E-Book, Deutsch, 560 Seiten
Draesner Sieben Sprünge vom Rand der Welt
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-29134-1
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 560 Seiten
ISBN: 978-3-641-29134-1
Verlag: Penguin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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1 SIMONE Vater hat von glücklichen Räumen gesprochen. Glücklichen Räumen, die er jetzt erzeugt. Ich glaube, er wird weich. Bist du weich, sagen die Assistenten zueinander und meinen blöd. Vater, glücklicher Raum, schlurft durchs Institut. Hose, Lederjacke, Seminar. Seine alte Gartenjacke. Wie er aussieht, ist ihm egal. Der Rundrücken, die Hosenträger, die Karl-Valentin-Beine. Verrückt war er schon immer, auf seine Weise: exakt, kühl, kalkuliert. Feste Schultern, eine Brille zum Lesen. Sein blauer Adlerblick. Er rückt Bilderrahmen gerade. Was schief hängt, erträgt er nicht. Wir kommen in ein Café: Vater rückt an den Rahmen, noch bevor er sich setzt, allemal, bevor er bestellt. Manchmal hat er bestellt und steht noch einmal auf, rührt in seiner heißen Schokolade, steht noch einmal auf. Wir kommen in ein Museum: Eustachius rückt an den Rahmen und löst die Alarmanlage aus. Wir kommen in ein Museum, Eustachius denkt an die Alarmanlage und schaut bei allen Bildern nur die Rahmen an. Er könnte als europäischer Rahmenexperte arbeiten. Wir stehen bei Bekannten in der Tür, Menschen, die er seit Jahren nicht gesehen hat, und er sagt: »’tschuldigung, Ihr Spiegel hängt schief.« Die Hand ausgestreckt, lächelt er wie einer, der gleich bewundert werden wird. Er ist zweiundachtzigdreiviertel. »Dreiviertel« ist ihm wichtig. Eustachius Grolmann lebt allein. Lobt man ihn, kräuselt sich seine Nase an der Einbuchtung zwischen den Augen. Gemeinhin können das nur Babys, Esther hat es lange gemacht. Und jetzt er, mit den Adleraugen auf 1,85 Meter! Das war immer weit oben, insbesondere, wenn man die Tochter ist. Er hat 40 Jahre an Primaten geforscht. Bei ihm meinte Primaten: Menschenaffen. Ich forsche seit über 20 Jahren an Primaten: Affen und Menschen. Stach interessierte das Gehirn. Mich interessieren Gehirn und Verhalten. Affen sind Rudelwesen. Wer mit anderen lebt, muss sich in anderen spiegeln. Er muss sie berechnen können. Listig sein. Täuschen, tricksen. Das äffische Wesen liegt nicht in Nachahmung. Darin sind sie nicht einmal besonders gut. Das äffische Wesen ist Betrug. Johnny schnarchte nicht, sondern zuckte, ihn plagte der Thrombosestrumpf an seinem rechten Bein, weswegen das linke auf meiner Bettseite lag. John Riewert Quedeus, verwurzelt in nordischem Schlick, bekam der deutsche Süden nicht. In Madison, während meiner Zeit am Wisconsin National Primate Research Center, war er zufrieden mit Esther zuhause gesessen, ein moderner Mann, der ein Forschungsstipendium seiner Frau zu schätzen wusste, vorm Fernseher sein Englisch verbesserte und hin und wieder über den Atlantik zu Straßenbaukongressen flog. Jetzt, 15 Jahre später, schmollte er, obwohl sein Arbeitgeber am Ort meiner neuen Professur eine seiner Europazentralen betrieb. In unserem zweiten deutschen Alpensommer fing mein wassergewohnter Mann zu surfen an und brach sich den großen Zeh. Es heilte schlecht, »dein Süden«, schimpfte Johnny, trug nachts seinen