E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Deville Amazonia
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-293-31181-7
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-293-31181-7
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der mächtige Amazonas trägt auf seiner Reise quer durch Lateinamerika Tausende Geschichten mit sich. Legenden von ungeahnten Reichtümern, Berichte von Abenteurern, Forschungsreisenden und Industriellen, von Gier, Goldrausch und Ausbeutung sind ihm eingeschrieben.
Begleitet von seinem Sohn, hält Deville die Klänge und Düfte der schillernden Landschaft fest, lässt sich vom Fluss zurücktragen in vergangene Zeiten, die den Kontinent geformt und verwundet haben. Er folgt den Echos von Alexander von Humboldt, dem Konquistadoren Lope de Aguirre und Charles Darwin, vom Atlantik bis an den Pazifik, über die Anden bis zu den Galapagosinseln.
Deville nimmt uns mit auf einen prächtig kolorierten literarischen Karneval und in die labyrinthischen Flüsse und Nebenflüsse der Weltgeschichte.
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Vater & Sohn
Da ich keinerlei Vertrauen in die staatliche Gerichtsbarkeit hatte, beschloss ich, selbst Recht zu sprechen, und das heißt,
den Tod meines Vaters zu rächen. LAMPIÃO, 1926 in einem Interview mit dem Journalisten Oracílio Macedo Auf einem kleinen Markt hatte ich in Begleitung von Lucila und auf ihren Rat hin »Literatura de Cordel« gekauft, kleine schmale Heftchen von wenigen Seiten, darunter einen Text von Francisco Zenio, Os 50 Anos de Muerte de Lampião, illustriert mit einem Holzschnitt, der den stilisierten, aber erkennbaren Kopf des Helden zeigt, und ein Ölgemälde auf Leinwand des legendären Banditenpaares Lampião und Maria Bonita, beide mit dem Gewehr in der Hand. Als er, noch immer ohne einen Sou in der Tasche, aus Brasilien zurückkehrt und nicht einmal seine Ware bei den Vogelhändlern unterbringen kann, unterschreibt Cendrars auf Teufel komm raus Verträge für Bücher, um die Vorschüsse zu kassieren, darunter die für Equatoria und Lampion. Während er den ersten Titel fallen lässt, den ich für ein Buch über Afrika wieder aufgegriffen habe, hält er am zweiten lange Zeit hartnäckig fest und schreibt noch am 27. August 1938 an seinen Verleger: »Heute Morgen habe ich mich wieder an Lampion gesetzt, denn es eilt.« So sehr dann auch wieder nicht. Im Jahr 1953 kündigt er noch die bevorstehende Veröffentlichung von Lampion le cangaceiro (»Lampion der Cangaceiro«) mit dem Untertitel Le démon de l’aventure (»Der Dämon des Abenteuers«) an. Dieses Abenteuer spielte im Sertão, in der großen Wüste, dem Desertão, in jenem Nordosten aus trockenen Ebenen, mit mageren Kühen und lauwarmen Flüssen. Wenn Mato Grosso das große Grasland ist, ein Begriff für Savannen und schneidende Gräser, dann ist der Begriff Sertão eher psychologischer Natur und erinnert an jene wilden und abgelegenen Gebiete, jene verfluchten und halbwüstenartigen Landstriche, von denen wir bei Euclides da Cunha in Krieg im Sertão, und bei João Guimarães Rosa in Grande Sertão lesen: Felsgeröll, verkümmerte Bäume, Kuhhäute zum Trocknen über den Zäunen. Seit Jahrhunderten sind Tagediebe und Hungerleider in diesen unwirtlichen Gegenden gestrandet, haben sich mit Schwarzen und Indianern vermischt, sind Caboclos geworden. Fern der Küste, vergessen von der göttlichen Barmherzigkeit und jeder Regierung, hatten diese Männer wieder eine grausame Clan- und Machogesellschaft