E-Book, Deutsch, 295 Seiten
Reihe: Französische Bibliothek
d`Aurevilly / Krämer Der Chevalier Des Touches
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-95757-104-5
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 295 Seiten
Reihe: Französische Bibliothek
ISBN: 978-3-95757-104-5
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'Ein Epos großen Stils.' Heinrich Mann Ist er es, oder ist es ein Gespenst? Der verwirrte alte Mann, der an einem windigen Abend auf dem Kapuzinerplatz in Valognes steht, weckt die Erinnerungen an einen großen Coup des Widerstands gegen die Revolution: die Befreiung des zum Tode verurteilten Chevalier Des Touches 1799. Die Ereignisse liegen drei Jahrzehnte zurück und man wähnte den Chevalier längst tot. Aufgeschreckt durch seine vermeintliche Wiederkehr, erzählen sich in einem Salon bei knisterndem Feuer ein paar Landadlige, die schon bessere Zeiten gesehen haben, seine abenteuerliche Geschichte. Unter ihnen die taube Aimée de Spens, die darin eine zentrale und einigermaßen pikante Rolle spielt und nicht ahnt, dass man von ihr spricht. Der Chevalier Des Touches, einer der wichtigsten Romane von Jules Barbey d'Aurevilly, erscheint in dieser Ausgabe mit den Texten von Heinrich Mann und Michel Serres und den Illustrationen von Félix Buhot zum ersten Mal auf Deutsch.
Jules Barbey d´Aurevilly (1808-1889) verfasste Romane, Erzählungen, Kritiken und Essays. Bewunderer loben seinen geschliffenen Stil und erfreuen sich an seiner faszinierenden Persönlichkeit. Feinde werfen ihm seine Intoleranz und reaktionäre Haltung vor.
Weitere Infos & Material
Als die Schuhe den Platz, der in der Mitte mit Sand bestreut und an allen vier Seiten gepflastert war, umrundeten und an dem flaschengrünen Hoftor des Palais von Monsieur Mesnilhouseau2 vorbeikamen, der wegen seiner Meute der Hunde-Mesnilhouseau genannt wurde, weckten sie die Kompanie schlafender Wachen auf; denn über die Hofmauer erscholl ein langgezogenes Geheul, das sich mit jener trostlosen Melancholie ausbreitete, die nächtliches Hundegeheul auszeichnet. Das anhaltende, eintönige und verzweifelte Jaulen der Hunde, die versuchten, ihre Schnauzen und ihre Pfoten unter dem riesigen Hoftor durchzuschieben, als ob sie auf dem Platz etwas Ungewöhnliches und Furchtbares witterten, der düstere Abend und der Wind gepaart mit dem Regen, der einsame Platz, der eigentlich nicht groß war, aber im Gegensatz zu dem heiteren Anblick, den er früher bot, als er mit seinen im Quadrat gepflanzten Bäumen und seinen weißen Pfosten noch einem englischen Square glich, fast grauenerregend wirkte, seit man 182… in der Mitte ein Kreuz aufgerichtet hatte, an dem sich ein plump bemalter, blutender Christus in Lebensgröße wand: Alle diese Umstände, alle diese Einzelheiten waren in der Tat dazu angetan, den Passanten mit den Holzschuhen zu beunruhigen, der unter seinem gegen den Wind geneigten Regenschirm ging, auf dessen ausgespannte Seide die Wassertropfen niederprasselten, als wären es Kristallkörner. Angenommen, der unbekannte Passant war eine Person mit einer naiven und religiösen Phantasie, einem geplagten Gewissen, einer trauernden Seele, oder einfach einer jener nervösen Menschen, wie man sie in allen Schichten des Amphitheaters der Gesellschaft antrifft, so wird man einräumen, dass die genannten Einzelheiten genügten, um ihn bis ins Mark zu erschüttern und seinen Herzschlag zu verdoppeln, besonders das Bild des