Daly Schattensplitter
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-16541-3
Verlag: Manhattan
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book Only Kurzkrimi
E-Book, Deutsch, 100 Seiten
ISBN: 978-3-641-16541-3
Verlag: Manhattan
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie weit würdest du gehen, um die zu schützen, die du liebst?
Nach zehn Jahren ist Catherine zurückgekehrt in das verschlafene Örtchen Windermere in der englischen Grafschaft Cumbria. Vorbei sind die glücklichen, finanziell erfolgreichen Zeiten - heute wird Catherine von ihren einstigen Freunden gemieden und muss jede Arbeit annehmen, um sich über Wasser zu halten. Doch fortgehen kann sie nicht. Noch nicht. Es gibt einen Menschen, der sie in Windermere hält - und eine Sache, die sie tun muss, bevor sie ihre Vergangenheit für immer hinter sich lässt ...Ein Kurzkrimi der brillanten englischen Spannungsautorin.
Paula Daly wurde in Lancashire geboren und lebt heute mit ihrem Mann, ihren drei Kindern und Hund Skippy im englischen Lake District. Sie arbeitete freiberuflich als Physiotherapeutin, lebte für kurze Zeit in Frankreich, vermisste aber bald den gewohnten Trubel und kehrte nach Großbritannien zurück. Ihre Romane »Der Mädchensucher« und »Herzgift« wurden von Presse und Lesern begeistert gefeiert und etablierten Paula Daly als Autorin brillanter psychologischer Spannungsromane.
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Bis zum heutigen Tag habe ich in meinem ganzen Leben nur ein einziges Mal betteln müssen, und damals waren die Umstände denkbar anders. »Catherine«, seufzt er, »oh, Catherine. Wie viele hast du vor mir schon gefragt?« Das Büro ist dunkel und verdreckt, es stinkt nach den Dieselabgasen aus der benachbarten Werkstatt. Neben seinem Schreibtisch steht ein einzelner Aktenschrank, dessen unterste Schublade durch regelmäßige Fußtritte völlig eingedellt ist. »Zwei«, antworte ich. Skeptisch zieht er die Augenbrauen hoch. »Nur zwei?« »Also schön. Neun.« Er lächelt gelassen und überfliegt meine Bewerbung, die vor ihm auf dem Schreibtisch liegt. Seine Wangen sind schlaff und seine Tränensäcke geschwollen, aber abgesehen davon hat er sich kaum verändert. Er trägt den gleichen zerknitterten Anzug wie früher, an den Schultern zu breit und an den Ärmeln zu kurz. »Deine Fähigkeiten sind mehr als ausreichend«, sagt er. »Ehrlich gesagt bist du sogar überqualifiziert. Und wie ich sehe, achtest du auch auf dein Äußeres. Gut siehst du aus, Catherine. Aber du warst ja immer schon eine sehr gepflegte Erscheinung.« Ich nehme das Kompliment mit einem Nicken an, auch wenn er total daneben liegt. Unter meinem Wollmantel trage ich eine transparente Bluse, die so alt ist, dass sich an den Achseln gelbe Flecken gebildet haben. Meine ehemals gute Hose ist an den Knien schon ganz abgewetzt. Meine Schuhe sind ebenfalls alt. Alt und abgelaufen. »Du weißt, ich würde dir liebend gern helfen«, sagt er. »Dann hilf mir.« »Wir sind ein Familienbetrieb. Ich bin, was Aufträge angeht, auf die Bewohner dieser Stadt angewiesen. Wenn sich rumsprechen würde, dass du hier arbeitest …« Er unterbricht sich, zuckt die Schultern. »Tja, wer weiß, was dann wäre.« Ich stehe auf. Zwinge mich zu lächeln und reiche ihm über den Schreibtisch hinweg die Hand. »Vielen Dank für deine Zeit, Bill«, sage ich, ohne ihm in die Augen zu sehen. »Ich verstehe, wie schwierig das ist. Ich verstehe, dass du so ein Risiko nicht eingehen kannst.« Er steht ebenfalls auf. Beugt sich vor, umfasst meine Finger mit beiden Händen, drückt zu. »Nein«, sagt er leise, »das kann ich nicht.