Chesterton Die Paradoxe des Mr. Pond und andere Überspanntheiten
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8477-5332-2
Verlag: AB - Die Andere Bibliothek
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 332, 393 Seiten
Reihe: Die Andere Bibliothek
ISBN: 978-3-8477-5332-2
Verlag: AB - Die Andere Bibliothek
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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DIE DREI REITER DER APOKALYPSE
Der seltsame und bisweilen unheimliche Eindruck, den Mr. Pond trotz seiner allseits bekannten Höflichkeit und seiner gepflegten Manieren auf mich machte, war möglicherweise mit irgendwelchen Kindheitserinnerungen verknüpft und der vagen Assoziation, die sein Nachname hervorrief. Er war Regierungsbeamter und ein alter Freund meines Vaters; ich nehme an, daß meine kindliche Phantasie irgendwie den Namen von Mr. Pond mit dem Fischteich im Garten in Zusammenhang gebracht hatte. Wenn man genau darüber nachdachte, war er kurioserweise einem Gartenteich nicht unähnlich. Er war unter normalen Umständen genauso ruhig, gleichermaßen klar geformt und in gewisser Weise ebenso glänzend in seinen alltäglichen Reflexionen, wenn es um Himmel, Erde und das gewöhnliche Tageslicht ging. Und doch: ich wußte, daß es einige wunderliche Dinge im Gartenteich gab. In einem von hundert Fällen, etwa an einem oder zwei Tagen im Jahr, sah der Fischteich sonderbar anders aus: ein Schatten huschte vorbei, oder etwas blitzte auf unter seiner glatten, gelassenen Oberfläche, und ein Fisch, ein Frosch oder eine andere, noch groteskere Kreatur streckte den Kopf in den Himmel. Ich wußte, daß auch in Mr. Pond Monströses existierte: es gab Monster in seinen Gedanken, die nur einen Moment lang an die Oberfläche kamen und wieder hinabsanken. Sie zeigten sich in Form von ungeheuerlichen Aussprüchen, trotz seiner sonst so milden und vernünftigen Bemerkungen. Manche Menschen dachten, er sei mitten in einem höchst vernünftigen Gespräch plötzlich verrückt geworden. Aber selbst jene mußten zugeben, daß er ebenso schlagartig wieder klar im Kopf wurde. Vielleicht wurde jene närrische, phantastische Vorstellung, um darauf zurückzukommen, deswegen in meinem jugendlichen Gemüt zu einer fixen Idee, weil Mr. Pond in gewissen Momenten selbst fast wie ein Fisch aussah. Seine Umgangsformen waren nicht nur durchaus höflich, sondern auch recht konventionell; selbst seine Gesten waren ganz gewöhnlich, abgesehen von seinem gelegentlichen Spleen, an seinem Spitzbart zu zupfen, der ihn vor allem dann überfiel, wenn er sich endlich einmal dazu gezwungen sah, ernsthaft über eine seiner seltsamen und zusammenhanglosen Aussagen zu sprechen. In solchen Momenten starrte er wie eine Eule vor sich hin und zog an seinem Bart, was den drolligen Effekt hatte, daß er damit gleichzeitig den Mund öffnete, als wäre es der Mund einer Marionette, mit Barthaaren statt der Schnüre. Dieses merkwürdige, beiläufige Öffnen und Schließen des Mundes, ohne ein Wort zu sagen, wies eine durchaus überraschende Ähnlichkeit auf mit dem langsamen Luftschnappen und Schlucken eines Fisches. Jedoch dauerte dies nie länger als ein paar Sekunden; ich nehme an, daß er während dieser Zeit die unwillkommene Aufforderung, doch zu erklären, was um alles in der Welt er denn da meinte, hinunterschluckte. Eines Tages redete er gerade in aller Ruhe mit Sir Hubert Wotton, dem bekannten Diplomaten; sie saßen unter buntgestreiften Sonnensegeln beziehungsweise riesigen Sonnenschirmen bei uns zu Hause im Garten und blickten zu dem Teich hinüber, den ich so fälschlich mit ihm in Verbindung gebracht hatte. Zufälligerweise sprachen sie beide gerade über einen Teil der Welt, der kaum jemandem in Westeuropa überhaupt ein Begriff war, den die beiden aber gut kannten, nämlich die riesigen Ebenen, die zu Moor- und Sumpflandschaften auslaufen und sich über Pommern, Polen und Rußland sowie einige weitere Länder erstrecken, bis hin zu den wüsten Landstrichen Sibiriens, soweit ich weiß. Mr. Pond erinnerte sich daran, daß in einem Landstrich, in dem die Sümpfe am tiefsten sind und von Wasserlöchern und träge dahinfließenden Flüssen durchzogen werden, eine einzelne Straße verläuft, auf einem hohen Damm gebaut, der abschüssig ist und zu beiden Seiten steil abfällt: ein gerader Weg, der für einen Fußgänger durchaus sicher ist, aber kaum breit genug, daß zwei Reiter nebeneinander Platz finden. Damit beginnt die Geschichte. Sie betrifft eine Zeit, die zwar noch nicht sehr lange zurückliegt, in der man aber noch mehr Reiter benötigte als in der Gegenwart, wenn auch bereits weniger als Krieger, sondern vielmehr als Kuriere. Es soll an dieser Stelle genügen, darauf hinzuweisen, daß es in einem der Kriege war, die jenen Teil der Welt verwüstet haben – insofern man eine solche Wüstenei überhaupt verwüsten kann. Zwangsläufig ging es dabei auch um den Druck des preußischen Systems auf die polnische Nation; aber es ist nicht notwendig, an dieser Stelle