E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Dieckbreder / Hildebrandt Gemeinsam unterm Regenbogen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7615-6915-3
Verlag: Neukirchener
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Werkbuch Vielfaltssensibilität - LGBT+ für Diakonie, Gemeinden und soziale Arbeit
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-7615-6915-3
Verlag: Neukirchener
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Abkürzung LGBTIQ+ für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*, Inter* und Queer zeugt zunächst schlicht von der Vielfalt menschlichen Lebens. Doch dahinter stehen oft persönliche Lebenskrisen Einzelner ebenso wie gesellschaftliche Herausforderungen im Umgang mit Vielfalt insgesamt.
All dies ist auch Alltag in der Kinder- und Jugendhilfe. Daher müssen sich die Unterstützenden und Verantwortlichen klar werden, was dieses Thema für sie bedeutet. Gemeinsam sind Frank Dieckbreder und Sandra Hildebrandt diesen Fragen nachgegangen und haben mit Mitarbeitenden aus unterschiedlichen Bereichen sowie Expert:innen aus Diakonie und Kirche nach Antworten gesucht. Sie liefern eine Hilfestellung für alle, die im Bereich Kinder- und Jugendarbeit tätig sind.
Ein Buch, in dem die Autor:innen ihr bisheriges Wissen zusammentragen, Handlungsvorschläge darstellen und zum Weiterdenken und -handeln einladen. Praxisnah mit Beiträgen von Mitarbeitenden aus den Einrichtungen und Gesellschaften des freien Kinder- und Jugendhilfeträgers Diakonieverbund Schweicheln e.V., Kirche und Diakonie.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Christentum/Christliche Theologie Allgemein Christentum und Gesellschaft, Kirche und Politik
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Christentum/Christliche Theologie Allgemein Kirchliche Bildungseinrichtungen, Diakonie, Caritas
Weitere Infos & Material
LSBTIQ* – eine Frage der eigenen Wahlentscheidung? Markus Felk – Ev. Stiftung Dialog für innovative Kinder- und Jugendhilfe Blitzlicht Ich starte mit einem Gedankenexperiment: Menschen, die bei ihrer Geburt anhand bestimmter Merkmale als biologisch männlich bestimmt wurden, werden auf eine Insel verbannt. Auf dieser Insel leben ausschließlich biologische Männer. Diese Männer haben keinen Kontakt zu biologischen Frauen und ihnen fehlen zudem jegliche Bezüge aus der Natur (Tiere), die sie auf den Gedanken bringen könnten, dass es ein weibliches biologisches Geschlecht gäbe. Die Männer auf der Insel entwickeln eigene Kulturen und Strukturen des Zusammenlebens, bedienen sich vielleicht sogar männlicher Stereotypen heutiger Gesellschaften. Sie leben demnach völlig isoliert und abgeschottet. Was den biologischen Männern als erstes auffallen und sie auch skeptisch stimmen würde, wäre die Tatsache, dass der Nachwuchs nicht aus ihrer eigenen Population stammt, sondern stets von außen (also extern) dazukommt. Die Männer würden sich zwangsläufig die Frage stellen, wie das Leben entsteht. Dieser Frage nachzugehen wäre für die Männer von existenzieller Bedeutung. Das bedeutet, entweder muss ein Mythos als Lügengeschichte konstruiert werden und diesem Gedankenexperiment hinzugefügt werden oder aber die Männer gehen dieser Frage nach dem Entstehen des Lebens nach. Die Männer finden heraus, dass es Fortpflanzung gibt und dass es hierfür Mann und Frau benötigt, um Nachkommen zu zeugen. Die aufgebauten Strukturen und eigenen Kulturen würden dadurch von den Männern grundsätzlich infrage gestellt. An dieser Stelle lässt man die Männer entscheiden: Wollt ihr, dass alles weiterhin so bestehen bleibt und biologische Männer als Nachkommen auf die Insel gebracht werden oder wollt ihr, dass nun auch Frauen auf die Insel dürfen? Was entsteht in solch einer Gesellschaft, wenn alle bisherigen Strukturen des