Duden | Das Judasschaf | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 128 Seiten

Duden Das Judasschaf


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-86789-590-3
Verlag: BEBUG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 128 Seiten

ISBN: 978-3-86789-590-3
Verlag: BEBUG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In diesem Buch wird auf das unmenschliche Leiden, das Menschen Menschen zugefügt haben und Tag für Tag zufügen, reagiert. Sensibel, empfindsam, genau.
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2. Panorama Berlin Es war im Leben dieser Person immer ein und dasselbe gewesen, mehr als vierzig Jahre lang bisher. Eine flache Süße wie von Süßstoff auf der Zunge und den Lippenrändern, sodass sich die Zungenspitze von daher noch manchmal etwas hereinholte, und eine solche Bitternis im Herzen und darunter, dass das Blut und die anderen durchziehenden Stoffe nie ausreichten, um sie abzutransportieren. Die flache Süße war das Amlebensein, die Bitternis war alles andere, vor allem aber die Art der Atemlosigkeit, die entsteht, wenn die Kranken, Halbkranken, Sterbenden und Toten die Luft einzunehmen gezwungen sind und sie bis über den Rand verstellen, weil sie sich nicht hinlegen können. Das aber hieß: die Wirklichkeit traf nicht zu. Betrifft: Verwertung der abgeschnittenen Haare. An die Kommandanten der K. L. Arb., Au., Bu., Da., Flo., Gr.-Ro., Lu., Maut./Gu., Na., Nie., Neu., Rav., Sahs., Stutth., Mor., SS SL Hinzert. Der Chef des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes, SS-Obergruppenführer Pohl, hat auf Vortrag angeordnet, dass das in allen KL anfallende Menschenschnitthaar der Verwertung zugeführt wird. Menschenhaare werden zu Industriefilzen verarbeitet und zu Garn versponnen. Aus ausgekämmten und abgeschnittenen Frauenhaaren werden Haargarnfüßlinge für U-Bootsbesatzungen und Haarfilzstrümpfe für die Reichsbahn angefertigt. Es wird daher angeordnet, dass das anfallende Haar weiblicher Häftlinge nach Desinfektion aufzubewahren ist. Schnitthaar von männlichen Häftlingen kann nur von einer Länge von 20 mm an Verwertung finden. SS-Obergruppenführer Pohl ist deshalb einverstanden, dass zunächst versuchsweise das Haar der männlichen Häftlinge erst dann abgeschnitten wird, wenn dieses nach dem Schnitt eine Länge von 20 mm besitzt. Um durch das Längerwachsen der Haare die Fluchterleichterung zu verhindern, muss dort, wo der Kommandant es für erforderlich hält, eine Kennzeichnung der Häftlinge in der Weise erfolgen, dass mit einer schmalen Haarschneidemaschine mitten über den Kopf eine Haarbahn herausgeschnitten wird. Es wird angestrebt, die Verwertung der in allen Lagern anfallenden Haare durch Errichtung eines Verwertungsbetriebes in einem KL durchzuführen. Nähere Anweisungen über die Ablieferung der gesammelten Haare folgt noch. Die Mengen der monatlich gesammelten Haare, getrennt nach Frauen- und Männerhaaren, sind jeweils zum 5. eines jeden Monats, erstmalig zum 5. September 1942, nach hier zu melden. gez. Glücks, SS-Brigadeführer und Generalmajor der Waffen-SS In der Nacht, einer der kürzesten des Jahres, wachte ich auf mit der fertigen Diagnose im Herzen, auf der Zunge und den noch geschlossenen Lippen. Da ich wieder mit ihr eingeschlafen war, konnte ich sie morgens nicht mehr formulieren. Jedenfalls nicht in der Knappheit, mit der sie nachts, unmittelbar vorm Hellwerden, Vergangenheit Gegenwart Zukunft und mich gründlich zerlegt hatte. Ich spürte aber noch, was geschehen war, das heißt ich wusste das abstrakte Ergebnis: Trennung Teilung Spaltung. Er brannte in Liebe zu seinem Glauben und kämpfte für ihn gar hitziglich … Er begehrte auch den Tod für ihn zu leiden und ließ nicht ab, den Herrn mit Eifer und Andacht zu bitten, dass er ihn nicht aus dieser Welt lasse gehen, er habe denn nicht den Leidenskelch für ihn getrunken. Um diese seine Sehnsucht ward er auch nicht betrogen. Es ist ein Bild der abgebrühten Stille. Schmal und aufrecht, eine Tafel. Über dem Kopf leichte sommerliche Bewölkung. Der Überlebende stellt sich dar. Der, der immer weitermachen wird. Im Hellen, im Dunkeln, in Wärme und Kälte. Obwohl er allnächtlich Gelegenheit hätte zu erkennen, zum Beispiel im Spiegel, auf den er im Dämmer zugeht und der jedes Mal reflektiert, was unter seiner Kleidung sich befindet: ein weichgewordenes elastisch sich zersetzendes Skelett. Eigentlich lebt er schon lange nicht mehr. Aber seine Strenge gegen sich und andere hat ihn das vergessen lassen. Das Krummschwert, das ihm seitlich in den hinteren Schädelteil gekeilt worden ist, steckt noch an derselben Stelle – wie nach getaner Arbeit die Axt im Baumstumpf. Es scheint ihm nichts weiter auszumachen, mit gespaltenem Schädel herumzulaufen. Im Gegenteil gehört es zu ihm, und die festsitzende Klinge scheint er so wenig als störenden Fremdkörper zu empfinden wie andere die jahrelang in ihren Weichteilen umherwandernden Granatsplitter. Es ist wieder Alltag geworden, und eines Tages werden