Leidensstrumpf und schaute, ganz Riewert Quedeus, quadratschädelig, hellblond, kräftig, ohne dick zu sein, schläfrig auf mich. Ich, schlaflos, schlich die Wendeltreppe hinauf in mein Kabuff. Wir hatten einen halben fünften Stock und zwei Kammern im Dach gemietet. Der untere Wohnungsteil bestand, abgesehen von drei Zimmern und dem Bad an der Nordseite, aus einem großen Wohn-Essbereich, der, da er die gesamte Hausbreite einnahm, sowohl von Osten als auch von Westen durch bodentiefe Fensterfronten erhellt, erhitzt und bei geöffneten Fenstern von Verkehrslärm durchdrungen wurde. Vor dem Haus lag eine dichtbefahrene Straße, der handtuchgroße Garten hinten stieß an einen Bahndamm, drei Schienenstränge, nur Güterverkehr. Dank des Krachs war die Miete bezahlbar. Ich mochte das mechanische Rumpeln der Züge, das Fernweh darin. Im Dachfenster stand ein runder Mond. Er sah künstlich aus oder selbst wie ein Fenster. Ich wollte nicht wissen, wohin. Nachthimmel, egal, an welchem Ort, machte mir wenig Freude. Nachthimmel, den Laserstrahlen zerlegten, machte mir Angst. Ein roter und ein gelber Schuss kreuzten sich zu einem harten, bedeutungslosen X. Esthers Monster-Grüffelo neben meinem Schreibtisch schien sich zu freuen. »Keine Angst, nur erfunden«, hatte meine Tochter gesagt, großes Prinzessinnenlächeln, als sie mir das Buntstift-Ungeheuer überreichte, dessen Schreckensmacht daraus bestand, dass man an sie glaubte. Esther, mit neun: späte Riesenzahnlücke, frühe Liebe für Stach (»wenn ich groß bin, heirate ich Opa«). Ich schaltete das wie eine Seife geformte Radio an und legte mich auf den Buchara. Gegen Hitzeattacken, die ich nicht hatte, hätten Pillen geholfen, doch Pillen gegen Angst vor Regen oder Schnee, gegen Angst vor Laserstrahlen, gegen ein Leben auf Abruf gab es nicht. Das war keine Frage meiner Hormone, das war ein Dauerzustand. Katastrophen waren nicht nur möglich, Katastrophen waren die Zukunft. Von Wahrscheinlichkeitsrechnungen, Statistiken, Vorsichtsmaßnahmen ließ ich mich nicht einlullen, die in meiner Kindheit alle naslang abgehaltenen Sirenen- und Alarmübungen klangen mir in den Ohren, die Stimmen meiner Großeltern Hannes und Lilly, die »Schnakala« sagten, »Kindel«, während eine faltige Hand auf meinem Kopf zitterte vom Alter, halbmechanisch, aber die Stimme zitterte vor Erinnerung. Andere schauten YouTube, um sich zu entspannen, ich klickte mich durch Bestelllisten (Sicherheitsdienst, Sicherheitsventil, Sicherheitsmaske, Sicherheitsschuh). Las ich von deutscher »Alarmbereitschaft«, lachte ich auf. Wie? Laut. Lauter als die Angst. In dem Bilderbuch meiner Tochter besiegte eine ordinäre Feldmaus das drachengezähnte, warzighässliche, blutrünstige Ungeheuer namens Grüffelo, weil sie nicht an es glaubte. Obwohl es erschien! Das Buch stand in meinem Regal. Jetzt klickte ich nicht, jetzt versuchte ich, mich zu entspannen. Sicherheitswesten, Sicherheitstaschenlampe und Sicherheitsgürtel hatten wir seit Jahren. Vier friedliche Radiostimmen, zwei Männer, zwei Frauen, stritten über Wissen und Scharlatanerie, ideal zum Einschlafen, der Arm zu müde, um auszuschalten, ebenso der Kopf, da sagte ein melodiös sprechendes fünftes Wesen etwas in die Dunkelheit hinein, was ich nicht verstand, nur die Stimme hörte ich und ein »fiiehle« und wachte auf. Der Mann lachte: »Kriegskind«, behauptete sofort wieder ernst, die Symptomatik sei schlagend, seelische Landschaften stempelten sich von einer Generation in die nächste hinüber, machte eine Pause: auch wenn wir kaum etwas davon wüssten und gewiss nichts davon verstünden, und murmelte, als wiederhole er sich: »Seelengefiiehlde!