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E-Book, Deutsch, 104 Seiten
Reihe: MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches
Demand / Knörer MERKUR 3/2025, Jg.79
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-608-12438-5
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nr. 910, Heft 03, März 2025
E-Book, Deutsch, 104 Seiten
Reihe: MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches
ISBN: 978-3-608-12438-5
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In einem detektivischen Text begibt sich Fara Dabhoiwala auf die Spuren des schwarzen Universalgelehrten Francis Williams. Hat Westdeutschland den Osten bei der Wiedervereinigung in Wahrheit kolonisiert? Fragt Tobias Adler-Bartels. Der nicht ganz anderen Frage nach den Gründen für die Erfolge von BSW und AfD im Osten Deutschlands geht Till Hilmar nach.
In einem detektivischen Text begibt sich Fara Dabhoiwala auf die Spuren des schwarzen Universalgelehrten Francis Williams, der im 18. Jahrhundert die Zeitgenossen beeindruckte und danach nicht zuletzt durch die Missgunst von Weißen in Vergessenheit geriet. Die Buchkultur lebt, auf TikTok und überhaupt im Netz, auch wenn sie, wie Gerhard Lauer zeigt, etwas anders aussieht, als das Bildungsbürgertum sie bislang gekannt hat. Was am alten Kneipensport Darts heute alle Welt fasziniert, kann Matthias Hansl erklären.
In seiner Theaterkolumne versucht Ekkehard Knörer ein Jahr nach dessen Tod zu resümieren, was das deutsche Theater mit René Pollesch verlor. Christian Kühn liest neuere Literatur zu Städtebaufragen. Was die Träume von Elon Musk mit dem deutschen Science-Fiction-Autor Kurd Laßwitz verbindet (oder auch nicht), arbeitet Christian Wiebe heraus.
Hat Westdeutschland den Osten bei der Wiedervereinigung in Wahrheit kolonisiert? Die Wahrheits- bzw. Absurditätsgrade dieser Behauptung misst Tobias Adler-Bartels aus. Der nicht ganz anderen Frage nach den Gründen für die Erfolge von BSW und AfD im Osten Deutschlands geht Till Hilmar nach. Ian Klinke nimmt die mit dem Namen Egon Bahr verbundene Ostpolitik in den Blick, mehr aus Gegenwarts- als Vergangenheitsgründen. Anke Stelling wird in ihrer Schlusskolumne Wolfgang, der allerdings tot ist.
Autoren/Hrsg.
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- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtswissenschaft Allgemein Historiographie
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DOI 10.21706/mr-79-3-5 Fara Dabhoiwala Ein vielbegabter Mann
Über das Porträt von Francis Williams Im Herbst 1928 taucht ein bis dahin unbekanntes Gemälde auf dem Londoner Kunstmarkt auf. Es gehört einem gewissen Major Henry Howard aus Surrey. Er ist fünfundvierzig Jahre alt. Sein Vater ist vor kurzem verstorben und hat ihm ein beträchtliches Vermögen hinterlassen, von dem er einen Großteil veräußert – Immobilien, Grundstücke, Familienerbstücke. Es gibt zu der Zeit Erbschaftssteuern, er hat fünf junge Töchter und eine Ehe im Endstadium. Er braucht Geld. Howard versteht etwas von Kunst. Er ist ein ernsthafter Kenner und Sammler, ein Experte für Wenzel Hollar, den überaus produktiven böhmischen Kupferstecher aus dem 17. Jahrhundert. Zum Nachlass gehört auch die große Gemäldesammlung der Familie, darunter erstklassige Porträts aus dem 18. Jahrhundert von Thomas Gainsborough, Joshua Reynolds, Arthur Devis, John Opie, Jonathan Richardson und Richard Cosway, um nur einige zu nennen. Das kleine, keinem Künstler zugeschriebene Gemälde, das er 1928 veräußert, spielt nicht in der gleichen Liga. Aber es hat eine faszinierende Vorgeschichte. Ein Großteil des Reichtums von Henry Howards Familie stammt ursprünglich aus den Zuckerrohrplantagen von Jamaika, auf denen versklavte Menschen arbeiteten. Und dieses Porträt gehörte einem berühmten Vorfahren, auf den die Familie sehr stolz ist, einem Pflanzer und Schriftsteller aus dem 18. Jahrhundert namens Edward Long. Als Howard das Gemälde also zu einem Londoner Händler bringt, erklärt er, dass es seinem Urururgroßvater gehört habe, der Mitte des 18. Jahrhunderts auf Jamaika lebte, dass es in Spanish Town, der Hauptstadt der Kolonie, gemalt worden sei und dass es einen Mann namens Francis Williams zeige, über den Long ein ganzes Kapitel in seiner berühmten History of Jamaica (1774) geschrieben habe. Und das ist noch nicht alles, sagt er, sondern Long habe, als er dieses Kapitel schrieb, genau dieses Gemälde vor sich gehabt und sich darauf bezogen. Der Händler, ein gewisser Jack Spink, freut sich über diese Information und nutzt sie, um das Bild zu bewerben. Er erkennt, dass es sich um ein ungewöhnliches Objekt mit hohem »Assoziationswert« handelt, und ist zuversichtlich, dass es sich schnell und zu einem guten Preis verkaufen lässt, wahrscheinlich in Amerika. Dort mögen sie solche Dinge. Er lässt einige Broschüren drucken und schaltet eine ganzseitige Anzeige in der Zeitschrift Country Life. Zuoberst ist ein Foto des Gemäldes zu sehen, darunter ein langer Auszug aus Longs Kapitel über Francis Williams – die ersten zweieinhalb Seiten davon, in winziger, aber lesbarer Schrift. Das ist die