seine Enkelkinder vielleicht mit seinem Bart spielen und versuchen, die Klinge zu bewegen, hin und her wie ein Wiegemesser auf Petersilie. Auch dass ein Dolch in seiner Herzgegend stecken geblieben ist, macht ihm nichts aus. Er sollte abgestochen werden. Na und. Das bringen die Kriege so mit sich, alle Arten von Kriegen. Er hier hat nur für den Glauben gekämpft, die gute Sache also. Jedes Mittel ist ihm recht gewesen, allerdings ausgeführt durch Gottes Hand. Seine eigenen Hände hat er sich nicht schmutzig gemacht. Deshalb kann die linke jetzt auch so zierlich und graziös das schwere Buch halten, gleich unter dem angebohrten Herzen. Dieses Buch, in dem alles steht, was ihm wichtig ist, wichtiger als das Leben zum Beispiel. Dieses Ein und Alles, Brevier der Liebe und des Mordens. Zusätzlich in der rechten Hand noch die Märtyrerpalme, denn es könnten einem ja die beiden Klingen in Kopf und Körper entgangen sein. Im Übrigen sieht er harmlos aus. Mit seinem schmächtigen Bartwuchs, dem kleinen rundlichen Kopf, der milchigen Gesichtsfarbe und den zahmen Augen sehe ich den Kriegsversehrten vor und über mir sitzen oder stehen in den verschiedenen Büros, in denen ich Verschiedenes zu bearbeiten hatte. Mein Herz ist nicht durchbohrt, aber zerschlagen. Mein Schädel nicht gespalten, aber überdehnt. Und zum Zerreißen gespannt, sodass er bisweilen schon zu ächzen und bersten beginnt, weil die Schädelnähte dem Innendruck nicht mehr standhalten können. Und die Decke überzieht bereits ein weit verzweigtes Netz feinster Haarrisse. Meine Gesichtshaut zeigt es an. Einerseits ist sie um etliche Quadratzentimeter zu weit geworden und ausgeleiert, andererseits schrumpft sie und zieht sich zusammen. Folgen des Überlaufens und der Überflutungen, die das Aussickern und Hervorsprudeln bewirken, und der anschließenden Dürrezeiten, der Austrocknung und Verödung. Das, was mir gänzlich fehlt, ist jene ruhige Mittellage, der Zwischenzustand, der die Haut glatt und elastisch hält und der auch die hier so weit verbreitete gesunde Gesichtsfarbe bewirkt. berlintutgut. Und sicher hülfe es dem Schädel, gespalten, und dem Herzen, durchbohrt zu sein. Sicher wäre es auch mir damit viel leichter möglich, wie die meisten anderen einfach hinzuleben und fraglos kräftig da zu sein. Ich aber gucke schon seit vielen Jahren in den Spiegel und spüre deutlich, dass ich nicht da sein sollte. Ich habe schon seit Jahrzehnten akzeptiert, dass ich mich beseitigen müsste, und an manchen Tagen sehe ich bereits, dass ich gar nicht mehr da bin. Da sehe ich die Straße in Spandau in hellem Licht sich hinziehen, und ich gehe nicht auf ihr, obwohl ich den Schweiß in meinen Achselhöhlen riechen und die gerade herrschende Schwüle wahrnehmen kann. Oder ich sehe meinen Begleiter neben mir und wie er sich ganz ohne mich an den Marktständen entlangbewegt. Und obwohl ich nicht da bin, sind mir alle Ausgänge versperrt. Und Grube oder Himmel, Vergangenheit oder Zukunft weisen mich ab, weil sie wie mein Schädel überfüllt sind. unter der sonne der folter. Da ging es mir auf. In der Atmosphäre gibt es eine unbewohnbare Schicht, die allerdings noch zur Erde gehört. Sie ist nach allen Richtungen offen. In sie wird man hineingeboren. Die Menschen dieser Schicht sehen aus wie andere, sie werden gewindelt, sie pubertieren; die weiblichen beginnen zur üblichen Zeit zu menstruieren und so weiter. Man verliebt sich, man streitet sich, man erlebt alles, was die anderen auch erleben. Und die landläufig beliebten Phasen werden auch hier fotografisch festgehalten. Und gleichzeitig ist alles ganz anders, denn diese Menschen können nicht landen. Sie treffen nicht auf die Wirklichkeit zu. Sie sind im Zentrum eines Vakuums, von dem aus sie alles überblicken können. Sie sehen, sie starren aus ihrer Schicht hinaus und verlieren sich oft völlig aus dem Auge, ohne dafür jedoch irgendeinen Gegenwert oder Ersatz zu bekommen. Sie sind verzweifelt bemüht, sich ihr Vakuum nach den erblickten Mustern einzurichten; sie verrenken sich dabei, sich in die Jahreszeiten einzupassen; sie möchten auch Gärten und Familien haben, Urlaub machen und lässig sein können. Aber im Grunde tun sie nur eins: Sie hetzen ununterbrochen zwischen Sehnsucht und Qual hin und her, sie strampeln und kämpfen sich ab, um über beides endlich hinwegzukommen, und erkennen immer noch nicht, dass tödliches Schweigen herrscht in den Eingeweiden aller. In einer Straße sah ich das Gesicht der heute noch Lebendigen im Stein und in der Dunkelheit und unter einem erstickt geschrumpften, verwesenden Laubdach. Ich erkannte es durchaus wieder, denn es war mir schon vorher begegnet, an verschiedenen Stellen und zu verschiedenen Zeiten. In vierten Etagen in Berlin Wilmersdorf, Schöneberg, Tiergarten, Neukölln. Aber auch an der Uferpromenade in Saintes Maries de la Mer und überhaupt überall, wo ich bisher gewesen war. Ich war allmählich sogar in einem derart fortgeschrittenen Zustand, dass ich in dem Gesicht die versprengtesten und...


