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Dor / Federmann | Internationale Zone | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Dor / Federmann Internationale Zone

Roman
2. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7117-5526-1
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-7117-5526-1
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wien, Nachkriegszeit – Nach den Jahren der Zerstörung und des Hungers werden die ersten Siegergestalten des Wiederaufbaus an die Oberfläche gespült. Es sind einheimische und zugewanderte Schieber, Schwarzhändler und Unterweltler, die Dor und Federmann in ihrem packenden Roman vorführen, und die atemlos dem schnellen Geld nachjagen. Sie sind es, die sich im noch unsicheren System der Besatzungszeit im aufgeteilten Wien am besten zurechtfinden, die sofort erfassen, mit welcher Besatzungsmacht sich welche Geschäfte abwickeln lassen. Vom Handel mit und dem Schmuggel von Zigaretten geraten sie so fast zwangsläufig in das Spiel der Spionage und schließlich des Menschenraubs. Die sowjetischen Besatzer helfen aktiv bei der Beschaffung des Schmuggelgutes: die erwartete Gegenleistung ist die Auslieferung von 'Feinden der Sowjetunion', die sich in nicht-sowjetischen Sektoren aufhalten.Dors und Federmanns negative Helden, die sich ohne Skrupel und Bedenken an dem Spiel im Wien des Dritten Mannes beteiligen, geraten allerdings bald selbst in das von ihnen ersonnene Netz, in dem sie sich verfangen und an dem sie zugrunde gehen.
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WER ÜBRIG BLEIBT, HAT RECHT
Als Boris Kostoff, Doktor der Veterinärmedizin, am Salzburger Hauptbahnhof eine Flasche Kognak kaufte, war es ihm beinahe gelungen, das Gefängnis zu vergessen, aus dem er entlassen worden war. Er hatte dort auch nicht allzu viel Zeit zugebracht. Verglichen mit seinen dreiundvierzig Lebensjahren waren die dreieinhalb, die er abgesessen hatte, eine Kleinigkeit. Zwar war er im Sommer 1950 von einem amerikanischen Militärgericht wegen Mordes und fahrlässiger Tötung zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt worden, hatte aber die volle Zeit nicht absitzen müssen. Das verdankte er vor allem der Tatsache, dass er zum Gefängnisdirektor beinahe herzlich zu nennende Beziehungen unterhielt. Der Direktor, ein rotgesichtiger Lebemann aus der Provinz, der stets im Trachtenanzug herumzugehen pflegte, war ein leidenschaftlicher Jäger. Als eines schönen Tages einer seiner Lieblingshunde erkrankte, ließ er Kostoff holen. Nie zuvor hatte Kostoff einem Fall solche Aufmerksamkeit zugewandt und noch nie aus der Ausübung seines tierärztlichen Berufs solchen Profit gezogen. Er konstatierte Nierenentzündung, gab dem Hund, der sich kaum bewegen konnte, ein paar Penicillinspritzen und kurierte ihn innerhalb zweier Wochen. Von da an war er der unentbehrliche Berater des Direktors. In seiner frühen Jugend in Bulgarien hatte er seinen Vater häufig auf der Jagd begleitet und wusste daher ein wenig Bescheid. Hier allerdings spielte er den passionierten Jäger, sodass er, entgegen allen Vorschriften, ein paarmal heimlich auf die Jagd mitgenommen worden war. Darüber hinaus genoss er noch einige andere Vorrechte. Er arbeitete in der Küche, wo er sich vollstopfen, mit den Wärtern Karten spielen und an kalten Winterabenden Rum trinken konnte. Als Küchenchef wurde er auch zum Einkauf mitgenommen, und so erhielt er immer wieder Gelegenheit, sich hundertprozentig als normaler Mensch zu fühlen. Auch las er täglich Zeitungen und war über das Weltgeschehen völlig auf dem Laufenden. Über seine Gefängniszeit konnte er sich nicht beklagen. Das Angenehmste aber war, dass ihm der Direktor nach einigen Beschwerden – er brauchte Kostoff ja seiner Jagdhunde wegen – ein so vortreffliches Führungszeugnis ausstellte, dass er vor Ablauf seiner Strafzeit entlassen wurde. Als Gegenleistung dafür musste Kostoff dem Direktor versprechen, ihn, wenn er seine