E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Coccia / Michele Das Leben der Formen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-446-28433-3
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Philosophie der Wiederverzauberung
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-446-28433-3
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
„Coccia und Michele besingen die Mode als intensivste Kunst einer verkörperten Freiheit.“ Barbara Vinken
Mode ist Philosophie. Star-Philosoph Emanuele Coccia und Mode-Ikone Alessandro Michele stellen traditionelle Annahmen über Kleidung auf den Kopf. Denn ein Outfit ist für sie viel mehr als ein Konsumgut: Es ist ein Kunstwerk, das jede:r von uns trägt. Alles, was lebt, gibt und entdeckt Formen. Diese philosophische Annahme verkörpert die Mode für sie und ist damit die radikalste unter den Kunstformen, denn sie findet jeden Tag auf der Straße statt. Die Vielfalt des Lebens, die Micheles Kreationen zeigen und die Coccias Philosophie feiert, bildet den Ausgangspunkt für einen radikal neuen Blick auf Kleidung, Identität und Freiheit. Die Freundschaft der beiden ist ein philosophischer Glücksfall.
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Philosophie Anders als wir es uns gewöhnlich vorstellen, hat es die Mode nicht immer gegeben. Selbstverständlich haben sich die Menschen schon immer gekleidet: Seit jeher haben wir die Materie der Welt manipuliert, um Artefakte zu konstruieren, die unsere Körper vor Temperaturschwankungen bewahren, umhüllen und neu gestalten sollten. Aber jahrhundertelang hatte diese Praxis entweder biologische oder ausschließlich soziale Funktionen. Man versuchte damit, die Körpertemperatur zu regulieren, sich vor klimatischen Widrigkeiten zu schützen oder aber die Individuen zu kennzeichnen, indem man sie nach Ordnungen, Klassen, Berufs- oder Gesellschaftsgruppen aufteilte, mithilfe derer das politische System die Bevölkerung kategorisierte. Über Jahrhunderte hinweg, und nicht nur in Europa, war der Kleidungsstil ein treuer Spiegel der ethnischen Herkunft, des Vermögens, des Geschlechts und des Berufs der Individuen. Das moderne Modesystem entsteht in dem Moment, in dem an die Stelle dieser instrumentellen Funktionen — seien sie nun biologischer, klimatischer oder sozialer Natur — das Streben nach Freiheit tritt: Nicht nur wird man frei, sich so einzukleiden, wie man wünscht, sondern der springende Punkt bei der Herstellung und Auswahl der Kleidung wird die Erfahrung der Freiheit. Die Kleidungsstücke und die Accessoires sollen es dem Einzelnen nicht mehr ermöglichen, sich an eine Regel zu halten, sondern eine Freiheit zu entdecken, zu gestalten und zu erleben, die ohne diese Kleidung nicht möglich ist. Als aus den Kleidungssitten eine Kunst wird, entsteht in konzeptioneller Hinsicht das moderne Modesystem. Denn Kunst bedeutet im Abendland die Gesamtheit aller Techniken zur Manipulation der Materie, die es denjenigen, die sie verwenden, aber auch denjenigen, die sie rezipieren, ermöglichen, die eigene Freiheit auszudrücken und zu vergrößern oder zu intensivieren. Lange Zeit verfügten wir über keine spezifische Bezeichnung, die die menschlichen Tätigkeiten zusammengefasst hätte, die wir heute als eng miteinander verbunden betrachten: Malerei, Bildhauerei, Architektur, Theater und später Kino, Keramik oder Design galten als wenig prestigeträchtige Tätigkeiten, unter der Würde freier Menschen. Sowohl im antiken Griechenland als auch in Rom waren es die Sklaven, die dafür zuständig waren, aus naheliegenden Gründen: Malen oder Bildhauen bedeutete, sein Leben in unmittelbarer Berührung mit den unterschiedlichsten Materialien zu verbringen (Leinen, Pigmente, Marmor, Bronze) und gezwungen zu sein, den Anforderungen der Materie zu folgen, statt dieser eine Form von Freiheit aufzuerlegen. Lukian von Samosata, der griechische Schriftsteller aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., konnte den Bildhauer noch als »gemeinen Arbeiter, der von der Tätigkeit seiner Hände lebt«, definieren, gekleidet in »Sklavengewänder«, »zur Erde gebeugt«, kniend vor den Mächtigen der Welt, unfähig, zu denken und Freiheit zu erleben. In ähnlicher Weise sprach Plutarch von der Malerei als einer Aktivität, die Bediensteten vorbehalten sei, unwürdig für Könige oder Königinnen, Ritter, Adlige oder freie Menschen. Die Vorstellung, mit den Händen zu arbeiten, war gemessen am Ideal der Tugend nur »eine nutzlose Tätigkeit, ohne Bezug zur wahren Schönheit«. Auf der Grundlage dieser Prinzipien