blutenden Gottes, dessen Anblick bei Tag im heiteren Sonnenlicht seiner plumpen Bemalung wegen Grauen erregte und von dem man nachts, auch wenn man ihn nicht sah, wusste, dass er dort die Arme ausbreitete. Doch als wäre das noch nicht genug, geschah etwas Merkwürdiges — in dieser kleinen Stadt, wo um diese Zeit die Bettler gut versorgt im Stroh schliefen und Straßenräuber, die Kavaliere der Landstraße, so gut wie unbekannt waren —, ja! etwas Außergewöhnliches ereignete sich plötzlich… Die Laterne, deren Lichtstrahl unter dem schräggeneigten Regenschirm hervorleuchtete, erlosch in der Mitte des Platzes auf der Höhe der Rue Siquet, genau gegenüber dem großen Christus. Und es war nicht der Wind, der sie ausgeblasen hatte, sondern ein Atemstoß! Die stählernen Sehnen, die die Laterne hielten, hatten sie zu etwas Schrecklichem emporgehoben, das gesprochen hatte. Oh! nicht lang; einen Augenblick nur! einen Blitz! Doch es gibt Augenblicke, die Jahrhunderte umfassen könnten! In diesem Moment hatten die Hunde losgeheult. Sie heulten immer noch, als eine kleine Glocke an der ersten Tür der Rue des Carmélites am Ende des Platzes ertönte und die Person mit den Holzschuhen, aber ohne Holzschuhe, in den Salon der Demoiselles de Touffedelys trat, wo sie zur Abendplauderei erwartet wurde. Sie, oder vielmehr er — denn es handelte sich um einen Mann — war mit der einst vielbeschworenen Eleganz eines Abbé des Ancien Régime beschuht, und das war im Übrigen nicht erstaunlich, denn er war ja einer! »Ich habe ihren Wagen gehört«, sagte die jüngere der Touffedelys, Mademoiselle Sainte, die in ihrer absoluten Unfähigkeit, auch nur den kleinsten Scherz zu erfinden, den spaßigen Ausdruck wiederholte, den der Abbé gebrauchte, wenn er von seinen Holzschuhen sprach. Der Abbé, der an der Dielentür seinen langen Gehrock aus grünem Steifleinen abgelegt hatte, den er über dem Frack trug, betrat den kleinen Salon aufrecht und ehrfurchtgebietend, den Kopf wie einen Heiligenschrein auf den Schultern, und ließ seine Schuhe aus Saffianleder, die er mit den Holzschuhen vor der Nässe geschützt hatte, knirschen. Obwohl er gerade eines jener Erlebnisse gehabt hatte, die einen wie ein Donnerschlag treffen, war er weder blasser noch röter als gewöhnlich; denn sein Teint hatte eine jener Färbungen, die undurchdringlich wie Email zu sein scheinen und keine Gefühlsregung hindurchlassen. Er reichte den vier um den Kamin versammelten Personen, die ihr Gespräch unterbrachen, um ihn zu begrüßen, reihum zwei Finger seiner unbehandschuhten rechten Hand. Doch als er die zwei Finger der letzten Person des kleinen Zirkels gegeben hatte, rief diese zitternd: »Irgend etwas ist mit Ihnen los, mein Bruder!« (woran sah sie es?), »Sie sind heute Abend nicht in der gewohnten Verfassung!« »Das ist los«, sagte der Abbé mit fester, aber ernster Stimme, »dass Hotspurs3 altes Blut gerade eben fast Angst bekommen hätte.« Seine Schwester sah ihn ungläubig an; doch Mademoiselle de Touffedelys, die geglaubt hätte, dass ein Ochse fliegen kann, wenn man es ihr gesagt hätte, und die sogar ans Fenster getreten wäre, um ihn zu sehen,4 Mademoiselle Sainte de Touffedelys, die ihren Shakespeare nicht gelesen hatte und von all dem, was der Abbé gesagt hatte, nur das Wort Angst verstand, rief: »Heilige Mutter Maria, was ist geschehen? Sollten Sie etwa der um den Platz irrenden Seele des Pater superior der Kapuziner begegnet sein? Die Hunde von Monsieur Mesnilhouseau wimmern heute Abend so, als ginge sie um, oder als schlüge der Hammer des heiligen Bernhard5 drei Mal gegen die Zellentür einer der Bernhardinerinnen im Kloster nebenan.