Geschäfte erledigt hätte, privat zu besuchen, um mit ihm auf die Jagd zu gehen. Kostoff hatte ihm das mit einem Gefühl der Erleichterung treuherzig zugesagt. Doch hier, am Salzburger Hauptbahnhof, dachte er eben an alles andere als an dieses Versprechen. Zuallererst, schien ihm, müsste er seine Geschäfte in Ordnung bringen. Um darüber besser nachdenken zu können, hatte er sich den Kognak gekauft. Wenn er nichts zu trinken hatte, war ihm, als sei sein Gehirn wie gelähmt. Schon der Besitz der Flasche beflügelte ihn. Eilig hastete er treppaufwärts, nachdem er zuvor eine Fahrkarte nach Wien gelöst hatte, und stieg in den bereitstehenden Zug. Er öffnete den kleinen Koffer, der ihm so ausgehändigt worden war, wie man ihn abgenommen hatte. Alles war da: Waschsachen, Rasierzeug, eine alte, ausgetrocknete Zahnpastatube, eine Thermosflasche mit aufgeschraubtem Metallbecher und ein Taschenmesser mit Hirschhorngriff, auf dem sich auch ein Korkenzieher befand. Noch stehend öffnete er die Flasche, drehte den Becher von der Thermosflasche und schenkte sich ordentlich ein. Die Toten waren tot, die Beraubten spurlos verschwunden; aber Kostoff lebte, und der Kognak schmeckte ihm bestens. Noch bevor er sich setzte, schenkte er sich ein zweites Mal nach. Als er es sich auf dem gepolsterten Sitz bequem machte, bemerkte er, wie eng ihm sein Anzug geworden war. Die Knöpfe drohten abzuspringen und er schlüpfte schnell aus seinem Sakko. Gefängniskost, dachte er verärgert. Nichts als Wasser, Suppe und Kartoffeln. Wässrige Kartoffeln. Zwar besaß er im kleinen Koffer noch einen zweiten schwarzen Anzug, den er einst getragen hatte, während der andere in der Reinigung gewesen war, aber der war ihm schon damals ziemlich knapp gewesen. Gierig goss er den dritten Becher ein. Sein Anzug roch nach Mottenpulver. Neugierig musterte er sein Gegenüber, um zu sehen, ob all das bemerkt würde. Sein Visavis war eine junge Frau mit unbestimmbarer Haarfarbe, die mit nichtssagenden blauen Augen die vorbeigleitende Landschaft betrachtete. Nur mehr viereinhalb Stunden bis Wien, dachte Kostoff. Was für ein Fortschritt. Früher dauerte es sieben Stunden. Heute ist alles elektrifiziert. Und keine russische Kontrolle an der Demarkationslinie. Er sah auf seine schwarzen Schuhe, die er sich noch am Bahnhof hatte putzen lassen, und sein Selbstbewusstsein wuchs. Verächtlich musterte er die ihm gegenübersitzende junge Dame, deren strähniges Haar sich den Dauerwellen nicht fügen wollte, ihr Kleid aus rohem Loden und folglich auch von provinziellem Schnitt. Sie blickte melancholisch auf die sich verneigenden Novemberweiden und wusste nicht, wer ihr gegenübersaß. Hier saß Boris Kostoff, ein kleiner, gedrungener, etwas aufgeblasener Mann, dessen Anzug ein wenig zu eng war und der mit einem treuherzigen Grinsen durch goldene Brillenbügel aufmerksam in die Welt blickte. Er hatte es einer einzigen glücklichen Fügung des Schicksals zu verdanken, dass er noch durch die Welt reisen konnte, um sie, wie fünfzehn Jahre zuvor, als eine Art großen Spielsaal anzusehen, in dem sich viel gewinnen ließ, wenn man mit einiger Gewandtheit nach einem ausgeklügelten System zu spielen verstand. Damals, in seiner Glanzperiode, war der Schwarzhändler Kostoff davon überzeugt gewesen, dass er dieses unfehlbare System besessen hatte. Damals war es sehr leicht gewesen, Geld zu verdienen, ob man nun mit Gold, Zigaretten oder Menschen Handel trieb; es lag einfach auf der Straße. Er hatte es ganz natürlich gefunden, mit Gold, Zigaretten oder Menschen zu handeln, er hätte sich dabei nur nicht erwischen lassen dürfen. Und das war nicht seine Schuld gewesen, sondern die seiner dubiosen Mitarbeiter, die Schuld Georgi Manius, der immer dachte, alles besser zu wissen, und die Schuld des primitiven Karl Nemecek, der alles genau so ausführte, wie Maniu es ihm auftrug. Schwamm drüber. Die zwei waren tot, er lebte. Und Geld war auch noch da. Er brauchte es nur noch zu holen. Und