« Als ich die Hand zurückziehen will, hält er mich fest. »Warum bist du zurückgekommen, Catherine? Sicher hättest du es anderswo leichter.« Ich schüttele den Kopf, als käme das nicht in Frage. Er lässt meine Hand los, kommt um den Schreibtisch herum und bleibt dicht vor mir stehen. »Pass auf dich auf, meine Liebe.« Eine Aufforderung zu gehen. Ich streiche meinen Mantel glatt. Schlage die Augen nieder, um Bill weitere Peinlichkeiten zu ersparen. »Bestimmt wird sich etwas anderes ergeben wird«, sagt er. Ich will mich abwenden, aber dann zögere ich. Er war meine letzte Hoffnung. »Bitte, Bill«, flüstere ich. »Kannst du nichts für mich tun?« »Nein.« Ich hebe den Kopf, begegne seinem Blick. »Bill, ich flehe dich an.« »Ich weiß. Ich weiß, meine Liebe.« Der schneidend kalte Januarwind fegt durch die Hauptstraße von Windermere. Ich schlage meinen Kragen hoch, recke das Kinn in die Höhe und marschiere los, als hätte ich jedes Recht, hier zu sein. Meine Körperhaltung soll Selbstbewusstsein vermitteln. Ich setze die Miene einer tapferen Politikergattin auf, die keine Schwäche zeigen wird, auch wenn die Welt um sie herum zusammenbricht. Ich konzentriere mich auf den Weg, rede mir ein, dass mich von meinem sicheren Zuhause keine dreihundert Schritte trennen. Zuhause. Niemals hätte ich gedacht, im Oakleigh House zu landen. So hatte ich mir mein Leben mit sechsundvierzig nicht vorgestellt. Eine mit schweren Einkaufstüten beladene Frau schlurft mir entgegen. Sie kommt mir bekannt vor, aber weil ich sie nicht einordnen kann, spiele ich die Gleichgültige. Ich mache ein zerstreutes Gesicht und sehe durch sie hindurch, als wäre ich zu tief in Gedanken, um meine Umwelt wahrzunehmen. Sie bleibt stehen. Die Empörung durchfährt sie wie der Blitz, und sie sagt: »Na, du hast Nerven.« Noch bevor ich antworten kann, noch bevor ich begreife, lässt sie die Tüten fallen. Die Einkäufe verteilen sich auf dem Gehweg. Besorgte Passanten bleiben stehen, um zu helfen, doch sie beachtet die Leute nicht. Sie ist zu beschäftigt damit, mir mit dem Zeigefinger in die Brust zu piksen. »Verschwinde da hin, wo du hergekommen bist«, zischt sie. »Kriech in dein Loch zurück und lass dich hier nie wieder blicken.« Ich bin zu beschämt, um zu antworten. Ich sehe, wie eine Dose Mulligatawnysuppe von Heinz auf die Fahrbahn rollt und einen Autofahrer zum Ausweichen zwingt. »Es tut mir leid«, stammele ich, »es tut mir so leid«, aber sie starrt mich nur entrüstet an. Meine Wangen brennen, ich gehe schnell weiter. Noch zweihundert Schritte. Als ich zurück in meiner Einzimmerwohnung im Oakleigh House bin, weiß ich wieder, wer sie ist. Judy Harper. Ich schäme mich, sie nicht erkannt zu haben; immerhin war sie meine Putzfrau. Judy hat drei Vormittage die Woche bei uns gearbeitet, mehr als zwei Jahre lang. Ihre Feindseligkeit erschreckt mich, denn soweit ich weiß, hat sie keinen Grund, mich zu hassen. Aber es ist, wie Bill sagte: Man weiß nie, wie die Leute reagieren. Mir wird klar, dass ich auf die geballte Ablehnung dieses früher so verschlafenen und friedlichen Städtchens nicht vorbereitet bin. Ich ziehe Bluse und Stoffhose aus und schlüpfe in eine bequemere Kluft: Jeans, Sweatshirt, Turnschuhe. Ich habe mir angewöhnt, das Sweatshirt wie ein unsicherer Teenager so weit wie möglich herunterzuziehen. Die Jeans, die ich auf einem Save-the-Children-Wohltätigkeitsbasar gekauft habe, erinnert mich an die frühen Neunzigerjahre. Sie ist taillenhoch geschnitten und stonewashed, ein modischer Supergau. Allerdings hat sie nur sechzig Pence gekostet und ist durchaus tragbar – so lange ich möglichst viel davon unter dem Sweatshirt verstecke. Ich