E-Book, Deutsch, 496 Seiten
Dietz Menschen mit Mission
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-417-27035-8
Verlag: SCM R. Brockhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Landkarte der evangelikalen Welt
E-Book, Deutsch, 496 Seiten
ISBN: 978-3-417-27035-8
Verlag: SCM R. Brockhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Große Krise, große Hoffnung?
Die Geschichte der evangelikalen Bewegung ist vielfältig und umfangreich. Thorsten Dietz reagiert auf das Bedürfnis, die eigene Geschichte und Entwicklung nachzuvollziehen. Er erklärt fundiert und sehr persönlich, wie der Aufbruch der Evangelikalen zum Ausgangspunkt für zahlreiche Bewegungen wurde. Er greift aktuelle Krisenaspekte auf und beschreibt Zukunftsperspektiven, die Hoffnung wecken. Denn die Zukunft ist offen. Die Frage ist: Sind wir bereit für den nächsten Aufbruch?
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
[ Zum Inhaltsverzeichnis ] 1. EVANGELIKALISMUS – EINE GLOBALE GLAUBENSBEWEGUNG DER NEUZEIT
Zunächst brauchen wir eine erste Verständigung über unser Thema: Was sind Evangelikale? Und schon wird es kompliziert. Was bekennende Evangelikale über sich selbst sagen, was kirchenhistorische Forschung zu ihnen schreibt und was Medien in sehr viel größerer Knappheit berichten, kann sehr unterschiedlich ausfallen. Ich möchte daher im Folgenden vier grundlegende Perspektiven vorstellen, die ich miteinander verbinden möchte: grundlegende Merkmale des Evangelikalismus, Epochen des Evangelikalismus, Institutionen des Evangelikalismus und gesellschaftspolitische Ausprägungen des Evangelikalismus. DIE MERKMALE DES EVANGELIKALISMUS
Woran erkennt man Evangelikale? Der britische Historiker David Bebbington hat in seinem Standardwerk über die Geschichte der Evangelikalen in Großbritannien vier zentrale Aspekte vorgeschlagen.4 Dieses Verständnis wurde nicht nur in der internationalen Forschung zu Evangelikalen vielfach aufgegriffen. Es wurde auch von vielen Evangelikalen akzeptiert und zum Teil ihrer Selbstbeschreibung. Evangelikale erkennt man an folgenden Merkmalen: der Betonung der Bekehrung, dem Ansporn zur Weltveränderung, der Höchstschätzung der Bibel und an der Konzentration auf Jesus Christus als Erlöser. 1. BEKEHRUNG – CONVERSIONISM
Das Stichwort Bekehrung steht nicht zufällig am Anfang. Mit diesem Konzept verbinden sich ein inhaltliches Anliegen, soziale Differenzierung und praktische Konsequenzen. Evangelikale zeichnen sich aus durch ihre starke Betonung der eigenen Entscheidung für Jesus Christus. Evangelikal ist man nicht durch Geburt, Familientradition oder Kindertaufe. Evangelikal ist man bewusst, durch eine persönliche Hinwendung zum christlichen Glauben. Evangelikal ist man bewusst, durch eine persönliche Hinwendung zum christlichen Glauben. Das Konzept „Bekehrung“ hat soziale Konsequenzen: es unterscheidet Bekehrte und Unbekehrte, Gläubige und Nichtgläubige. Daher bedarf es einer gewissen Eindeutigkeit. Zu manchen Zeiten haben Evangelikale bestimmte Muster von Bekehrungserfahrungen betont. Aber es wäre eine Engführung, allen Evangelikalen solche Schematisierungen zu unterstellen. Wichtiger als die konkrete Gestalt einer Bekehrungserfahrung ist die deutliche Unterscheidung von gläubig und ungläubig, von bekehrt und unbekehrt. Niemand muss sich in einer ganz bestimmten Weise bekehrt haben. Aber als wesentlich gilt das Ergebnis einer solchen Bekehrung, ein persönliches Bekenntnis zu Jesus Christus als Erlöser und ein Leben in der Nachfolge. Die Hochschätzung der Bekehrung hat praktische Folgen. Dass Menschen zum Glauben kommen, ist ein überragendes Ziel für das eigene Christsein, das alle Bereiche des persönlichen wie des gemeindlichen Lebens mindestens indirekt mitbestimmt. Evangelikale sind Menschen mit Mission. 2. AKTIVISMUS – ACTIVISM