Zusammenlebens infrage gestellt würden? Was bisher bekannt ist Wenn man davon ausgeht, dass Sexualität sowie Geschlechtlichkeit eine wichtige Rolle im Leben von Menschen einnimmt, würden die biologischen Männer auf der Insel aufgrund des fehlenden weiblichen Geschlechts ausschließlich eine homosexuelle Orientierung entwickeln? Gäbe es eine Möglichkeit für die Männer, ohne Frauen eine eigene geschlechtliche Identität zu definieren? Würden die Männer ohne diesen Bezug überhaupt sagen können: Wir sind Männer? Ausgehend von diesem Gedankenexperiment ist zunächst nur eines klar: Die biologischen Männer könnten im weitesten Sinn nur überleben, wenn weiterhin nicht vorsozialisierte Männer auf die Insel gebracht würden. Außerdem wird in diesem Gedankenexperiment fälschlicherweise davon ausgegangen, dass es ein „isoliertes biologisches Geschlecht“ gäbe. Der französische Philosoph Michel Foucault hat mit einem einschlägigen Beispiel beschrieben, dass sich die binäre Geschlechterzuordnung (Mann und Frau) ab dem 18. Jahrhundert in europäischen Gesellschaften verfestigt hat. Im sogenannten „Fall Barbin“ geht Foucault auf die dokumentierten Lebenserinnerungen von Herculine Barbin ein, die im Jahr 1838 geboren wurde. Herculine Barbin, auch genannt Alexina, wurde in einem Nonneninternat großgezogen. Ein Pfarrer meldet das Mädchen aufgrund von körperlichen Anomalien und überführt sie an Klinik und Justiz. Psychiater*innen begutachten diesen entstandenen „Fall“ und versuchen nun, das wahre Geschlecht des Kindes zu ergründen sowie die damit verbundene Frage nach der Identität von Alexina zu klären. Nach weitreichenden Untersuchungen durch Mediziner*innen und Psychiater*innen wird letztlich an Alexinas Körper im Jahr 1860 festgestellt, dass sie ein Mann sei. Daraufhin wird ihre Geschlechtszugehörigkeit offiziell geändert. Im Jahr 1869 nimmt sich Alexina (männlicher gegebener Name: Abel) das Leben, kurz nachdem sie ihre Lebenserinnerungen aufgeschrieben hat. Michel Foucault führt zugleich auch auf, dass Hermaphroditen1 Anfang der Neuzeit und im Mittelalter eine Zweigeschlechtlichkeit zugeschrieben wurde. Außerdem hatten Hermaphroditen zu dieser Zeit die Möglichkeit, sich ein Geschlecht auszusuchen. Es war demnach eine Sache der Selbstauslegung. Das Zeitalter der Sexualität beginnt laut Foucault erst innerhalb des 18. Jahrhunderts, als sich die medizinisch-wissenschaftliche Disziplin in diesen Diskurs von Sexualität und Geschlechtlichkeit einmischt sowie die Deutungshoheit aktiv mitbestimmt. Der von Foucault beschriebene „Fall Barbin“ zeigt aber auch eine ganz andere Tragik auf. Alexina war den Organisationen schutzlos ausgeliefert. Sie wurde nach bestimmten Kriterien eindeutig einer geschlechtlichen Kategorie zugeordnet und musste diese Entmenschlichung respektive Objektivierung über sich ergehen lassen. Ein Teil ihres Seins (weibliche Geschlechtszuordnung) wurde ihr entzogen und durch ein anderes Sein (männliche Geschlechtszuordnung) ersetzt. Foucault würde nicht behaupten, dass die Schuld dieses tragischen Vorfalls im „Fall Barbin“ beim Pfarrer liegt. Es ist eher eine gesellschaftlich-strategische Ausrichtung2, die alle Organisationen zu der Zeit institutionell mit dominierenden Deutungshoheiten über Sexualität / Geschlechtlichkeit durchströmt. Der Pfarrer bestätigt mit seiner Meldung die aufkeimende biologisch-medizinische Deutungshoheit im 19. Jahrhundert. Michel Foucault zeigt auch auf, dass sich Denksysteme gegenwärtiger europäischer Gesellschaften aus der Geschichte ableiten lassen. Es gibt demnach keine genuinen Wahrheiten. All das, was gesagt und gesprochen wird, folgt bestimmten Einschluss- und Ausschlusskriterien. Diese scheinbar unsichtbaren Regeln bestimmen und vordefinieren das Sprechen, Schreiben und sogar das Denken von