E-Book, Deutsch, 249 Seiten
Doppe / Holtermann Vom Scheitern, Zweifeln und Ändern
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-95405-093-2
Verlag: Unrast Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kritische Reflexionen von Männlichkeiten
E-Book, Deutsch, 249 Seiten
ISBN: 978-3-95405-093-2
Verlag: Unrast Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Warum setzen sich eigentlich so wenige Männer für die Gleichberechtigung aller Geschlechter ein, wenn doch die Ungerechtigkeiten so offensichtlich sind?
Die derzeitigen Ausformungen der Männlichkeiten spielen eine zentrale Rolle bei der Entstehung wie auch der Beständigkeit von Patriarchat, Sexismus und geschlechtlichen Ungleichheiten auf strukturellen Ebenen. Aber ebenso üben sie Einfluss auf der individuellen Ebene aus.
Der vorliegende Sammelband nähert sich dem Thema aus 15 verschiedenen Perspektiven, sowohl cis-männlichen als auch anderen. Er verknüpft und berücksichtigt dazu abstrakt-analytische und biografisch-persönliche Herangehensweisen, bringt diese immer wieder in Zusammenhang und beschreibt Wechselwirkungen.
Zentrales Anliegen des Sammelbandes ist es, aufzuzeigen, wo und wie geschlechtliche Machtstrukturen offensichtlich und subtil fortbestehen, selbst wenn die involvierten Personen ein ernsthaftes Interesse daran haben, diese abzubauen. Die Zielrichtung ist dabei, Wege für ein gutes Zusammenleben für alle zu finden, in dem Geschlecht keine Ungleichheiten, Gewalt und Hierarchien mehr erzeugt.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Einleitung
Vorüberlegungen
Die Notwendigkeit der kritischen Perspektive auf Männlichkeiten
Warum setzen sich eigentlich so wenige Männer[1] für die Gleichberechtigung aller Geschlechter ein, wenn doch die Ungerechtigkeiten so offensichtlich sind? Die derzeitigen Ausformungen der Männlichkeiten[2] spielen eine zentrale Rolle bei der Entstehung wie auch der Beständigkeit von Patriarchat, ?Sexismus[3] und geschlechtlichen Ungleichheiten auf strukturellen Ebenen. Aber ebenso üben sie Einfluss auf der individuellen Ebene aus: Ein Großteil der alltäglichen Gewalt gegenüber Frauen, Lesben, ?inter*, nicht-binären, ?trans* und agender Personen (?FLINTA*) geht von cis Männern aus, und die individuellen Freiheiten und Entwicklungsmöglichkeiten von allen Geschlechtern werden durch Männlichkeiten eingeschränkt. Die Aufzählung der negativen Auswirkungen auf den verschiedenen Ebenen ließe sich beliebig fortführen. In der Öffentlichkeit ist das Thema Männlichkeiten aktueller denn je und es findet wieder eine (kritische)[4] Beschäftigung damit statt. In journalistischen und wissenschaftlichen Artikeln oder in politischen Kampagnen wie #Aufschrei oder #metoo wird diskutiert, was Männlichkeiten mit Sexismus, Rechtsruck oder dem Klimawandel zu tun haben (könnten). Zudem wird das Thema Männlichkeiten immer wieder mit den Begriffen ›fragil‹ oder ›toxisch‹[5] in Verbindung gebracht. Es wird von der ›Verunsicherung des Mannes‹ oder der Männlichkeit geschrieben und sich nach ›Traditionellem‹ und ›Stabilität‹ gesehnt. Gleichzeitig nehmen die vielfältigen Darstellungen und Lebensweisen von Männlichkeiten, die durch ?feministische, queere, antirassistische und andere emanzipative Bewegungen und Errungenschaften erst möglich geworden sind, zu. Es kommt zum gleichzeitigen Zerren und Streben – vor- und rückwärts. Die öffentliche Beschäftigung ist dabei mal mehr meist jedoch weniger kritisch, weil sie in der Regel die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und -strukturen nicht mitbetrachtet. Unserer Einschätzung