Cremer | Sozial ist, was stark macht | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Cremer Sozial ist, was stark macht

Warum Deutschland eine Politik der Befähigung braucht und was sie leistet
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-451-83126-3
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Warum Deutschland eine Politik der Befähigung braucht und was sie leistet

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-451-83126-3
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der deutsche Sozialstaat ist gut ausgebaut, aber er leistet nicht genug gegen gesellschaftliche Spaltung. So wichtig Umverteilung ist, Geld allein kann Gerechtigkeit nicht erzwingen. Um teilhaben zu können, müssen alle Bürgerinnen und Bürger ihre Potentiale entfalten können. Eine Politik der Befähigung, wie sie Georg Cremer in diesem Buch vorstellt, fördert Selbstsorge und Autonomie, ohne die Fürsorge zu vernachlässigen. Sie stärkt zugleich die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats. Und sie ermöglicht einen Mittelweg zwischen dem illusionären Wunsch nach völlig anderen Verhältnissen und der resignativen Kapitulation vor verfestigter sozialer Ungleichheit. Sozial ist, was Menschen schützt und sie zugleich stärkt.
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1. Einleitung: Vor sozialer Spaltung nicht kapitulieren!
Sozial ist, was Menschen stark macht. Das hört man immer wieder mal auch von Debattanten, die den Sozialstaat in der Erwartung zurückstutzen wollen, Menschen würden, wenn sie gezwungen sind, ohne Hilfe zu gehen, von alleine stark. Aber darum geht es in diesem Buch nicht. Menschen zu stärken bedeutet, sie dabei zu unterstützen, ein Leben zu führen, das sie wertschätzen, und ihnen so Macht über ihr Leben zu geben. Das gelingt nicht ohne einen Rechts- und Sozialstaat, der Menschen schützt und ihnen zugleich Möglichkeiten eröffnet, ihre Potentiale zu entfalten. Es geht somit im Folgenden nicht um weniger gesellschaftliche Verantwortung, sondern um einen erweiterten Blick, wie wir ihr gerecht werden wollen. Der deutsche Sozialstaat ist gut ausgebaut, aber er leistet nicht genug gegen gesellschaftliche Spaltung. So wichtig Umverteilung ist, Geld allein kann Gerechtigkeit nicht erzwingen. Welche Chancen Menschen offenstehen, darüber entscheidet in Deutschland wie anderenorts auch der Zufall der Geburt. Die Natur verteilt ihre Gaben höchst ungleich, aber es ist nicht die Natur allein. Kinder werden in Familien hineingeboren, die arm oder wohlhabend sind, wachsen in einer Familie auf, die zerbricht, oder können sich einer dauerhaften Beziehung ihrer Eltern erfreuen, haben Eltern, die sie ermutigen und an ihrer Entwicklung hohen Anteil nehmen, die selbst Bildung erfahren haben und diese hochschätzen, oder Eltern, die ihre Kinder weit weniger unterstützen können. Wer ermutigt wird, traut sich mehr zu und ihm wird mehr zugetraut. So entwickelt er die Überzeugung, dass er handeln kann und damit Wirkung erzeugt, und so verstärken sich die sozialen Unterschiede, mit denen Kinder ins Leben starten. Das muss man nicht als gottgegeben hinnehmen. Die Antwort des Sozialstaats ist Umverteilung. Umverteilung mildert soziale Ungleichheit; der Sozialstaat in Deutschland leistet dies in erheblichem Umfang. Aber Umverteilung reicht nicht, um Menschen stark zu machen, damit sie ihr Leben in die eigenen Hände nehmen können. Es gibt zahlreiche Gerechtigkeitsfragen, die sich stellen, bevor der umverteilende Sozialstaat zum Zuge kommt, etwa der Zugang zu guter Bildung oder auskömmlicher produktiver Arbeit. So unverzichtbar Umverteilung in einem Sozialstaat ist, sie hat ihre Grenzen. Auch wenn sich politische Mehrheiten fänden, sie auszubauen, die Auswirkungen auf die soziale Spaltung wären gering, wenn nicht zugleich Fragen sozialer