem unkontrollierten Ausbruch von Gewalt verständlich machen können? Ich zünde mir eine Zigarette an. Mitfühlend lächelt eine junge Kollegin mir zu. Sie hängt ihre Jacke über eine Stuhllehne und erklärt sich bereit, mich zu vertreten, bis ich mich beruhigt habe. Während ich dastehe und mich schnäuze und an der Zigarette ziehe, tauschen sich die anderen drei Kollegen über mögliche Ursachen der Spannungen unter den Türken aus. Der Cefer sei doch Kurde, da könnten durchaus unterschwellig religiöse Differenzen mitspielen. Ich drücke die Zigarette aus und verlasse grußlos das Lehrerzimmer. Fadime steht noch vor der Klassentür. Mit gebeugtem Rücken lehnt sie an der Wand. Ich gehe auf sie zu. Die bösen Gefühle sind weg. Wir sehen uns in die Augen. »Sag mir, was los ist«, flüstere ich. Sie schüttelt den gesenkten Kopf. »Soll ich es dir sagen?« Keine Bewegung, nur ein ängstlicher Blick. »Du möchtest gern in deine alte Klasse zurück, nicht wahr?« Sie nickt schluchzend. Ihre Nase läuft. In meiner Jackentasche findet sich noch ein unbenutztes Papiertaschentuch. Ich gebe es ihr. Sie nimmt es, wischt sich übers Gesicht, putzt sich die Nase. »Du denkst wohl, keiner kann dich leiden.« Sie presst das Taschentuch in ihrer Faust. »Das stimmt nicht, Fadime, da irrst du dich.« Sie verzieht nur den Mund. Was für ein fadenscheiniges Zeug rede ich da. »Und wenn du dich prügelst, nicht wahr, dann denkst du …« Ich zögere. Sie wartet. »… dann denkst du, du bist ein Junge …« Sie hebt den Kopf. »Ja«, haucht sie und lächelt verlegen. Ich muss nun in die Klasse zurück. Ich wische mir das Gesicht mit dem Blusenärmel trocken. Fadimes erschrockener Blick auf das Loch im Ärmel. »Es gibt Schlimmeres.« Ich öffne die Klassentür und sehe sie auffordernd an. Sie schüttelt heftig den Kopf. Aber losgehen, sehe ich, alleine nach Hause, will sie auch nicht. »Warte auf mich«, sage ich, ehe ich die Tür schließe. Sie sitzen alle auf ihrem Platz. Ihre Malsachen haben sie weggeräumt. Kollegin Monika hat offensichtlich mit ihnen geredet. »Danke, Monika.« Ich umarme sie. »Kein Problem«, erwidert sie lächelnd, »das kann doch jedem passieren.« Ich schlucke. »Also bis morgen!«, ruft sie ihnen zu und geht. Ob sie jetzt noch ein Wort mit Fadime wechselt? Die sechste Stunde, nur eine Dreiviertelstunde, ist um. Eine Kunststunde ohne sichtbares Ergebnis. Sie verabschieden sich auffallend höflich, Nazire sogar mit Handschlag. Cefer und Birol verbeugen sich und bitten mich um Entschuldigung. Sonst stürzen sie alle wie erlöst nach draußen. Ich streichle jedem kurz über seine Hand, bringe es aber nicht fertig, ihnen zu sagen, dass ich es bin, die sich bei ihnen entschuldigen müsste. Ich verlasse die Klasse als Letzte und schließe ab. Fadime lehnt noch immer so leicht verkrümmt an der Wand neben der Klassentür, als wollte sie sich unsichtbar machen. Hat...