niemand außer ihm wusste, wo es zu holen war. Boris Kostoff kippte einen Becher nach dem anderen. Es war wie im Gefängnis, wo man sich, aus reiner Güte, manchmal ein Gläschen hinter die Binde gießen durfte, so wie früher, wo er einfach tat, was ihm gerade passte. Auch jetzt würde er wieder tun, was er für richtig fand. Er hatte ein großes Ziel vor Augen. Am liebsten wäre Kostoff in Linz ausgestiegen, hätte hier einen anderen Zug nach Zürich genommen, um auf einer bestimmten Bank den anständigen Betrag von etwa zweihunderttausend Franken abzuheben. Aber das war natürlich nicht so einfach. Dazu musste er erst an die nötigen Dokumente und Papiere heran. Er hatte zuletzt einen schweizerischen Pass auf den Namen Victor Nebel besessen; dieser Pass war ihm von den Amerikanern abgenommen worden, und der, der ihm den Pass gefälscht hatte, hatte ein paar Jahre bekommen. Also musste er sich einen neuen Pass verschaffen, und das ging nicht auf legalem Weg. Mit einem bulgarischen Pass? Um Gottes willen! Diese Leute waren nicht gut auf ihn zu sprechen; zumindest jetzt nicht mehr. Auch einen Fremdenpass konnte er nach seiner Strafe nicht bekommen, denn vor ein paar Jahren waren ihm die Bürgerrechte aberkannt worden. Er konnte von Glück reden, dass er nicht in seine frühere Heimat abgeschoben worden war, also praktisch in die Sowjetunion, wo man ihn ohne Umstände in ein Zwangsarbeitslager überführt hätte. Ich fahre regelrecht in die Höhle des Löwen, dachte er nicht ohne Stolz. Aber glücklicherweise gibt es keine Kontrollen mehr. Noch vor fünf Jahren war er mit den uniformierten Herren der russischen Zone in Wien auf gutem Fuß gestanden. Aber seit dem peinlichen Ereignis auf der Urfahrer Brücke, seiner Festnahme, durch die er, ohne es sonderlich zu wollen, den Amerikanern das russische Menschenraub-Komplott in die Hände gespielt hatte, wäre er da drüben sicherlich nicht mehr gerne gesehen. Die Russen hatten immerhin auch seinen Chef Georgi Maniu sofort hinter Schloss und Riegel gebracht, als durch Kostoffs Verhaftung die Sache schiefgelaufen war. Karl Nemecek hatten sie gleich niedergeschossen, »auf der Flucht«, wie es hieß. Nein, nein; er würde sich nicht in die russische Zone absetzen. In die internationale Zone, in die Innenstadt Wiens, konnte er schon noch gehen. Jetzt war November, und erst im Dezember wechselten die Russen wieder in den Vorsitz des Alliierten Rates. Dadurch erhielten sie das Kommando über die Wiener Alliiertenpolizei, was in der Praxis bedeutete, dass sie zwar nicht in den westlichen Bezirken, dafür aber in der Inneren Stadt umso mehr Festnahmen durchführen konnten. Noch gab es keine große Veränderung, obwohl sich viel verändert hatte: Es gab keine Briefzensur mehr. Keine bewaffnete russische Patrouille verlangte mehr bei der Demarkationslinie die Identitätsausweise der Reisenden zu sehen. Der Schwarzhandel mit Zigaretten war längst vorbei. Alles war legalisiert und liberalisiert worden, und die kleinen Mädchen, die es nach einem erfüllten Leben verlangte, hielten es lieber mit heimischen Geschäftsleuten als mit uniformierten Ausländern. Das Land schien normal geworden zu sein; das Geld hatte seinen Wert nicht nur behalten, sondern noch vergrößert. Und er besaß Geld. Es befand sich auf Georgi...


Milo Dor, 1923 in Budapest als Sohn eines serbischen Arztes geboren, wuchs im Banat und in Belgrad auf. 1942 als Widerstandskämpfer verhaftet, 1943 Zwangsarbeit in Wien, wo er ab 1948 als freier Schriftsteller lebte und 2005 verstarb. Mitglied der Gruppe 47.

Reinhard Federmann, 1923 in Wien geboren, 1976 dort verstorben, war freier Schriftsteller und Journalist. Zahlreiche Romane, Hörspiele und Erzählungen, Herausgeber der Kulturzeitschrift »Die Pestsäule«, Mitglied der Gruppe 47. Im Picus Verlag erschienen die Romane »Barrikaden«, »Das Himmelreich der Lügner«, »Chronik einer Nacht« und der Erzählband »Die Stimme«.



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