nach, ist die Auseinandersetzung mit Männlichkeiten in linken, männlichkeitskritischen Kreisen meist entweder von einer individuellen Betroffenheit oder von einem theoretischen Zugang geprägt. Beide Herangehensweisen haben ihre Berechtigung als auch ihre Herausforderungen. Bei der individuell-biografischen Herangehensweise besteht die Gefahr der Resouveränisierung von Männlichkeiten, also der Selbstbestätigung und Verstärkung von männerbündischem und patriarchalem Verhalten, sowie der Selbstreferenzialität. Diese zeigt sich im Außerachtlassen des wechselseitigen Produktionsprozesses von Geschlecht, Männlichkeiten beziehen sich immer auf andere Geschlechter und das meist hierarchisch, und den Menschen, die von Männlichkeiten vor allem betroffen sind: FLINTA*. Bei der biografischen Herangehensweise werden oft gesellschaftliche Machtverhältnisse außer Acht gelassen. Die vornehmlich theoretische Auseinandersetzung mit Männlichkeiten birgt die Chance, diese gesellschaftlichen Verstrickungen zu berücksichtigen. Die theoretische Reflexion von Männlichkeiten hat gleichzeitig meist den Fallstrick, dass die Ebene der eigenen Betroffenheit und Reproduktion ›vergessen‹ werden kann und es zu keinen Veränderungen auf der individuellen Handlungsebene kommt. Gerade die Wechselbeziehungen zwischen dem individuellen Erleben und Leben von Männlichkeiten sowie der theoretischen Verstrickung ist für die kritische Reflexion von Männlichkeiten zentral. Daher haben wir uns für die Kombination der beiden Herangehensweisen entschieden, sowohl die individuelle-biografische Ebene zu berücksichtigen als auch die theoretisch gesellschaftliche Kontextualisierung. Inspiration für diese Herangehensweisen waren die Diskussionen mit Bilke Schnibbe und Andreas Hechlers sowie sein Artikel »Den Zweifel nähren – Meine kritische Auseinandersetzung mit Männlichkeit«[6]. Grundlage für den Sammelband war die Anfrage des Unrast-Verlages an Andreas Hechler, ein Buch zum Thema Männlichkeiten zu schreiben. Vor diesem Hintergrund starteten wir als vier Herausgeber*innen: Andreas Hechler, Bilke Schnibbe, Blu Doppe und Daniel Holtermann. Hechler und Schnibbe stiegen im Laufe des Schreibprozesses aus Kapazitätsgründen aus. Privilegien und Nachteile
Dass sich cis Männer mit Männlichkeiten in Praxis oder in Textform beschäftigen, ist ein Phänomen, welches über die Zeit immer wieder auftaucht und verschwindet. Für cis Männer scheint oft keine intrinsische Motivation vorzuliegen, sich kritisch mit Männlichkeiten auseinanderzusetzen. Die Verwunderung über die eigene Motivationslosigkeit hält sich jedoch in Grenzen, müssten sich die cis Männer doch ansonsten zwangsläufig mit der eigenen Privilegierung und der von ihnen ausgehenden (strukturellen) Gewalt und Macht beschäftigen. Sich als cis Mann mit den eigenen Privilegien zu beschäftigen, ist eine Ausnahme, allerdings essenziell für Veränderungen und Emanzipation. Mit Privilegien geht meistens eine aus der ansozialisierten Position entspringende Ignoranz und entsprechende Wahrnehmungsschwierigkeiten für die Nachteile anderer und die eigenen Vorteile, welche aus den gesellschaftlichen Machtstrukturen entstehen, einher. Positiver formuliert mangelt es in der höchstprivilegierten Position[7] an Reflexionsressourcen: Es fehlt ein Bewusstsein dafür, an welcher Stelle ?Männlichkeitsanforderungen Männer und andere Geschlechter einschränken und ihnen schaden. Sich aus einer privilegierten, männlichen Position in die Situation und Position von deprivilegierten Personen zu versetzen, ermöglicht es, zu verstehen, welches Leid