wurden jahrhundertelang die mechanischen Künste von den »freien Künsten« unterschieden, wörtlich den »Techniken der Freiheit«, die laut einer mittelalterlichen Enzyklopädie »freie Geister erforderten« und die von ihnen vorausgesetzte Freiheit vergrößerten. Die Revolution fand im 15. Jahrhundert statt, als einige Intellektuelle in Italien behaupteten, dass man durch die Bildhauerei oder Malerei nicht nur seine Souveränität und Freiheit zum Ausdruck bringen konnte, wie dies auch beim Sprechen der Fall war, sondern dass der Kontakt mit materiellen Artefakten (den Kunstwerken) in den Betrachtern auch die Empfindung von Freiheit verstärkte. Die Mode wurde geboren, als man der Kleidung, genauer gesagt, der Art, diese zu konzipieren und zu tragen, den gleichen Stellenwert zugestand wie den anderen Künsten. Diese Transfiguration fand im Abendland zwischen dem Ende des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts statt. Die Gründe für diese Metamorphose sind nicht nur politischer und technischer Natur, sondern in erster Linie ästhetisch. Von dem Zeitpunkt an, an dem die künstlerischen Avantgarden in Europa es zur vornehmsten Bestimmung der Kunst erklärten, mit dem Leben zusammenzufallen, um dessen Freiheit vor der Standardisierung durch die industrielle Revolution und die Massengesellschaft zu bewahren, wurde die Mode nicht nur zu einer der Künste, sondern zur radikalsten und vollständigsten Form künstlerischer Praxis — der Manipulation und des Gebrauchs der Materie, um eine besondere Form von Freiheit zu erzeugen und zu genießen. Ein Gewand ist tatsächlich das universellste Artefakt, das es in menschlichen Gesellschaften geben kann. Es wird von allen benutzt, unabhängig von Klasse, Alter, geografischer Herkunft, Religion, ethnischer Identität oder Geschlecht. Und wir verwenden es täglich, an Arbeits- wie an Feiertagen. Die Besonderheit der Zeitabschnitte wird dabei durch die Kleidung markiert, die wir rund um die Uhr benötigen. Sogar beim Schlafen, im Bett, müssen wir unserer Anatomie mithilfe des Nachtgewands eine spezifische Gestalt verleihen. Aber nicht nur das: Der Gebrauch dieser Artefakte ist keineswegs rein kontemplativer Natur. Das Tragen eines Kleidungsstücks kommt einer Umkehr unseres üblichen Verhältnisses zu einem Kunstwerk gleich: Statt es auf Distanz zu halten, an einem von unserem Alltag getrennten Ort, und folglich nur sporadisch damit in Kontakt zu kommen, umhüllen wir damit unseren Körper, verschmelzen mit ihm und lassen zu, dass dadurch unsere Identität geformt wird. Die Kleidung ist zum idealen Werkzeug geworden, um Kunst und Leben in Einklang zu bringen, um das Leben in etwas zu verwandeln, das vollständig von der Kunst geprägt und definiert wird. Deshalb ist die von der Mode ermöglichte Freiheit unvergleichlich intensiver und umfassender als die jeder anderen Kunst. Keine andere Kunst hat so offensichtlich und körperlich greifbar das Leben zum Gegenstand und Ort ihrer Existenz gemacht wie die Mode. Mit der Kleidung beschränken wir uns nicht darauf, über unser Aussehen zu entscheiden: Wir machen unser Dasein zu etwas Künstlichem, Konstruiertem, willkürlich Festgelegtem gemäß unseren ganz unterschiedlichen Wünschen und Bedürfnissen. Nachdem die Kleidungsstücke zum Ausdruck einer Kunst geworden waren — zu Formen und Techniken der Freiheit —, mussten sie keine biologischen Funktionen mehr erfüllen. Sie müssen heutzutage auch nicht mehr grobe, vorgegebene Unterschiede zwischen den Trägern bestätigen oder zur Schau stellen, die andernorts und von anderen Personen festgelegt wurden, wie hinsichtlich der Nationalität, der Religion oder des Berufs. Kleidungsstücke erfinden jetzt selbst feine Unterschiede, die keinen anderen Ort und keine andere Konsistenz haben als ihre eigene empfindliche und flüchtige Gestalt. Sie sind nicht mehr das Zeichen von etwas anderem, sondern ein Zeichen der Bewegung, durch die die Körper ständig Diversität erzeugen, jeder im Verhältnis zu den anderen, aber auch im Verhältnis zu sich selbst. Ein Kleidungsstück ist die subtile Unähnlichkeit, die es jedem von uns im Inneren unseres Bewusstseins erlaubt, einen Tag vom anderen zu unterscheiden, was auch für Jahreszeiten oder Stimmungen gilt. Es scheint, als ob durch die Mode unsere tiefliegendste psychische Identität, angesiedelt unterhalb unseres Passeintrags und anderen offiziellen Formen der Individualität, eine Plattform für Spiel, Freiheit und unendlich viele Ausdrucksformen gefunden hätte. Das ist auch der Grund, weshalb die Mode sich zur konzeptionellsten und...