E-Book, Deutsch, Band 158, 280 Seiten
Reihe: Transfer Bibliothek
Coe Mr. Wilder und ich
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-99037-112-1
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 158, 280 Seiten
Reihe: Transfer Bibliothek
ISBN: 978-3-99037-112-1
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
In seinem neuen Roman zeichnet Bestseller-Autor Jonathan Coe ein faszinierendes Porträt der Hollywood-Legende Billy Wilder. Los Angeles, Sommer 1976: Durch einen verrückten Zufall lernt die junge Athenerin Calista einen witzigen Herrn mit österreichischem Akzent kennen, ohne zu ahnen, dass es das Kino-Genie Billy Wilder ist, Schöpfer von unsterblichen Filmen wie Manche mögen's heiß. Die Begegnung wird ihr Leben verändern. Als Dolmetscherin begleitet sie den Regisseur und seine glamouröse Filmcrew auf die verschlafene griechische Insel Madouri, wo er seinen vorletzten Film Fedora dreht, dann weiter nach München und Paris. Während es für sie eine traumwandlerische Reise ist, sieht sich der jüdische Exilant Wilder mit seiner Geschichte konfrontiert. Mit grandiosem Witz und feiner Ironie zeichnet Coe ein schillerndes Bild des Meisters der Komödie.
Jonathan Coe, 1961 in Birmingham geboren, lebt in London. Er zählt zu den wichtigsten und humorvollsten britischen Autoren der Gegenwart. Zahlreiche Auszeichnungen. Seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt, zuletzt auf Deutsch bei Folio sind erschienen: Nummer 11 (2017) und der Brexit-Roman und Bestseller Middle England (2020).
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London
Danksagungen, Quellen und Anmerkungen
London
An einem Wintermorgen vor sieben Jahren nahm ich eine der Rolltreppen, mit denen man im U-Bahnhof Green Park von den Bahnsteigen der Piccadilly Line hinauf zur Straßenebene gelangt. Wer schon einmal mit diesen Rolltreppen gefahren ist, weiß, wie lang sie sind. Die Fahrt von unten nach oben dauert ungefähr eine Minute, und für eine ungeduldig veranlagte Person wie mich ist eine Minute Stillstehen zu lang. Obwohl ich es an jenem Morgen nicht besonders eilig hatte, begann ich nach wenigen Sekunden, die Stufen der Rolltreppe hochzusteigen, vorbei an den Fahrgästen, die auf der rechten Seite Wurzeln geschlagen hatten – und dachte währenddessen bei mir, „Du gehst zwar auf die sechzig zu, hast es aber immer noch drauf, du bist noch fit“ –, bis ich nach etwa drei Vierteln des Aufstiegs nicht weiterkam. Rechts stand eine junge Mutter und links ihre Tochter, ein Mädchen von vielleicht sieben oder acht Jahren, das ihre Hand hielt. Es hatte blonde Haare und trug einen roten Regenmantel mit Kapuze, in dem es ein bisschen so aussah wie das kleine Mädchen, das am Anfang von Wenn die Gondeln Trauer tragen in einem Teich ertrinkt. (Alles erinnert mich an einen Film, ich kann mir nicht helfen.) Es war nicht genügend Platz, um mich an dem Mädchen vorbeizuschieben, und überhaupt wollte ich diesen schönen Moment der Verbundenheit zwischen Mutter und Kind nicht stören. Daher wartete ich, bis die beiden das obere Ende der Rolltreppe erreichten, und sah zu, wie die Kleine sich zum Absprung bereitmachte. Sogar von hinten merkte ich ihr an, wie sehr sie diesem Moment entgegenfieberte, wie sie den Blick gebannt auf das nunmehr ebene Laufband zu ihren Füßen gerichtet haben musste und mit geballter Anspannung in den winzigen Gliedern und Muskeln auf den richtigen Zeitpunkt lauerte, um dann, als es so weit war, mit einer plötzlichen, ungestümen Bewegung abzuspringen und sicher auf festem Boden zu landen, woraufhin