Anne Duden wuchs bis 1944 in Berlin auf, danach in Ilsenburg (Harz). 1953 siedelte ihre Familie in die Bundesrepublik über. Anne Duden machte ihr Abitur in Oldenburg und arbeitete als Buchhändlerin in Berlin. Ab 1964 studierte sie Germanistik, Soziologie und Philosophie an der Freien Universität Berlin.

1972 wurde sie Mitarbeiterin des Wagenbach-Verlags; als sich von diesem im darauffolgenden Jahr der Rotbuch Verlag abspaltete, gehörte sie zu den Mitbegründern. Seit 1978 lebt sie als freie Schriftstellerin in London und Berlin. 1987 war sie Gastprofessorin für Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg, 1995/1996 hielt sie Poetikvorlesungen an der Universität Paderborn, 1996/1997 an der Universität Zürich. Anne Duden ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, des PEN Deutschland und korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz.

Anne Duden ist Verfasserin von Lyrik und Prosa, in denen es immer wieder um extreme Erfahrungen wie Gewalt, Schmerz, Angst, Verzweiflung und die Qual des Daseins geht. Sie bedient sich dabei zwar einer kühlen Darstellungsweise, aber auch einer sehr eigenwilligen, sperrigen Sprache; charakteristisch für den Stil der Autorin sind zahlreiche Neologismen.



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