Dörr / Lethe / Grasl | 13 Urbane Legenden | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Dörr / Lethe / Grasl 13 Urbane Legenden

Geschichten, basierend auf den Sagen unserer Ahnen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-98528-019-3
Verlag: Shadodex - Verlag der Schatten
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Geschichten, basierend auf den Sagen unserer Ahnen

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-98528-019-3
Verlag: Shadodex - Verlag der Schatten
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In jedem Dorf, in jeder Stadt gibt es Geschichten, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen.

Jeder von uns kennt sie unter dem Namen »Urbane Legenden«.

Es sind Geschichten, die man sich in lauen Sommernächten am Lagerfeuer erzählt und die von mysteriösen bis gruseligen paranormalen Begebenheiten handeln.

Sind das aber wirklich nur Ammenmärchen?

Oder steckt tatsächlich ein Körnchen Wahrheit in diesen alten Legenden?

Freut euch nun auf spannende Geschichten, basierend auf den Sagen unserer Ahnen.

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Die Feuerkutsche von Lennox Lethe
    »Brauchen Sie ein Taxi?« Die Worte des Mannes trafen sie, noch bevor der warme Wind ihre Wangen erreichte. Anna rollte ihren Trolley gerade aus der Drehtür von Terminal 2. »Das wäre toll.« »Dann kommen Sie.« Er spazierte zum Taxistand und steuerte einen elfenbeinfarbenen Mercedes in der Mitte der Reihe an. Ein Kollege schaute missbilligend zu, wie er Annas Trolley im Kofferraum verstaute. »Normalerweise geht’s der Reihe nach«, sagte der Taxifahrer, als sie im Fahrzeug saßen. »Das ist so üblich, aber keine Vorschrift. Sie haben nämlich freie Fahrzeugwahl, wussten Sie das?« Anna zuckte mit den Schultern. Darüber hatte sie noch nie nachgedacht und es war ihr auch egal. »Ich war gerade eine rauchen und hab Sie gesehen. Ich rauche nie beim Taxi, wissen Sie. Sonst denken die Leute, dass ich keine Zeit für sie habe. Wo soll’s denn hingehen?« Sein rheinländischer Tonfall erinnerte an die Büttenredner im Karneval. Er dehnte die Vokale und sprach die Gs wie Js aus. Anna schätzte ihn auf Mitte sechzig, vielleicht älter. Er trug karierte Bermudas, ein blaues Hemd und eine braune Weste aus Kunstleder mit einem Kuli in der Brusttasche. Die verspiegelte Sonnenbrille hatte er in die kurzen, weißen Haare geschoben. Sie nannte ihm die Adresse in Bayenthal. Nickend stellte er das Taxameter ein und fädelte sich in den Verkehr ein. »Ist nicht Ihr erstes Mal in Kölle, hab ich recht? Ich hab ’nen Blick für so was.« »Meine Eltern wohnen hier.« »Ostern bei Vater und Mutter. Na, das ist doch herrlich.« Sie nickte artig. In Wirklichkeit graute ihr vor den Ostertagen. Sie hasste es, wenn fröhliche Menschen aufeinander gluckten. Das Taxi rauschte über die schmale Zubringerautobahn. Dann ging es über die Rodenkirchener Brücke. Auf dem Rhein glitten weiße Ausflugsschiffe dahin wie dünne Zigarren, und auf dem Wasser glitzerte die goldene Märzsonne. »Sind eine Menge Touristen in der Stadt«, sagte der Fahrer. »Das Wetter spielt prima mit. Hat der Petrus gut gemacht.« »Dann haben Sie ja viel zu tun. Freitag Abend ist in Köln doch Party angesagt.« Anna dachte an die Partymeile um die Zülpicher Straße, wo sie als Studentin gekellnert hatte. Da hatte sie Marcel kennengelernt. »Nicht heute. Wir haben Karfreitag.« Er warf ihr einen strengen Blick zu. »Na und? Heutzutage interessiert das doch niemanden mehr.