einzige Kontextualisierung, die er gibt. Für die Familie Howard und für Spink erklären Longs Zeilen dieses Bild zur Genüge. Das ist auch dahingehend verständlich, weil so ziemlich alles, was über Francis Williams bekannt ist, aus Longs zehnseitigem Kapitel über ihn stammt. Es ist nach wie vor der einzige uns bekannte detaillierte zeitgenössische Bericht über Williams’ Leben, und er wurde von jemandem verfasst, der ihn gekannt hat. Das Problem besteht bloß darin, dass Long tatsächlich Williams’ größter Widersacher war. Sein biografischer Abriss ist eine böswillige Verleumdungskampagne voller Lügen und Halbwahrheiten. Sie zielt keineswegs darauf ab, die Person zu würdigen, Long tut vielmehr alles, um sie zu diskreditieren. In seiner wuchtigen, dreibändigen Geschichte Jamaikas geht es ohnehin gar nicht um die jamaikanische »Geschichte«. Voller Empörung zusammengeschustert nach dem Somerset-Urteil von 1772, das die Zukunft der englischen Sklaverei in Zweifel zog, war das Werk in erster Linie eine Verteidigung der westindischen Sklaverei als »unvermeidliche Notwendigkeit« und ein Versuch, zu beweisen, dass alle »Schwarzen« der »weißen Rasse« von Natur aus unterlegen seien.1 Es ist daher nicht frei von Ironie, dass ausgerechnet Edward Long unsere Hauptquelle über Francis Williams ist, der zu seinen Lebzeiten (er starb 1762) der berühmteste schwarze Mensch der Welt gewesen ist, zumindest unter gebildeten, des Englischen mächtigen Herrschaften. Er war reich; er war ein Gentleman; er war ein Gelehrter; er wurde als kluger und gemachter Mann gefeiert. Sein Andenken lebte auch nach seinem Tod weiter. Als Long 1774 zu argumentieren versuchte, dass Schwarze von Natur aus weniger intelligent seien als »Weiße«, musste er davon ausgehen, dass seine Leserschaft von Williams wusste. Wollte er seine rassistische Überlegenheitstheorie plausibel machen, musste er ihn also zu Fall bringen. Francis Williams wurde in den 1690er Jahren als Sklave auf einer jamaikanischen Plantage geboren. Seine Eltern, John und Dorothy Williams, waren versklavte Afrikaner. Sie erlangten ihre Freiheit, als Francis noch ein kleiner Junge war, und wurden schließlich als erfolgreiche Kaufleute in Spanish Town reich genug, um ihn zur Fortsetzung seiner Schulbildung nach Eng-land zu schicken. Wie die meisten wohlhabenden freien Schwarzen in Sklavenhaltergesellschaften kauften und verkauften sie selbst versklavte Men-schen. Als Williams 1724 nach Jamaika zurückkehrte, nachdem er fast zehn Jahre in England gelebt hatte, erbte er ihr Geld, ihre Ländereien – und ihre Sklaven. Edward Long, der 1734 geboren wurde und erst in den späten 1750er Jahren nach Jamaika kam, gibt in seiner History einen wirren Bericht über all dies ab. Er verweist auch beiläufig auf andere Informationen über Williams, die zu jener Zeit weithin bekannt gewesen sein müssen. So erwähnt er beispielsweise, dass Williams kunstvolle Gedichte in lateinischer Sprache verfasst hatte – damals die prestigeträchtigste Form des literarischen Ausdrucks unter gelehrten Herren. In dem Versuch, Williams’ Fähigkeiten zu verunglimpfen, druckte Long eines dieser Gedichte ab, eine Reihe von Versen, die an den schottischen Politiker George Haldane gerichtet waren, der 1759 als neuer Gouverneur in Jamaika eingetroffen war. Das Gedicht ist insofern bemerkenswert, als zwar die erste Hälfte Haldane ehrt, die zweite jedoch von Williams selbst handelt und von dem, was er darstellte. Es ist eine Hymne darauf, dass er auf Jamaika geboren und in Großbritannien ausgebildet wurde. Stolz spricht er von seiner schwarzen Muse, seinem schwarzen Mund und seiner schwarzen Haut. Und er führt Argumente gegen rassistische Vorurteile an: »Gott hat allen Menschen die gleiche Art von Seele gegeben […] die Tugend selbst hat keine Farbe, ebenso wenig wie der Geist; Hautfarbe spielt keine Rolle in einem ehrlichen Verstand, keine in künstlerischem Geschick […] aufrechte Moral schmückt den schwarzen Mann, und Lust am Lernen und Beredsamkeit seine gelehrte Zunge.« Dies ist heute der einzige von Williams erhaltene Text. Hätte Long nicht versucht, ihn ins Lächerliche zu ziehen, wäre er, wie alle seine anderen Schriften, für immer verloren gegangen. Am Rande erwähnt Long außerdem, dass Williams in Cambridge studiert habe. Er versucht, ihn als mittelmäßigen Studenten abzutun: »Er war an der Universität von Cambridge, wo er die besten Lehrer hatte und einige Fortschritte in der Mathematik an den Tag legte.« Aber auch hier hält sein Spott etwas fest, was nirgendwo sonst mehr bezeugt ist. Historiker nennen es das Problem des Archivs. Die uns erhaltenen schriftlichen und visuellen Materialien aus der Vergangenheit sind nicht neutral. Sie werden den verschiedenen Menschen und Bevölkerungsgruppen nicht gleichermaßen gerecht. Im Gegenteil, sie schreiben die Ungleichheiten der Vergangenheit fort. Und das ist ein besonderes Problem für die Zeit des transatlantischen Sklavenhandels. Millionen und Abermillionen von Männern, Frauen und Kindern wurden verschleppt, versklavt, systematisch ausgebeutet und ermordet, doch die einzigen noch heute...