Coe | Middle England | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 148, 480 Seiten

Reihe: Transfer Bibliothek

Coe Middle England


1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-99037-101-5
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, Band 148, 480 Seiten

Reihe: Transfer Bibliothek

ISBN: 978-3-99037-101-5
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Der Brexit spaltet die britische Gesellschaft und ganz Europa - Coes klug-ironische Komödie zeigt, wie es dazu kommen konnte. Benjamin Trotter zieht in eine romantische Wassermühle in die Grafschaft Shropshire, ins Herz des ländlichen England, um seinen Roman, an dem er schon 30 Jahre arbeitet, zu beenden. Seine Nichte Sophie fühlt sich im multikulturellen London zu Hause, lebt aber nach der Heirat mit ihrem Mann in der Provinz und spürt ein zunehmendes Unbehagen; ist auch er so fremdenfeindlich wie seine Mutter? Doug, Journalist und Labour-Anhänger, schämt sich für sein luxuriöses Leben im reichen Chelsea, das sich kaum jemand noch leisten kann. In den vermeintlich idyllischen Midlands mit festen Werten und Traditionen kommt eine bizarre Sehnsucht nach Englishness auf, und eine tiefe Kluft zieht in diesem abgehängten Landesteil durch alle menschlichen Beziehungen. Ab wann lief alles schief? Dieser unterhaltsame und fein gesponnene Gesellschaftsroman blickt tief in die Seele des englischen Wesens.

Jonathan Coe, 1961 in Birmingham geboren, studierte in Cambridge und Warwick, lebt in London. Er zählt zu den wichtigsten und witzigsten lebenden zeitgenössischen britischen Autoren. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Prix Médicis, Ordre des Arts et des Lettres. Seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt: u. a. Die Familie Winshaw, Das Haus des Schlafes, Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim. Zuletzt auf Deutsch bei Folio ist erschienen: Nummer 11 (2017).