« Da war ich wach. Der Typ im Radio wollte das Altern der Jahrgänge 1927 bis 1940 erforschen. Ihre Anpassungssucht und -kunst, ihren mächtigen Aufbaudrang, ihre Angst, ihre Einsamkeit, ihre innere Verstümmelung. Für heute 50-Jährige, sagte er, sei die Ideologieblase, in der ihre Eltern einst aufwuchsen, schwer vorstellbar. Eine braun-blutige Eihaut, auf der Innenseite mit Heroen- und Kitschfilmen bespielt, mit Mythen und Blutzollliedern beschmiert, mit Wir-Gefühl tapeziert. Über alle Kinder gestülpt. Ihre einzige Welt. »Aber es gab die Elternhäuser«, wandte einer der Mitstreiter ein. Der Mann mit dem weichen Zungenschlag atmete leise aus: »Im Sommer 1938 reist eine bayerische Familie an den Rhein. Die Mutter berichtet ihrer Schwester in einem Brief von unterwegs, wie die zwölfjährige Tochter sich in Köln die Hochwassermarken erklären ließ. Die Schäden und das Elend der Überflutungen. Aufmerksam habe das Kind zugehört, dann strahlend gesagt: ›Und wie hat Adolf Hitler auch das weggemacht?‹« Weggemacht. Andere dachten bei »weggemacht« an ihre Teeniezeit, Abtreibungsdiskussionen, §?218. Ich sah die immer halbdämmrige Erdgeschosswohnung meiner Großeltern vor mir, Sessel und Sofa von Blümchencord überzogen, grau und braun. Stets saßen Menschen darin mit schweren Lidern und hängenden Wangen, fleischigen, gefurchten Gesichtern und schwimmenden Augen, die sich siezten, die flüsterten und Lieder sangen, die ich nicht verstand, nicht in Worten, aber in- und auswendig kannte. Gesprochen wurde über Dinge, die außerhalb der Wohnung nicht wahr sein durften oder sollten, den Hunger, die Schläge, die Verluste, die Heimat. Mitunter fiel auch der Name Emil, es war Lilly, die ihn erwähnte, am liebsten tat sie es, wenn wir unter uns waren, sie und ich, dann redete sie zu mir, dem Kind, von diesem, ihrem ältesten Kind, als gäbe es allein dadurch eine Verbindung zwischen dem auf der Flucht gestorbenen Onkel und mir, und so war es, er interessierte mich, weil Vater nie von seinem behinderten Bruder erzählte, während Oma, das spürte ich, diesen Emil liebte, und etwas von dieser Liebe wollte ich für mich. Vater saß dabei ohne zu singen. Er war 14 gewesen, als eine unsichtbare Hand ihn aus seinem Bett wegmachte, aus seinem Zimmer, seinem Städtchen zwischen Hügeln, Oderwasser und Wald, aus seiner Kindheit, aus seiner Zukunft. Er saß da, sah mich nicht an, nahm mich indes zu diesen Zusammenkünften mit; später sagte er »erinnere dich« – meine Mutter verließ ihn, als ich in die zehnte Klasse kam, Sandra, meine ältere Schwester, zog nach Kanada –, sagte »erinnere dich« und meinte seine Vergangenheit. Hatte ich Kummer, sagte er: »Wie gut es dir geht.« Er sagte: »Was ich erlebt habe, wünsch ich dir nicht.« Ich fühlte: Er wünschte es mir. Dann wünschte er es mir wieder weg. Sonst hätte ich gehabt, was er hatte: das Große-Schlimme, mitten im Leben. Dann wäre ich so stark gewesen wie er. »Stärke«, sagte mein Vater, »Fühllosigkeit, Erfolg.« Darum...