liege auf dem Bett, schließe die Augen und mache meine Atemübungen, mit denen ich mich seit zehn Jahren vor dem Durchdrehen rette. Wenige Minuten später döse ich ein. Der Schlaf ist meine letzte Zuflucht. Wenn man keinen Ausweg mehr hat, ist der Schlaf der beste Freund. Meine Glieder sinken in die Matratze ein, meine Augen entspannen, mein Kiefer erschlafft, aber im selben Moment setzt unter mir der Lärm ein. Es ist störender als sonst, weil ich glaube, vertraute Melodien und Rhythmen herauszuhören. Als ich mich einmal darüber beschwert habe, wurde mir wurde gesagt, man könne da nichts machen. Ich lebe in einer Art Übergangswohnheim, das offiziell natürlich anders heißt. Wenn es um Individuen am Rand der Gesellschaft geht, sehen sich die Verantwortlichen alle paar Jahre gezwungen, neue Namen und Titel zu erfinden, um der Stigmatisierung vorzubeugen. Nur funktioniert es nicht. Es verwirrt höchstens die Öffentlichkeit und schürt Ablehnung, weil die Leute die Täuschung irgendwann bemerken. Der Lärm geht weiter. Ich halte mir die Ohren zu. Man hat mich gebeten, den Bewohner unter mir in Ruhe zu lassen, weil er unter klinischen Depressionen leidet. »Angeblich ist er harmlos«, lachte der Beamte, als ich mich über den Lärm beschwerte. »Aber es wäre wohl das Klügste, ihn nicht unnötig zu provozieren.« Ich lebe seit elf Tagen in diesem Heim und bin dem Mann, der unter mir wohnt, noch nie persönlich begegnet. Er verlässt sein Zimmer nur im Schutz der Dunkelheit, braust in seinem Auto davon – einem kastigen Kia, den ihm bestimmt das Sozialamt finanziert hat – und kehrt erst kurz vor Morgengrauen zurück. Und pünktlich um ein Uhr mittags geht das Getöse los. Ich bereite mir etwas zu essen zu – zwei gekochte Eier, eine Scheibe Toast, ein Apfel – und drehe den Radiowecker neben dem Schlafsofa lauter. In meiner Dachkammer habe ich alles, was ein Mensch zum Leben braucht, sie ist Schlafzimmer, Wohnzimmer und Küche in einem. Das Bad nebenan wurde in die Abseite eingebaut, wo früher ein Warmwasserboiler stand. Alles ist auf das Notwendigste reduziert, aber immerhin ist es hier warm und sauber und sicher. Als ich esse, verstummt der Lärm vorübergehend. Weil ich keinen Eierbecher besitze, halte ich das Ei beim Auslöffeln mit einem Geschirrhandtuch fest. Ich köpfe das zweite und stelle erfreut fest, dass das Dotter noch flüssig ist, genau so, wie ich es am liebsten mag. Ich esse jeden Mittag das Gleiche und bin, was die Kochzeiten angeht, zur Expertin geworden. Ich hole das zweite Ei genau fünfundvierzig Sekunden vor dem ersten aus dem Wasser, so ist es, wenn ich es aufschlage, perfekt gegart. Dieses Mittagessen kostet siebzig Pence und hält mich bis zum Abend satt. Wieder werfe ich einen Blick auf die Uhr. Obwohl ich genau weiß, wann ich los muss, gehe ich den Ablauf noch einmal in Gedanken durch. Fünf Minuten zum Anziehen, fünfundzwanzig Minuten Fußweg und zehn Minuten Puffer, nur für alle Fälle. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, mein Erkundungstour in die Mittagszeit zu legen, doch ich möchte keine Aufmerksamkeit erregen. Das Getöse geht wieder los. Diesmal spüre ich es unter meinen Füßen. Mein Nachbar schlägt offenbar mit einem Gegenstand an die Decke – mit einem Besenstiel vielleicht. Der Rhythmus ist holperig, mal sieben Schläge, mal acht, und diese Ungleichmäßigkeit zerrt an meinen Nerven, sodass ich das Zimmer verlassen und die Treppe hinuntersteigen muss. Ich zögere kurz, dann klopfe ich an. Drei Meter weiter wird eine Tür zentimeterweit geöffnet, ich sehe ein Auge. Ich frage die ältere Dame, ob sie weiß, woher der Lärm kommt, aber sie macht...