Gerechtigkeit jenseits materieller Verteilung und Umverteilung bearbeitet werden. Wenn der Zufall von Geburt und sozialer Herkunft weiterhin so stark wirkt, wie er heute wirkt, gibt es auch künftig zu viele Menschen, die vom Sozialstaat zwar versorgt, aber nicht gestärkt werden. Wie können wir weiterkommen? Erforderlich ist ein breiteres Verständnis sozialer Gerechtigkeit, das nicht verteilungspolitisch verengt ist.1 Gerechtigkeit ist kein Synonym für Gleichheit. Es gibt gerechte und ungerechte Ungleichheiten, so wie es gerechte und ungerechte Gleichheiten gibt.2 Wir akzeptieren Ungleichheit, soweit sie mit Leistungen zu rechtfertigen ist – trotz aller Kontroversen, was jeweils als Leistung belohnungswürdig ist. Dabei soll Chancengerechtigkeit gelten, aber was verstehen wir darunter? In einem engen Verständnis von Chancengerechtigkeit kommt es allein darauf an, dass Diskriminierung unterbunden wird, insbesondere Diskriminierung nach Geschlecht, sozialer oder ethnischer Herkunft. Der Zugang zu Bildungsoptionen oder Arbeitsstellen soll schlicht nach dem Leistungspotential erfolgen, das Bewerberinnen und Bewerber zeigen. Dann aber kommen Menschen aus dem Abseits häufig nicht zum Zuge, nicht, weil sie im konkreten Fall diskriminiert würden, sondern weil sie nie in der Situation waren, die Leistungspotentiale zu entwickeln, die jeweils entscheidend sind. Zum Abbau sozialer Ungleichheit kann ein eng verstandenes Konzept von Chancengerechtigkeit wenig beitragen. Der Wunsch, Chancengleichheit zu erreichen, würde dagegen bedeuten, die Zufälle der Natur und das Schicksal der sozialen Herkunft aufheben zu wollen. Dieser Wunsch, so verständlich er ist, bringt uns in das Reich politisch folgenloser utopischer Gegenentwürfe. Er bringt uns auch in Widerspruch zu den Zusagen einer liberalen Gesellschaft, die die Freiheit des Einzelnen schützt. In Wahrnehmung ihrer Grundrechte treffen Bürgerinnen und Bürger vielfältige Entscheidungen, die zu sozialer Differenzierung und damit Ungleichheit führen. Man kann es bildungsbürgerlichen Eltern nicht verdenken, dass sie alles tun, was in ihrer Macht steht, damit ihre Kinder gestärkt und mit besten Kompetenzen ins Leben treten. Also doch kapitulieren vor den ungleichen Startbedingungen? Nein, das ist nicht die Schlussfolgerung, die zu ziehen ist. Damit mehr Aufstiege aus dem Abseits gelingen, brauchen wir ein stark erweitertes Konzept von Chancengerechtigkeit. Es geht nicht allein um die Abwehr von Diskriminierung, sondern um Befähigungsgerechtigkeit. Dieses Prinzip ist abgeleitet aus dem Befähigungsansatz, der in den letzten Dekaden starken Einfluss auf die Wahrnehmung von Armut und Entwicklung in den Ländern des Südens hatte, der aber auch den Diskurs über Gerechtigkeit in einem reichen Land wie Deutschland produktiv weiten kann. Der einflussreichste konzeptionelle Wegbereiter des Befähigungsansatzes ist der indisch-amerikanische Philosoph Amartya Sen. Die Armut und Gewalt, deren Zeuge er in seinen Jugendjahren in Indien wurde, haben seine wissenschaftlichen Interessen und sein umfangreiches Werk stark beeinflusst, für das er 1998 mit dem Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaft geehrt wurde. Menschen brauchen, um ein Leben führen zu können, das sie wertschätzen, nicht allein ökonomische Ressourcen, sondern Fähigkeiten oder, diesen Begriff verwendet der Befähigungsansatz synonym, Verwirklichungschancen. Diese sind Ausdruck der Freiheit, unterschiedliche Lebensziele und Lebensstile realisieren zu können. Der Befähigungsansatz stellt die Potentiale jedes Menschen in den Mittelpunkt; jede und jeder ist zur Entfaltung und Verwirklichung ihrer und seiner Fähigkeiten auf ein förderliches soziales Umfeld angewiesen. Gelingende Befähigung ist somit ein Feld gesellschaftlicher Verantwortung, sie obliegt