Menschen. Bezogen auf das eingangs beschriebene Blitzlicht würde also nicht die Frage im Vordergrund stehen, ob biologisch definierte Männer sagen könnten: „Wir sind Männer“. Es ist deutlich interessanter zu ergründen, warum Menschen diese Unterscheidung (in weiblich und männlich) vornehmen und seit wann dieses Phänomen erkennbar ist. All das, was sich so selbstverständlich und alltäglich im Verhalten und Denken widerspiegelt, war nicht immer so und befindet sich stets im Wandel. Die Philosophin Judith Butler setzt an der Theorie Foucaults an. Sie geht in ihrer Analyse der Geschlechterforschung auf das oft anzunehmende dichotome Verständnis von Kultur und Natur ein. Vom Standpunkt der Natur aus begriffen (medizinisch-biologisch), wird in der Differenz von Mann und Frau an äußeren Merkmalen festgemacht, dass es ausschließlich Männer und Frauen gibt. Gestützt wird diese These auch dahingehend, dass beispielweise bei Medikamentenentwicklung beziehungsweise deren Dosierung der biologisch männliche Stoffwechsel anders reagiert als der biologisch weibliche Stoffwechsel. Zudem wird die Fortpflanzung als Erhaltungstrieb, also als essenzielles in der Natur verankertes Prinzip vorausgesetzt, aus der sich, wie man heute sagen würde, das heterosexuelle Familienmodell ableitet. Foucault spricht hierbei auch von der Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens. Demgegenüber wird Kultur als etwas bezeichnet, das sich im Rahmen dieses essentialistischen Weltbilds (als Voraussetzung) aufbaut. Völlig losgelöst voneinander sind Kultur und Natur mit diesem Verständnis dann nicht miteinander vereinbar. Am 5. Juni 2021 hat arte auf der Plattform Youtube3 Coming-Outs von jungen queeren Menschen veröffentlicht. In der Reaktion der Eltern gegenüber ihren Kindern zeigt sich häufiger in der Perspektive der Eltern, dass ihre Kinder eine Wahl getroffen hätten. Daraufhin reagieren die Kinder häufig wütend oder auch traurig und erwidern, dass sie sich das Geschlecht und ihre sexuelle Orientierung nicht ausgesucht hätten, sondern sie so seien. Hierbei unterscheiden sich die Glaubenssätze grundlegend voneinander. Die Eltern treffen ihre Aussage: „Du hast es dir ausgesucht“ auf Grundlage des Normalitätsverständnisses einer binären Geschlechterordnung sowie einer heterosexuellen Ausrichtung. Das verleitet die Eltern zu der Schlussfolgerung, dass alles über dieses Verständnis hinaus „unnormal“ sei. Die Kinder werden also von den Eltern unbewusst pathologisiert. Auch hier würde Foucault behaupten, dass es sich wie beim Pfarrer im „Fall Barbin“ nicht um eine Schuldfrage handelt, weil die Sozialisation der Eltern vom Normalitätsverständnis einer heterosexuellen Geschlechterordnung geprägt ist. Wie lässt sich diese Dichotomie zwischen Natur und Kultur auflösen, wenn doch beiden Aspekten gewisse Zugeständnisse unterbreitet werden müssen (Beispiel: Medikamentenentwicklung)? Zunächst muss hierfür der Naturbegriff vom Kulturbegriff abgegrenzt werden. Alles, was aus der Natur entsteht (der Mensch mit eingeschlossen), schließt ebenso die Möglichkeit mit ein, dass Menschen LSBTIQ* sind. Es gibt kein hinreichendes Kriterium dafür, dass sich cis-heteronormative Gesellschaftsideale aus der Natur ableiten ließen. Eine solche Argumentation wäre in sich absolut, da die Natur die Menschen hervorgebracht hat. Ausgehend von dieser Betrachtung wäre die binäre Geschlechterzuordnung ein Produkt der Kultur, was sich bloß dem Anschein nach aus der Natur begründet und demnach dazugedichtet ist. Bezugnehmend auf die diskurskritischen Analysen Foucaults wird Kultur in Abgrenzung zur Natur als all das auf der Welt bezeichnet, das menschengemacht ist. Wenn eine Person bei Rot über die Ampel geht und Polizist*innen darauf hinweisen, dass das nicht erlaubt sei, handelt es sich...