sie, zweifellos erleichtert und beschwingt von der Aktion, zwei kleine Hopser machte und dabei ihre Mutter an der Hand leicht mit nach vorn zog. Und ich glaube, mehr als alles andere müssen es diese Hopser gewesen sein, die mich ins Herz trafen, die mir den Atem verschlugen und dazu führten, dass ich der Mutter und ihrer Tochter mit wehmütigem Staunen hinterherschaute, während sie zusammen weiter zur Ticketschranke gingen. Ich musste an meine eigenen Töchter denken, Francesca und Ariane, die keine Kinder mehr waren, und daran, wie es ihnen mit sieben oder acht Jahren manchmal nicht genügt hatte, einfach nur zu laufen, es musste sich zu gewöhnlich angefühlt haben, zu langweilig, um ihrer unbändigen Freude an der Bewegung, an der aufregenden Neuheit ihrer Beziehung zur physischen Welt Ausdruck zu verleihen, weswegen auch sie manchmal unvermittelt einen Satz oder Hopser machten und mich dabei mit nach vorn zogen, jede an einer Hand, und manchmal machte ich ebenfalls einen Satz, um mit ihnen mitzuhalten und ihnen zu zeigen, dass ich ihre Freude an der Welt teilen konnte, dass mein mittleres Alter sie mir noch nicht ausgetrieben hatte. Das alles schoss mir durch den Kopf, während ich zusah, wie Mutter und Tochter in Richtung Ticketschranke davongingen, und die Gedanken schwollen an und verdichteten sich zu einem einzigen vorübergehenden, aber überwältigenden Gefühl des Verlusts und der Sehnsucht, das mich erschrocken nach Luft ringen ließ und mich zwang, einen Augenblick innezuhalten, aus dem unaufhörlichen Strom der Passanten herauszutreten, tief durchzuatmen und mit der Hand auf dem Brustbein zu verharren, bis ich bereit war, mich wieder in den Strom einzureihen, meinen Weg fortzusetzen, die Oyster Card an den Kartenleser zu halten, die Schranke zu passieren und dann auf den Ausgang zur Piccadilly zuzusteuern, dem fahlen Morgenlicht entgegen. Langsam ging ich die Piccadilly entlang und dachte darüber nach, was die Szene auf der Rolltreppe bei mir ausgelöst hatte. Morgen würde Ariane, die ältere meiner Zwillinge (um fünfundvierzig Minuten älter) von zu Hause fortgehen und ans andere Ende der Welt fliegen. Meine Aufgabe würde es sein, sie nach Heathrow zu fahren, ihr im Flughafenterminal Lebewohl zu sagen und dabei so zu tun, als empfände ich nichts als ungetrübte Freude über die wunderbaren Möglichkeiten, die sie in Sydney erwarteten. Und dann würden mein Mann und ich mit Fran zurückbleiben, mit dem Problem von Fran, mit Fran, die in den letzten Wochen plötzlich und auf dramatische Weise von einem Kind zu einem Problem geworden war, ein Problem, das uns beide kalt erwischt hatte und das uns auch weiterhin zusetzen würde, bis wir einen Weg gefunden hätten, der durch den Schlamassel, den sie angerichtet hatte, hindurchführte und auf der anderen Seite heraus. Aber noch war dieser Weg nicht in Sicht. Was ich auf der Piccadilly vorgehabt hatte, war rasch erledigt. Ich ging zu Fortnum & Mason, um Ariane ein Abschiedsgeschenk zu besorgen, und musste nicht lange suchen: Tee. Sie liebte Tee – für sie schmeckte er nach Zuhause – und ich hatte ihn immer gern für sie zubereitet. Ich kaufte eine Packung mit sechs verschiedenen Sorten, dazu eine kleine silberne Teekanne mit Sieb, und versuchte mir vorzustellen, wie sie in irgendeinem gesichtslosen Studentenzimmer in Sydney Tee aus dieser Kanne in ihren Union-Jack-Becher schenkte und einen Schluck nahm und in Gedanken wieder daheim in unserer Küche saß, die Ellenbogen auf den alten Tisch aus Kiefernholz gestützt und ihr Haar in den Schimmer des