Das zweite Merkmal von Evangelikalen ist ein ausgeprägter religiöser Aktivismus in kirchlicher, missionarischer und sozialer Hinsicht. In ihrem Gemeindeverständnis betonen Evangelikale, dass es am Leib Christi keine passiven Glieder gibt. Die reformatorische Idee vom Priestertum aller Gläubigen wird stark betont. Die klassisch kirchliche Tradition einer starken Priester- und Pfarrerzentrierung wird abgelehnt. Evangelikale engagieren sich besonders stark für Evangelisation und (Welt-)Mission. Viele von ihnen unterstützen Missionarinnen und Missionare in aller Welt finanziell und im Gebet. Für den Großteil der evangelikalen Strömungen gehört dazu auch ein intensives Bemühen um Sozial- und Gesellschaftsreformen. Evangelikale verstehen sich als Licht und Salz ihres Umfelds und wollen auch als Mitglieder ihrer Gesellschaft Zeugen Jesu Christi sein. 3. BIBLIZISMUS – BIBLICISM
Die Bibel ist für Evangelikale nicht nur die Grundlage der kirchlichen Lehre wie in der Reformation, sondern zentraler Bezugspunkt für alle Gläubigen in ihrer Frömmigkeit, in ihrer missionarischen Aktivität, in ihrem Denken und ihrer Praxis. In der Reformationszeit war eine Bibel für die meisten Menschen noch unbezahlbar teuer. Erst ab dem 18. Jahrhundert sorgen Pietisten und Evangelikale dafür, dass die Bibel für viele erschwinglich wird. Nun erst wird von allen Gläubigen regelmäßiges Bibellesen erwartet, und sei es in der Form der berühmten Herrnhuter Losungen. Die Bibel selbst wird zu einem zentralen Bezugspunkt der persönlichen Frömmigkeit. Evangelikale streben nach einem möglichst biblisch fundierten Denken, in der Theologie wie, soweit es möglich ist, in der christlichen Lehre für alle Gläubigen. Die Betonung der autonomen Vernunft in der Aufklärungszeit wird entsprechend kritisch gesehen, vor allem da, wo dieses Denken Theologie und Kirche prägt. Schließlich verschreiben sich Evangelikale in besonderer Weise der Bibelverbreitung. Sie engagieren sich sehr stark für Bibelübersetzungen in möglichst viele Sprachen der Welt und entwickeln viele Formate, mit deren Hilfe die Bibel für Menschen aller Stände zugänglich wird. 4. KREUZESZENTRIERUNG – CRUCICENTRISM5
Für alle evangelikale Strömungen ist eine auf Jesus Christus zentrierte Frömmigkeit von zentraler Bedeutung. Das gilt so allerdings auch für die meisten Formen des Christentums insgesamt. Gerade auch im liberalen Christentum spielt Jesus eine zentrale Rolle. Was ist die Besonderheit der evangelikalen Beziehung zu Jesus Christus? Evangelikale legen großen Wert darauf, dass Jesus Christus wahrer Mensch und wahrer Gott ist. Moderne Versuche, Jesus als rein menschliches Vorbild des Glaubens zu würdigen, werden entschieden abgelehnt. In vielen evangelikalen Bekenntnissen wird Jesus Christus als Herr und Erlöser bezeichnet. Die Menschwerdung Gottes wird stark betont. Noch zentraler ist für die allermeisten das Kreuz Jesu, verstanden als stellvertretender Opfertod zur Erlösung von Sünde und Tod. Für die meisten Evangelikalen ist eine intensive Jesusfrömmigkeit