nicht allein der Selbstsorge. Das Ausmaß der realen Freiheit, mit dem Menschen ihr Leben gestalten können, hängt von vielfältigen persönlichen und sozialen Faktoren ab, die veränderbar und damit politischer Gestaltung zugänglich sind. Der Befähigungsansatz kapituliert nicht vor verfestigter Ungleichheit, wie man dies einem engen Verständnis von Chancengerechtigkeit vorwerfen kann. Das Bildungssystem, der Sozialstaat und vielfältige andere Politikfelder sind daran zu messen, ob sie das Mögliche leisten, damit Menschen ihre Potentiale entfalten können, ob sie darauf ausgerichtet sind, Menschen so zu stärken, dass sie Akteure ihres eigenen Lebens werden können. Warum eine Politik der Befähigung notwendig ist und was sie in wichtigen Feldern der Politik zu leisten vermag, darum geht es in diesem Buch. Auf Bedingungen, die Befähigung ermöglichen, sind alle Menschen angewiesen, aber im Fokus stehen im Folgenden Menschen am unteren Rand der Gesellschaft. Aus dem Blickwinkel der Befähigungsgerechtigkeit gibt es dort die bei weitem größten Defizite und Versäumnisse. Ein Rechts- und Sozialstaat, der Menschen ermöglicht, ihre Potentiale zu entfalten, schützt und stärkt sie zugleich. Eine Politik der Befähigung ist keine Abkehr von einem sorgenden Sozialstaat, der Menschen in Notlagen und den vielfältigen sozialen Bedarfen beisteht, die unser Leben begleiten. Sie stellt auch nicht die Bedeutung herkömmlicher Politiken infrage, die Milderung von Einkommensungleichheit durch Umverteilung oder Regulierungen zur Sicherung erträglicher Arbeitsbedingungen beispielsweise. Der Befähigungsansatz zielt auch nicht darauf, Notlagen zu individualisieren, um einen Rückzug aus staatlicher Verantwortung zu legitimieren. In der politischen und fachlichen Debatte gibt es vielfältige Vorbehalte und Vorurteile, die dabei im Weg stehen, den Befähigungsansatz produktiv zu nutzen, unser Verständnis von sozialer Gerechtigkeit zu erweitern. Dazu gehört auch der Vorwurf, der Befähigungsansatz sei „individualistisch“, er ersetze Solidarität durch Eigenverantwortung. Richtig ist, wer Handlungsoptionen hat, trägt zugleich Verantwortung dafür, wie er oder sie seine oder ihre Optionen wahrnimmt; damit verweist der Befähigungsansatz auf Eigenverantwortung und Selbstsorge. Eigenverantwortung und Solidarität sind aber kein Widerspruch, Eigenverantwortung ist kein „neoliberaler“ Wert. Das ist zu betonen, wenn es darum geht, Menschen zu stärken. Die Einforderung von Eigenverantwortung ist leer und hohl, wenn sie nicht mit der erforderlichen Unterstützung verbunden ist, Handlungsoptionen zu erweitern, die verantwortliches Handeln ermöglichen. Aber auch Menschen in gefährdeten Lebenslagen sind nicht nur die Opfer der externen Bedingungen, denen sie ausgesetzt sind. Eine Politik der Befähigung muss auch Mechanismen der Selbstexklusion und des selbstschädigenden Verhaltens in den Blick nehmen. Sie sind aus den jeweiligen Sozialisations- und Lebenserfahrungen heraus zu verstehen; aber ändern können sich Menschen nun mal nur selbst. Wer ihnen jegliche Verantwortung abspricht, spricht ihnen zugleich ihre Autonomie und die Fähigkeit ab, ihr Leben zu verändern.3 Eine soziale Arbeit, die Menschen allein auf eine Opferrolle festschreibt, verpasst ihren Auftrag, Befähigung zu ermöglichen. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich der Aufbau des Buches: Eine knappe Einführung in den Befähigungsansatz...


Georg Cremer war von 2000 bis 2017 Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes. Zuvor war er viele Jahre in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Cremer studierte Ökonomie und Pädagogik und ist apl. Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg. Er ist Autor vielbeachteter politischer Sachbücher.



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