« »Das Ordnungsamt schon. Tanzveranstaltungen, Märkte und Sportevents sind verboten. Im Kino laufen keine Horrorfilme. Der Karfreitag ist ein stiller Feiertag.« Anna machte sich nichts aus der Kirche, aber jetzt erinnerte sie sich dunkel daran, so etwas schon einmal gehört zu haben. »Heute ist alles still«, sagte der Fahrer. »Abgesehen von der Feuerkutsche natürlich.« Er lachte. »Der was?« »War bloß ein Witz. Die Feuerkutsche ist eine Legende.« Anna hatte keine Ahnung, wovon er sprach. »Ich dachte, Sie sind von hier? Dann müssen Sie doch davon gehört haben.« Leicht verlegen schüttelte Anna den Kopf. »Die Geschichte von der Feuerkutsche stammt aus dem Mittelalter, als Kölle so ein richtiges Drecksloch war. Die Leute waren arm.« Er schob seine Sonnenbrille auf die Nase, sodass Anna sich in den Gläsern spiegelte, als er kurz zu ihr hinüber auf den Beifahrersitz sah. »Es gab da einen Bürgermeister, und der war ’ne richtig fiese Möpp. Er besaß Ländereien vor den Toren der Stadt und schwamm im Geld, lebte in Saus und Braus wie ein Pascha. Aber statt den Leuten etwas abzugeben, ließ er die Pflanzen lieber auf den Feldern verrotten. Er hatte ein Herz aus Stein.« Der Fahrer verzog abfällig das Gesicht. »Der Herrgott im Himmel und sein Kollege in der Hölle sahen sich das eine Weile an. Dann war Schluss mit lustig. Der Bürgermeister wurde mit der Kutsche geholt.« »Wer hat ihn geholt?« Der Fahrer grinste. »Na, der Teufel. Gerade als der Bürgermeister aus dem Rathaus kam, hat sich die Erde aufgetan und eine glühende Kutsche kam direkt aus der Hölle emporgeschossen. Die Pferde standen lichterloh in Flammen. Der gute Mann schrie und wollte weglaufen, doch der Teufel hat seine Peitsche nach ihm geschwungen und ihn in die Kutsche gezogen. Dann ratterte sie davon und verschwand in einem Loch in der Erde direkt beim Gürzenich.« Der Fahrer setzte den Blinker, scherte auf die Abbiegespur aus. »Aber das ist noch nicht das Ende der Geschichte. Damit man die Sache auch nicht vergisst, bricht in der Nacht vom Karfreitag zwischen Rathaus und Gürzenich die Hölle los. Punkt Mitternacht hört man Pferdegetrappel und das Rattern von Rädern. Schon von Weitem sieht man den Feuerschein die Häuser entlangzucken. Spätestens jetzt ist es Zeit, zu verschwinden und sich im Bett die Decke fest über den Kopf zu ziehen. Die Mutigen, die aus den Fenstern schauen, so erzählt man sich, sehen die Kutsche durch die Gassen rasen. Sie steht lichterloh in Flammen. Die Pferde brennen und sprühen Funken wie Konfetti. Auf dem Kutschbock sitzt der Teufel persönlich und in der Kutsche trommelt der hartherzige Bürgermeister verzweifelt gegen die Fenster.« Anna hob skeptisch die Brauen. »Hat wirklich mal jemand die Kutsche gesehen?« »Keine Ahnung. Glaube nicht, dass das Ordnungsamt es schon mal versucht hat. In Kölle hat der Teufel ne Ausnahmegenehmigung.« Die Fahrt endete vor einem gepflegten Arbeiterhaus aus der Gründerzeit. Die Wohnung ihrer Eltern lag im Erdgeschoss. An den Fenstern klebten kitschige Osterhasen und im Treppenhaus roch es nach Lavendel. »Da bist du ja, Anna.« Ihre Mutter strahlte über beide Backen. Eine geblümte Kochschürze spannte über dem runden Bauch. Ihre haselnussbraun gefärbten Haare waren wie eine Krone auf dem Kopf getürmt. »Ein Jammer, dass du erst jetzt kommst. Du hast den Kreuzgang verpasst.« »Es gab keinen früheren Flug. Ostern will jeder nach Hause.