errichtet: An der Spitze der Viehzucht steht der Fazendeiro, der Züchter, ihm zur Seite der Vaqueiro, der über das Vieh wacht. Letzterer ist von prestigeträchtiger Männlichkeit, der Stierkastrierer, und jeder Bengel möchte lieber so werden wie er als ein Morador, ein Bauer ohne Land und Rechte, ein Landarbeiter, der zum beweglichen Besitz des Züchters gehört. Die Familien sind Rivalen und kämpfen um die Macht. Einer der Patriarchen wird zum »Coronel«, zum örtlichen Machthaber, ernannt oder ernennt sich mit Waffengewalt selbst dazu. Er übt das Recht aus, dem sich der Cangaceiro, der Bandit aus Ehre, der Rächer der Entrechteten, der bewaffnete Arm der Habenichtse widersetzt, wenn es um gestohlene Kühe oder um Frauen, um nicht zurückgezahlte Schulden geht. Die Mörder des Vaters, behauptet der Sohn, hätten am Tisch des Coronel zu Abend gegessen. Virgulino Ferreira da Silva ist ein gut aussehender junger Mann, schlank und breitschultrig. Seine dunkle Haut eines indianischen Halbbluts kennzeichnet ihn im damals gültigen, komplexen Vokabular der Rassenunterschiede als »Capvert« oder »Caboclo Moreno«. Er ist groß, ein Meter achtzig, elegant, mit feinen Gesichtszügen und langem schwarzen Haar, das ihm bis auf die Schultern fällt. Er hat ein Auge durch einen Jurema-Dorn verloren, trägt eine runde Intellektuellenbrille, die zu seiner Legende beitragen wird. Laut dieser nahm er am 5. Juli 1920 auf dem Grab seines Vaters den Namen Lampião – Laterne – an: Er ist das Licht, das im ganzen Sertão von Pernambuco leuchten soll. Er genießt bereits lokalen Ruhm, nachdem er sich einige Jahre zuvor mit mehreren seiner Brüder einer Bande Gesetzloser, einer Cangaçeiro, angeschlossen und den Mord an seinem Vater gerächt hat, als die Bundesarmee, die gegen die »Coluna Prestes« kämpft, Banditengruppen anheuert und zu den sogenannten »Batalhões patrióticos« (patriotische Bataillone) zusammenschließt. Man bewaffnet diese Milizen, tauscht ihre alten Flinten gegen moderne Gewehre und Munitionskisten aus und bietet den Söldnern Rehabilitierung und Amnestie. Lampião wird der Rang eines Hauptmanns zugesagt, er paradiert an der Spitze seiner Männer durch die Stadt Juazeiro. Er wird von der Bevölkerung bejubelt und von den Stadträten empfangen. Die »Coluna Prestes« wird nach Minas Gerais zurückgedrängt. Die Hilfstruppen werden zur Belastung. Man täuscht sie, vergisst ihre Offiziersstreifen. Sie tauchen wieder unter. Aber Lampião hat Gefallen gefunden am Licht, an der Stadt, auch wenn es sich um Kleinstädte handelt, und am Kino. Während seines kurzen öffentlichen Lebens sieht er Der Sohn des Scheichs, ist fasziniert von Rudolph Valentinos prächtiger Ausstaffierung, so sieht sein Held aus. Er will ein Star werden, erfindet sein Image, entwirft extravagante Kostüme für sich. Seine Truppe besteht bald aus hundert Männern, und es kommen immer wieder neue hinzu. Um das Gerücht über ihre Unbesiegbarkeit aufrechtzuerhalten, werden die im Kampf Getöteten niemals zurückgelassen, und ihre Namen gehen auf die neuen Rekruten über. Lampião richtet eine Nachschubverwaltung ein, organisiert den Pferdediebstahl, die Logistik und legt die Strategie der Raubzüge fest. Zum ersten Mal nimmt eine Gruppe von Cangaceiros Frauen auf, Paare bilden sich, Kinder werden geboren. Lampião stellt die Regeln auf und bestimmt die Etikette seines Hofstaats: Gleichheit zwischen Frauen und Männern. Sie alle kommen aus der Viehzüchter-Gesellschaft, in der die Männer, an die lange Wanderschaft mit den Herden auf den Weiden gewöhnt, Wasser schöpfen, Feuer machen, kochen, Kleider nähen und Leder gerben können. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, hält er auf Lichtungen und in Höhlenverstecken inmitten seines Volks Hofstaat mit seinem langen glatten Haar, Brillen aus Gold und Schildpatt, einem großen Hut, bestückt mit frommen Medaillen und Goldmünzen, mit Ringen, Diamanten an seinem Schal, einer bestickten und mit Edelsteinen verzierten Weste. Um seinen Hals hängen kleine Beutel mit Gebeten, »orações fortes«. Er nimmt den Platz des Priesters und Königs ein, ist zugleich weltliche und himmlische Autorität und fügt der Plünderung das Handwerk der Entführung mit Lösegeldforderung hinzu. Die Folhetos (Heftchen) der »Literatura de cordel« machen aus dem berühmtesten brasilianischen Banditen ein quasi legendäres Wesen, zugleich Engel und Teufel, gut und grausam, unmoralisch und heroisch, Ehrenmann und Monster. Auch wenn er ihn nicht erfunden hat, setzt er den Brauch der Kastration von Besiegten fort, der in der Tradition dieser Viehzüchtergesellschaft verwurzelt ist. Die Strafe wird nach der Methode vollzogen, die die Vaqueiros bei Rindern anwenden, gefolgt von der Desinfektion der Wunde mit Holzasche, Salz und Pfeffer. Man lobt seine Tapferkeit und seine Kampflust und fürchtet die Hexerei, die ihn trotz sieben Schussverletzungen unsterblich macht. In geplünderten Dörfern, heißt es, steigt er vom Pferd, um in der Kirche zu beten, und die Anzahl seiner Opfer soll in einer goldenen Reihe auf dem Kolben seiner Waffe eingraviert sein, die er mit einem Pariser Parfüm reinigt. 1930 lernt er Maria, die Hübsche, Maria Bonita kennen. Sie ist fröhlich und eine gute Schützin, findet einen Platz im Kreis der Leutnants, die ebenfalls Paare bilden und im Luxus von Emporkömmlingen leben. Wie ihr Anführer tragen sie helle Schlapphüte, die Krempe zum Zweispitz umgeschlagen, sodass sie wie napoleonische Generäle aussehen. Nicht mehr das viele, in den Höhlen versteckte Gold und der viele Schmuck blenden Lampião, es ist der Ruhm, der ihn blind macht. Er lässt den Besuch eines Journalisten, eines Fotografen in seinem Versteck zu, später, 1936, erlaubt er Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm. Die Firma Zeiss, die das Vorhaben sponsert, schenkt ihm eine Brille, die besser an seine Sehschwäche angepasst ist. Er ist der erste Bandit mit Werbevertrag. Hüpfende Bilder zeigen seine Männer, die zum Spaß Angriff spielen wie Gören und durch ausgetrocknete Kakteen- und Dornbuschlandschaften reiten. Maria schwingt lächelnd die Pistole, während Lampião vor einer Singer-Nähmaschine sitzt. Dank dem Kino verbreitet sich sein Ruhm in ganz Brasilien. Er wird totgesagt und erscheint in allen Kinosälen. Er ist Rudolph Valentino. Er hat die Hauptdarstellerin verführt. Die beiden zeugten ein Mädchen, liebten sich leidenschaftlich bis zum Tod. 1937, ein Jahr nach den Dreharbeiten des Films, der möglicherweise ihren Untergang beförderte, kann Getúlio Vargas, der den Estado Novo gründet, um die Autorität des Bundesstaats auf dem gesamten brasilianischen Territorium durchzusetzen, den Cangaço nicht länger tolerieren. Er will dem prächtigen Paar, das ihn verspottet, ein Ende bereiten. Die Horde wird gejagt. Seit Langem sind Belohnungen auf ihre Köpfe ausgesetzt, fünfzig »Contos de reis« (fünfzigtausend brasilianische Real), was ein hübsches Sümmchen gewesen sein muss, vor allem aber beflügeln Lampiãos...