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Weitere Infos & Material


Merrie England

Deep England

Old England

Anmerkungen des Autors
Anmerkungen der Übersetzer


1
April 2010 Die Trauerfeier war vorüber. Nach und nach verließen die Gäste den Umtrunk. Benjamin beschloss, ebenfalls aufzubrechen. „Dad?“, sagte er. „Ich denke, ich geh dann mal.“ „Gut“, sagte Colin. „Ich komm mit.“ Sie gingen zur Tür und schafften es nach draußen, ohne sich von jemandem zu verabschieden. Die Dorfstraße lag verlassen und still im fahlen Sonnenlicht. „Vielleicht sollten wir nicht einfach so gehen“, sagte Benjamin und sah unschlüssig zum Pub zurück. „Warum nicht? Ich habe mit allen geredet, mit denen ich reden wollte. Komm jetzt, bring mich zum Auto.“ Benjamin hielt seinem Vater den Arm hin, damit dieser sich leicht an ihm festhalten konnte. So war er besser auf den Beinen. Im Schneckentempo bewegten sie sich die Straße entlang zum Parkplatz des Pubs. „Ich will jetzt nicht nach Hause“, sagte Colin. „Das wäre zu viel für mich, ohne sie. Nimm mich mit zu dir.“ „Na klar“, sagte Benjamin, obwohl ihm das überhaupt nicht behagte. Die Aussicht auf das, was er sich vorgenommen hatte – Alleinsein, Innehalten, ein kühles Glas Cider am alten schmiedeeisernen Tisch, dazu das Murmeln des Flusses, der auf seiner zeitlosen Bahn vorbeiplätscherte –, löste sich in Luft auf und verschwand im Nachmittagshimmel. Egal. Heute musste er sich um seinen Vater kümmern. „Möchtest du bei mir übernachten?“ „Ja“, sagte Colin, ohne sich zu bedanken. Das tat er mittlerweile kaum noch. Es herrschte viel Verkehr, und die Fahrt zu Benjamins Haus dauerte fast eineinhalb Stunden. Sie fuhren durch das Herz von Mittelengland und folgten mehr oder weniger dem Lauf des Flusses Severn über Bridgnorth, Alveley, Quatt, Much Wenlock und Cressage, eine beschauliche, unspektakuläre Fahrt, bei der Tankstellen, Pubs und Gartenzentren die einzige Abwechslung bildeten, während braune Hinweisschilder dem gelangweilten Reisenden abseits der Route gelegene Verlockungen wie Tierparks, historische Sehenswürdigkeiten oder Botanische Gärten in Aussicht stellten. An jedem Ortseingang stand nicht nur ein Schild mit dem Namen des jeweiligen Dorfes, sondern auch eine blinkende Geschwindigkeitsanzeige, die Benjamin daran erinnerte, dass er zu schnell fuhr. „Echt ein Alptraum, diese Radarkontrollen“, sagte Colin. „Bei jeder Gelegenheit wollen diese Arschgeigen einem noch mehr Geld abknöpfen.“ „Na ja, eher Unfälle verhindern“, erwiderte Benjamin. Sein Vater grunzte abfällig. Benjamin machte das Radio an, das wie immer auf BBC Three eingestellt war. Er hatte Glück: der langsame Satz von Faurés Klaviertrio. Die melancholischen, schlichten Konturen der Melodie waren nicht nur die passende Begleitung zu den Erinnerungen an seine Mutter, die ihm (und vermutlich auch Colin) heute durch den Kopf gingen, sondern schienen zudem in klanglicher Form sowohl die sanften Kurven der Straße, als auch die gedeckten Grüntöne der Landschaft widerzuspiegeln, durch die er und sein Vater fuhren. Dass diese Musik unverkennbar französisch war, spielte keine Rolle: Sie besaß etwas Verbindendes, war von einer gemeinschaftlichen Stimmung erfüllt. Benjamin fühlte sich in dieser Musik voll und ganz zu Hause. „Mach doch das Gedudel aus“, sagte Colin. „Können wir nicht die Nachrichten hören?“ Benjamin wartete die letzten dreißig oder vierzig Sekunden des Satzes ab und schaltete dann auf BBC Four um. Dort lief die Nachrichtensendung PM, und sofort befanden sie sich in der vertrauten Welt des Gladiatorenkampfes zwischen Interviewer und Politiker. In einer Woche standen die Parlamentswahlen an. Colin würde wieder die Konservativen wählen, wie er das bei jeder britischen Wahl seit 1950 getan hatte, und Benjamin war (wie immer) noch unentschieden, außer dass er beschlossen hatte, überhaupt nicht zu wählen. Nichts von dem, was sie in den nächsten sieben Tagen im Radio hören würden, würde daran etwas ändern. Heute war die große Meldung, dass Premierminister Gordon Brown, der um seine Wiederwahl kämpfte, eine kritische Labour-Wählerin bei einer Wahlkampfveranstaltung als „borniert“ bezeichnet hatte, ohne zu merken, dass sein Mikro noch eingeschaltet war – ein Patzer, den die Medien nur allzu gern ausschlachteten. „Der Premierminister hat sein wahres Ich gezeigt“, sagte ein konservativer Abgeordneter fröhlich. „Jeder, der diese berechtigten Ansichten äußert, ist in seinen Augen borniert. Und genau deshalb können wir in diesem Land auch keine ernsthafte Debatte über Einwanderung führen.