noch detaillierter auf die politische Seite dieser Angelegenheit einzugehen oder darüber zu diskutieren, was daran recht oder unrecht war. Beschränken wir uns daher der Einfachheit halber auf die Feststellung, daß Mr. Pond die Gesellschaft mit einem Rätsel amüsierte. »Ich gehe davon aus«, sagte Pond, »daß Sie sich an all die Aufregung um Paul Petrowski erinnern, den Dichter aus Krakau, der zwei Dinge tat, die damals recht gefährlich waren: er zog aus Krakau weg, um in Posen zu leben, und er versuchte, gleichzeitig Poet und Patriot zu sein. Die Stadt, in der er lebte, war zu jener Zeit von den Preußen besetzt; sie lag genau am östlichen Ende des langen Weges, der über den Damm führte. Die preußischen Kommandanten hatten natürlich darauf geachtet, den Brückenkopf der einzigen Brücke, die über ein solches Meer von Sümpfen führte, unter Kontrolle zu bekommen. Aber die Ausgangsbasis für jene besondere Operation lag am westlichen Ende des Dammes. Der gefeierte Marschall von Grock hatte den Oberbefehl, und wie der Zufall es wollte, war sein eigenes, ehemaliges Regiment, die »Weißen Husaren«, das ihm immer noch am liebsten war, unmittelbar am Anfang der Deichstraße stationiert. Natürlich war alles geschniegelt und gebügelt, bis auf das kleinste Detail der wundervollen, weißen Uniformen mit dem flammenfarbenen Wehrgehänge, das um sie geschlungen war. Das alles geschah nämlich noch vor der allgemeinen Verwendung von schlammbraun und staubgrau als Farben für alle Uniformen weltweit. Daraus kann ich niemandem einen Vorwurf machen, doch habe ich manchmal den Eindruck, daß die Epoche der Heraldik feinsinniger war als das Zeitalter der Tarnfarben, das mit der Naturwissenschaft und der Verehrung von Chamäleons und Käfern aufkam. Jedenfalls trug dieses Vorzeigeregiment der Preußischen Kavallerie immer noch seine eigene Uniform, und wie Sie sehen werden, war dies ein weiterer Bestandteil des Fiaskos. Aber es lag nicht nur an den Uniformen, sondern an der Uniformität. Die ganze Sache ging schief, weil zu gute Disziplin herrschte. Grocks Soldaten gehorchten ihm zu sehr, deshalb konnte er nichts von dem, was er wollte, in die Tat umsetzen.« »Ich nehme an, dies ist ein Paradox«, sagte Wotton und stieß einen Seufzer aus. »Natürlich, das ist alles ganz clever und so weiter, aber in Wirklichkeit ist das doch alles Nonsens, oder? Oh, ich weiß schon, die Leute behaupten im Allgemeinen, daß es in der deutschen Armee zuviel Disziplin gibt. Aber eine Armee kann doch gar nicht zu diszipliniert sein.« »Aber das war gar nicht allgemein gesprochen«, erwiderte Pond mit klagendem Tonfall. »Ich sage es im Besonderen, über diesen ganz speziellen Fall. Grock scheiterte, weil ihm seine Soldaten gehorchten. Völlig klar, hätte ihm nur einer seiner Soldaten gehorcht, wäre es nicht so schlimm gewesen. Aber als zwei seiner Soldaten gehorsam waren – tja, da hatte der arme alte Teufel wahrhaftig keine Chance.« Wotton brach in ein kehliges Gelächter aus. »Ich höre Ihre neue Militärtheorie mit Vergnügen. Es ist Ihnen also genehm, wenn ein Soldat im Regiment die Befehle befolgt, aber wenn zwei Soldaten gehorchen, dann fällt Ihnen auf, daß die beiden die preußische Disziplin wohl etwas zu weit treiben.« »Ich habe überhaupt keine militärische Theorie. Ich rede über eine militärische Tatsache«, erwiderte Pond friedfertig. »Es ist eine militärische Tatsache, Grock scheiterte, weil ihm zwei seiner Soldaten gehorchten. Es ist ebenso eine militärische Tatsache, daß er hätte Erfolg haben können, wenn einer seine Befehle mißachtet hätte. Darüber hinaus können Sie Theorien aufstellen, soviel Sie wollen.« »Ich halte selber nicht viel von Theorien«, sagte Wotton ziemlich steif, als sei er ganz ordinär beleidigt worden. In diesem Moment wurde die hohe Gestalt von Captain Gahagan sichtbar, der mit großen Schritten über den sonnenbeschienenen Rasen stolzierte, der so ungleiche Freund und Bewunderer des kleinen Mr. Pond. Er trug eine Blume mit flammenden Farben im Knopfloch und einen leicht schiefsitzenden Zylinderhut auf seinem rothaarigen Haupt; sein stolzierender Gang schien einem älteren Zeitalter von Dandys und sich duellierenden Männern zu entstammen, obgleich er selbst relativ jung war. Solange man nur seinen großen, breitschultrigen Umriß im Sonnenlicht wahrnahm, sah er aus wie die Fleisch gewordene Arroganz. Als er näher kam, sich dazusetzte und die Sonne auf sein Gesicht fiel, war davon nichts mehr zu erkennen, ganz im Gegenteil, seine Augen waren sehr sanft und sahen traurig und sogar ein wenig ängstlich aus. Mr. Pond unterbrach seinen Monolog und überschlug sich fast vor Entschuldigungen: »Ich fürchte, ich rede wie immer zuviel; ich war nämlich tatsächlich gerade dabei, von diesem Dichter Petrowski zu erzählen, der beinahe in Posen hingerichtet worden wäre – das ist ziemlich lange her. Die Militärbehörden vor Ort zögerten und wollten ihn schon laufen lassen, sofern sie nicht durch Marschall von Grock oder einen...