durch Männlichkeiten ausgelöst wird. Ein größeres Verständnis, vor allem auf der emotionalen Ebene, für die unterschiedlichen Situationen, in denen Menschen leben, hat ein großes emanzipatives Potenzial. Für uns ist es von großer Bedeutung, Privilegien und Nachteile dabei zu differenzieren: So haben höchstprivilegierte cis Männer Nachteile in dieser Gesellschaft. Diese entspringen aus den Geschlechtsanforderungen: Männer leiden z.B. unter den Männlichkeitsanforderungen (körperliche Stärke zeigen müssen, keine Gefühle zeigen dürfen …), die an sie gestellt werden, weil sie diese nicht erfüllen können und bei Nichterfüllung abgewertet werden. Die Angst, aus der Gruppe ausgeschlossen oder abgewertet zu werden, ist real und schmerzhaft. Diese Männlichkeitsanforderungen werden allerdings von den Beteiligten, meistens Männer, aufrechterhalten. Sie leiden damit quasi unter sich selbst. Es handelt sich dabei nicht um ein Diskriminierungsverhältnis, denn Männer sind strukturell privilegiert, sondern um Machtkämpfe unter Männlichkeiten, um hegemoniale Positionen. Sich aus einer privilegierten Position heraus mit Menschen und deren emanzipativen Kämpfen verbünden zu wollen, hält einige Fallstricke parat. Sie scheint unserer Ansicht nach oft in Paternalismus oder zur Passivität verdammten Selbstgeißelung zu verfallen. Auch kann die eigene Position des Verbündeten als Abwehrstrategie gegen berechtigte Kritik genutzt werden oder darin münden, dass sich immer wieder in Konkurrenzspielen mit anderen Privilegierten verloren wird, die um die Frage »Wer ist die beste privilegierte Person?« kreisen. Diese Mechanismen können dazu führen, dass die gemeinsamen Ressourcen, Verstrickungen, Widersprüche und eigentlichen Ziele aus den Augen verloren werden. Zudem zeigen sie die widersprüchliche Komplexität bei der kritischen Reflexion von Männlichkeiten auf. So geht es im Kampf gegen das Patriarchat nicht darum, dass FLINTA* Macht über Männer erlangen, sondern um eine Infragestellung, Verflachung und schlussendliche Aufhebung der bestehenden Hierarchie. Dieser Umstand wird in antifeministischen und maskulinistischen Kreisen immer wieder absichtlich falsch dargestellt. Es ist also immer wieder eine Gratwanderung, Nachteile und Betroffenheiten von höchstprivilegierten cis Männern zu thematisieren, ohne ins Sexistische und Antifeministische abzugleiten. Rahmenbedingungen für eine kritische Auseinandersetzung
Scheitern, Zweifeln und Ändern sind im Normalfall nicht die ersten Assoziationen, die mit Männlichkeiten in Verbindung gebracht werden. Für eine konstante Reflexion von Männlichkeiten sind sie jedoch notwendige Bestandteile, sowohl auf der subjektiven als auch auf der gesellschaftlichen Ebene. Sie fördern die Verantwortungsübernahme von cis Männern für die Arten und Weisen, wie Männlichkeiten und die damit verbundenen Machtverhältnisse konstruiert und reproduziert werden sowie für die Handlungen, die daraus entstehen. In der eigenen Beschäftigung mit Männlichkeiten stoßen wir immer wieder an Grenzen, aus der sich die folgenden Fragen ableiten: Wie sieht ein guter Rahmen aus, in dem vor allem cis Männer ?Geschlechtsanforderungen reflektieren können? Wie lässt sich Platz schaffen für wohlwollende, kritische Auseinandersetzungen mit dem eigenen Verhalten, Leid, Schmerz und der eigenen Trauer. Wie kann dabei sowohl mit den eigenen Privilegien und der Kritik an ihnen umgegangen, als auch Verunsicherung zugelassen werden, während die eigene Handlungsfähigkeit bestehen bleibt? Wie kann die Beschäftigung zu nachhaltigen Veränderungen führen,...