« Anna lächelte entschuldigend. In Wirklichkeit hatte sie keine Lust verspürt, sich in aller Herrgottsfrüh für den ersten Flieger aus dem Bett zu quälen, um mit der Familie die Passionsgeschichte abzuklappern. Jetzt kam sie pünktlich zum Mittagessen und sie hatte Hunger mitgebracht. Im Wohnzimmer schlug ihr kollektiver Frohsinn entgegen. Alle lachten und strahlten. Ihre Schwester Marie war seit Weihnachten noch schlanker geworden, ihr Mann Simon noch pummeliger, als hätten die beiden die Fettpolster getauscht. Jonathan und Victoria, die verhätschelten Zwillinge, beschmierten gerade eine Staffelei mit Acrylfarben. Das Zeitungspapier auf dem Boden war mit bunten Farbklecksen übersät. »Ausgezeichnet«, lobte Annas Vater. »Schau mal, Anna.« Die schiefen Kreise und grünen Striche sollten wohl ein Osternest darstellen. Falls ihr das Bild später als Geschenk aufgedrängt wurde, würde sie es heimlich im Müll entsorgen wie den selbst gebastelten Weihnachtsmann. Sie konnte einfach nichts damit anfangen. »Hübsch«, log sie und wuschelte den Kindern unsicher durch die Haare. »Unsere Familie hat Talent.« »Tatsächlich hat Papa nächste Woche eine Vernissage«, rief Simon vom Sofa. »Im Gemeindecafé?« Da hingen seine Bilder regelmäßig und wurden von kurzsichtigen Rollatorrentnern mit wohlwollenden Blicken betrachtet. »Im Kolumba.« Ihr Vater lächelte stolz. »Von mir ist nur ein einziges Werk dabei, aber das reicht schon.« »Das freut mich.« Sie trat näher an eins der Stillleben heran, die überall im Raum hingen und sich eifrig bemühten, an die Qualität der Holzrahmen heranzureichen. Die Blumensträuße, Karaffen und Teekannen erinnerten sie an die dünnen UNICEF-Postkarten, die man in der Adventszeit ungefragt im Briefkasten fand. »Das Kolumba ist das Kunstmuseum des Erzbistums Köln«, trällerte Annas Mutter. Sie hatte die Küchenschürze inzwischen ausgezogen und damit begonnen, den Tisch zu decken. »Der liebe Pastor Klütsch hat ein paar Fäden gezogen.« Anna lächelte steif. Wahrscheinlich war die Ausstellung sehr viel weniger spektakulär, als alle gerade taten. Dass der Kram aber überhaupt in einem richtigen Museum hing, war verrückt. Ohne den kölschen Klüngel wäre es nie passiert. Als sie am Tisch saßen, bemerkte Anna die Fischmesser. Sie hatte sich auf etwas Anständiges gefreut. Normalerweise tischte ihre Mutter bergeweise Essen auf. Weihnachten war sie mit drei prall gefüllten Tupperdosen nach Hause gefahren. »Es ist Karfreitag«, erklärte ihre Mutter nach dem Tischgebet. »Da gibt es immer Fisch. Den Hecht habe ich gestern ganz frisch in der Markthalle gekauft. Bei Beerens Fischspezialitäten, die sind die Besten.« »Er schmeckt ganz ausgezeichnet«, schleimte Simon und verdrehte entzückt die Augen. »Stimmt’s Kinder? Sagt der Oma, wie euch das Essen schmeckt.« »Super, Oma«, lobten Jonathan und Victoria eifrig und bissen synchron in ihre Fischstäbchen. Der Hecht blieb den Erwachsenen vorbehalten. »Wo ist denn der Weißwein? Wenn es schon Fisch gibt …« Anna schob den Stuhl zurück, doch ihre Mutter hielt sie mit einer freundlichen Geste zurück. »Du weißt doch, dass wir in der Fastenzeit keinen Alkohol trinken.« Anna zog den Stuhl wieder heran und nippte an ihrem Wasserglas. Das Familienfest ging ihr schon jetzt auf die Nerven. Sie ertrug die überschwängliche Idylle einfach nicht. Gerade tätschelte Marie Simons Arm und schaute zu ihren perfekten Kindern hinüber, die ihre Fischstäbchen auf den Tellern in kleine Pakete zerteilt hatten, welche sie munter in Ketchup...



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