“ „Aber ist es nicht so, dass auch Mr. Cameron, Ihr eigener Parteiführer, sich genauso ablehnend …“ Benjamin drehte das Radio kommentarlos ab. Eine Weile fuhren sie schweigend weiter. „Sie konnte Politiker nicht ausstehen“, sagte Colin und legte damit einen verborgenen Gedankengang offen, ohne weiter erklären zu müssen, wer mit „sie“ gemeint war. Er sprach mit leiser Stimme, die voller Bedauern und unterdrückter Rührung war. „Für sie war einer schlimmer als der andere. Alles nur Betrüger und Lügner, quer durch die Bank. Falsche Spesenabrechnungen, Steuerhinterziehung, dazu ein halbes Dutzend anderer Pöstchen …“ Benjamin nickte, während er sich daran erinnerte, dass es in Wahrheit Colin gewesen war, der immerzu über die korrupten Politiker gewettert hatte, und nicht seine verstorbene Frau. Das war immer noch eines der wenigen Themen, bei denen dieser sonst so wortkarge Mann ins Reden kam, und vielleicht wäre es ja am besten, genau das jetzt zuzulassen, um ihn von schmerzvolleren Gedanken abzulenken. Aber Benjamin wollte das nicht. Heute hatten sie sich von seiner Mutter verabschiedet, und er war nicht bereit, die Würde dieses Anlasses durch eine Schimpftirade seines Vaters beschmutzen zu lassen. „Was ich an Mum immer mochte“, sagte er, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, „war, dass sie bei solchen Sachen nicht bitter wurde. Wenn sie etwas nicht gut fand, wurde sie nicht wütend, sondern eher … traurig.“ „Ja, sie war eine gute Seele“, pflichtete Colin ihm bei. „Eine der besten.“ Er redete nicht weiter, aber nach ein paar Sekunden zog er ein ziemlich verdrecktes Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich damit langsam und sorgfältig die Augen ab. „Das wird jetzt komisch für dich sein“, sagte Benjamin, „so ganz allein. Aber du schaffst das, da bin ich mir sicher.“ Colin starrte ins Leere. „Fünfundfünfzig Jahre waren wir zusammen …“ „Ich weiß, Dad. Das wird sicher hart. Aber Lois ist ja immer wieder in der Nähe. Und ich bin auch nicht weit weg. Also nicht so richtig.“ Sie fuhren weiter. Benjamin wohnte in einer umgebauten Mühle am Ufer des Severn, am Rand eines nordöstlich von Shrewsbury gelegenen Dorfes. Das Haus war nur über eine einspurige Straße zu erreichen, die von ausladenden alten Bäumen und dichten Hecken gesäumt war. Er war Anfang des Jahres an diesen unglaublich abgelegenen und einsamen Ort gezogen, nachdem der Verkauf seiner Zweizimmerwohnung im Londoner Stadtviertel Belsize Park den Erwerb ermöglicht und zudem noch genügend Kapital übrig gelassen hatte, um für die nächsten paar Jahre seinen bescheidenen Lebensstil zu finanzieren. Die Mühle war viel zu groß für einen alleinstehenden Mann, wobei er zum Zeitpunkt des Kaufes nicht alleinstehend gewesen war. Es gab vier Schlafzimmer, zwei Wohnzimmer, ein Esszimmer, eine weiträumige offene Küche mit einem AGA-Herd und ein Arbeitszimmer mit großen Bleiglasfenstern, die auf den Fluss hinausgingen. Bis jetzt hatte sich Benjamin hier nicht nur sehr wohlgefühlt, er konnte auch die anfänglichen Bedenken von Familie und Freunden zerstreuen, mit dem Umzug einen schrecklichen Fehler gemacht zu haben. Das Haus besaß viele tückische Winkel und schmale, steile Treppen. Es war ein denkbar ungeeigneter Ort für seinen zweiundachtzigjährigen Vater. Trotzdem gelang es Benjamin, wenngleich unter Schwierigkeiten, ihn aus dem Auto zu befördern, die Treppe hinauf ins Wohnzimmer, über eine weitere Treppe – kürzer, aber mit einem fiesen rechtwinkligen Knick – in die Küche, durch die Hintertür und dann die Eisenstufen hinunter auf die Terrasse. Er holte ihm ein Kissen, schenkte ihm eine Dose Lagerbier ein, setzte sich zu ihm und machte sich schon auf eine schleppende Unterhaltung am Flussufer gefasst, als er ein Auto vorfahren hörte. „Wer zum Teufel ist das?“ Colin, der nichts gehört hatte, sah ihn nur fragend an. Benjamin sprang auf und ging eilig ins...


Jonathan Coe, 1961 in Birmingham geboren, studierte in Cambridge und Warwick, lebt in London. Er zählt zu den wichtigsten und witzigsten lebenden zeitgenössischen britischen Autoren. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Prix Médicis, Ordre des Arts et des Lettres. Seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt: u. a. Die Familie Winshaw, Das Haus des Schlafes, Die ungeheuerliche Einsamkeit des Maxwell Sim. Zuletzt auf Deutsch bei Folio ist erschienen: Nummer 11 (2017).



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