typisch. Sie beten häufiger direkt zum Auferstandenen als die Angehörigen anderer Frömmigkeitstraditionen, und sie suchen in ihrem Lebensalltag Orientierung am Handeln Jesu. Evangelikale teilen nicht nur bestimmte Merkmale, sie sind verbunden durch eine gemeinsame Geschichte. Für die heutige Verständigung über Evangelikalismus sind diese vier Merkmale schon deshalb unverzichtbar, weil sie eine so breite Anerkennung gefunden haben, sowohl in der Forschung wie bei vielen Evangelikalen. Aber dieses Schema allein genügt nicht. Nicht wenige Katholiken finden sich in diesen Merkmalen wieder, ohne dass sie sich deshalb als evangelikal bezeichnen würden. Evangelikale teilen nicht nur bestimmte Merkmale, sie sind verbunden durch eine gemeinsame Geschichte. Ihre Überzeugungen, ihre Traditionen und ihre Identität sind durch eine Reihe von geschichtlichen Erfahrungen geprägt worden. Es gibt Evangelikale, die denken, ihren Glauben direkt auf die Urchristenheit zurückführen zu können. Sie sind überzeugt, dass Evangelikale stets für die gleichen biblischen Anliegen gestanden haben. Faktisch haben sie jedoch sowohl in ihren theologischen Überzeugungen als auch in ihrer kulturellen und gesellschaftspolitischen Ausrichtung immer wieder dramatische Veränderungen durchlaufen. In verschiedenen Epochen und nicht zuletzt auch auf unterschiedlichen Kontinenten ist im Laufe der Geschichte eine enorme Vielfalt von evangelikalen Ausprägungen entstanden. Wer die Bewegung besser verstehen will, muss die Grundzüge ihrer Geschichte kennen. DIE GESCHICHTE DES EVANGELIKALISMUS
In den letzten Jahrzehnten wurde intensiv zur Geschichte der Evangelikalen geforscht. In diesem Buch werde ich mich vor allem auf den Evangelikalismus der letzten 50 Jahre konzentrieren. Aber natürlich kann dabei nicht ganz von seiner Geschichte insgesamt abgesehen werden. Man muss an dieser Stelle unterscheiden zwischen Evangelikalismus im weiteren Sinne und Evangelikalismus im engeren Sinne. Im weiteren Sinne bezieht sich der Begriff Evangelikalismus auf die geistlichen Aufbrüche im Protestantismus seit den 1730er-Jahren in Nordamerika und Großbritannien. Von dieser Zeit an lässt sich eine kontinuierliche Geschichte der Evangelikalen erzählen, auf beiden Seiten des Atlantiks und weit darüber hinaus, vor allem für die englischsprachige Welt.6 Schon die globale Ausbreitung im britischen Empire bzw. später in den Staaten des Commonwealth und in den USA sowie die breite Missionstätigkeit in aller Welt sorgten dafür, dass diese Strömungen globale Prägekraft bekamen. Mit Evangelikalismus im engeren Sinne meine ich die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Denn erst in dieser Zeit bedeutet das Wort evangelical auch in USA nicht mehr allgemein „evangelisch“, sondern eine bestimmte Frömmigkeitsform, die sich auf die Erweckungstradition seit dem 18. Jahrhundert beruft. 1. WURZELN UND AUFBRÜCHE
(GREAT AWAKENING 1730–1790)
In den nordamerikanischen Kolonien kam es in den 1730er- und 1740er-Jahren zu einer Reihe von geistlichen Erweckungen, das heißt, der zeitnahen und intensiven Zuwendung vieler Menschen zum christlichen Glauben. Im geschichtlichen Rückblick sprach man vom Great Awakening. Für die Identität und das geschichtliche Selbstbewusstsein der evangelikalen Bewegung haben diese Aufbrüche bis heute überragende Bedeutung. Prediger wie Jonathan Edwards (1703–1758) und der aus England stammende George Whitefield...