sanften Sonnenlichts getaucht, das durch die Zweige des Apfelbaums draußen im winterlichen Garten fiel. Vielleicht würde sie das trösten. Oder, was noch besser wäre und mir obendrein wahrscheinlicher erschien: Vielleicht würde sie gar keinen Trost brauchen. Es war das Jahr 2013, die erste Januarwoche, jene verwirrende Zeit, in der die Festtage vorbei sind, die Welt aber noch nicht ganz zur Normalität zurückgekehrt ist. Ich hatte das Bedürfnis, etwas zu tun, das sich nach Routine, nach Alltag anfühlte, und beschloss, in der Bar der British Academy of Film and Television Arts einen Kaffee trinken zu gehen. Vielleicht würde jemand dort sein, den ich kannte. Es konnte mir nicht schaden, ein bisschen zu plaudern und Klatsch und Belanglosigkeiten auszutauschen. Die Bar war fast leer und verströmte noch einen Hauch von nachweihnachtlicher Trostlosigkeit. Es war nur einer da, den ich kannte, und der saß allein an einem Zweiertisch vor der Fensterfront zur Straße. Mark Arrowsmith. Nicht gerade meine erste Wahl für einen netten Plausch. Aber wie heißt es doch so schön? In der Not schmeckt jedes Brot. Dann eben Mark. Ich ging hinüber zu seinem Tisch und wartete, bis er von seinem MacBook aufsah. „Calista“, sagte er. „Darling! Welch schöne Überraschung.“ „Darf ich?“ „Aber sicher doch.“ Er klappte den Laptop zu und räumte einige Papiere beiseite, um Platz für den Cappuccino zu schaffen, den ich mir bereits am Tresen geholt hatte. „Entschuldige das Durcheinander“, sagte er. „Nächste Woche treffe ich mich endlich mit den Leuten von Film 4. Sie wollen einen Finanzplan sehen, was eigentlich nur bedeuten kann, dass sie jetzt doch ernsthaft interessiert sind.“ Er ordnete die letzten Unterlagen zu einem Stapel und verstaute ihn in einer Plastikmappe. Mark musste inzwischen Ende sechzig sein. Obwohl er nicht annähernd so sportlich gebaut war, hatte er etwas von Burt Lancaster in Local Hero. (Wie gesagt, alles und jeder erinnert mich an einen Film.) Er hatte die Augen eines Träumers – oder zumindest hatte er sie früher einmal gehabt, denn inzwischen waren sie vom Scheitern getrübt. Mark versuchte seit mindestens fünfundzwanzig Jahren, ein und denselben Film auf die Leinwand zu bringen. Irgendwann in den Achtzigerjahren hatte er eine Option auf die Filmrechte an einem Roman von Kingsley Amis erworben – ein Name, der damals noch ein gewisses Prestige besaß. Eigentlich war das Vorhaben ganz realistisch gewesen, und Mark hatte sogar einen bekannten Regisseur und drei oder vier zugkräftige Schauspieler dafür gewonnen. Doch aus irgendeinem Grund war die Finanzierung im letzten Moment geplatzt, und dann war der Regisseur abgesprungen, und dann waren zwei der Schauspieler abgesprungen, und einer von den anderen sah inzwischen nicht mehr so zugkräftig aus, und ehe er sich’s versah, hatte das Projekt einen unguten Beigeschmack angenommen, den alle bemerkten, außer Mark. Als Produzent konnte er zwar schon ein paar recht erfolgreiche Produktionen für sich verbuchen – einen Spielfilm und ein Fernsehspiel für BBC Two –, aber seither hatte er nichts mehr gemacht, und das Bestreben, seine dämliche Kingsley-Amis-Adaption ins Werk zu setzen, war zu einer Obsession geworden. In der BAFTA-Bar gehörte er mittlerweile zum Inventar. Immerzu saß er allein mit seinem MacBook an einem Zweiertisch und wartete darauf, sich mit jemandem zu treffen, der die fünfzehnte Fassung des Drehbuchs gelesen hatte (oder nicht), oder der vielleicht jemanden kannte, der jemanden kannte, der für einen Hedgefonds arbeitete und eventuell am Ende des...