« »Warum sagen Sie das dem Abbé, meine Schwester?«, fragte Ursule de Touffedelys im Ton der älteren Schwester, die die jüngere rügt. »Sie wissen genau, dass der Abbé, der in England gewesen ist, nicht an Gespenster glaubt.« »Und doch, bei meiner Seele! es ist ein Gespenst, was ich gesehen habe«, sagte der Abbé in tiefem Ernst. »Ja, Mademoiselle! Ja, meine Schwester! Ja, Fierdrap! Ja, reißen Sie Ihre Augen auf, bis Sie Kopfschmerzen bekommen, es ist so, wie ich die Ehre habe, Ihnen zu sagen: Ich habe gerade ein Gespenst gesehen… unerwartet, schrecklich, aber wirklich! Zu wirklich! Ich habe es gesehen, wie ich Sie alle sehe, wie ich diesen Sessel und diese Lampe sehe…« Und er berührte den Fuß der Lampe mit der Spitze seines Stocks aus Rebenholz, den er gerade in einer Ecke abstellen wollte. »Du liebst, verdammt nochmal, zu sehr deine Späße, als dass ich dir die Freude mache, dir Glauben zu schenken, Abbé!«, sagte der Baron de Fierdrap, als der Abbé an den Kamin zurückkam und sich, Waden und Rücken dem Feuer zugekehrt, vor dem nächsten Sessel aufpflanzte. »War es wirklich der Pater superior… ?«, fragte Mademoiselle Sainte schaudernd; denn sie brannte vor Neugierde und spürte trotzdem die Kälte eines Eisklumpens im Nacken. »Nein«, antwortete der Abbé, der, die Augen auf das gewachste und spiegelnde Parkett geheftet, innehielt wie jemand, der überdenkt, was er gleich sagen wird, und zögert, ehe er es wagt. Er blieb stehen, aufrechtgehalten von den Blicken der vier Sitzenden, deren Augen beinahe aufsaugten, was noch gar nicht aus seinem Mund gekommen war, mit Ausnahme des Baron de Fierdrap, der an einen Scherz glaubte und verschmitzt zwinkerte, als wolle er sagen: »Ich verstehe dich, mein Kamerad!« Der Salon wurde nur vom Dämmerlicht einer Lampe erhellt, das unter einem Schirm gebündelt war. Um besser zu sehen und den Abbé besser zu erkennen, hob eine der Damen den Schirm, der das lästige Dunkel verursachte, und plötzlich wurde der Salon vom hellen Lampenlicht überflutet, dessen Gold etwas von satten Ölfarbtönen hat. Es war ein altes Wohnzimmer, wie man sie heute selbst in der Provinz kaum mehr sieht, übrigens ganz im Einklang mit der Gruppe, die sich im Augenblick darin befand. Das Nest war der Vögel würdig. Zusammen brachten es die um den Kamin versammelten Greise auf dreieinhalb Jahrhunderte, und die Täfelungen, die sie umgaben, hatten wohl jeden von ihnen zur Welt kommen sehen. Diese Grisailletäfelungen, umrahmt und hervorgehoben durch schwarz angelaufene und stellenweise abgeblätterte Goldrippen, trugen auf ihrem eintönigen Untergrund als einzigen Schmuck Familienportraits, über die der Nebel der Zeit gegangen war. In einem der Felder sah man zwei Frauen in Kleidern aus der Zeit Louis XV; die eine, blond und geziert, hielt eine Tulpe in der Hand wie Rachel, die Karo-Dame, und die andere, brünett, träge, die rötliche Brünetten-Haut mit Schönheitspflästerchen gespickt, hatte einen Stern über dem Kopf, was, zusammen mit der sinnlichen Malweise des Portraits, hinreichend die Hand Nattiers6 erkennen ließ, der auch Madame de Châteauroux7 und ihre Schwestern mit einem Stern über dem Kopf gemalt hat. Der Stern verwies auf die vorübergehende Herrschaft der Favoritin. Es war der königliche Abendstern. Der...