E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Durst-Benning Antonias Wille
12001. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8437-0409-0
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0409-0
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Das erste Mal bin ich Franziska Breuer an einem warmen Tag im Mai des Jahres 1897 über den Weg gelaufen, und zwar in der Rombacher Mühle, wo sie bei Käthe, der Müllerin, einkaufte. Ich war zu diesem Zeitpunkt schon seit vier Tagen unterwegs. Nachts habe ich im Wald geschlafen und tagsüber bin ich auf der großen Straße Richtung Süden gelaufen. Ein paarmal wurde ich von Fuhrleuten gefragt, ob ich mitfahren wolle, doch ich lehnte stets ab. Stattdessen habe ich immer wieder Reisende – Uhrenhändler und Hausierer – gefragt, ob dies auch der richtige Weg in die Schweiz sei. Der Schwarzwald ist schließlich riesengroß, und die Vorstellung, im Kreis herumzuirren, machte mir Angst. Ja, hieß es immer nur, aber ich hätte noch ein gutes Stück vor mir, und irgendwann ginge es dann ziemlich steil bergab. Die tagelangen Märsche bergauf und bergab hatten mich ziemlich erschöpft. Das Brot und die Scheibe Speck, die ich mir zu Hause eingepackt hatte, waren längst verspeist, und am Vortag hatte ich außer etwas frischem Sauerampfer, den ich am Wegesrand abgerupft hatte, nichts gegessen. Was gibt der Wald im Mai schon her? Aber ich hatte noch etwas Geld in der Tasche. Damit wollte ich zwar recht sparsam sein, trotzdem beschloss ich, mir im nächsten Ort einen Laib Brot zu kaufen, und das war zufällig Rombach. Ein hübsches Dorf, mit einem Marktplatz, in dessen Mitte ein wunderschöner Maibaum prangte, und mit blühenden Kastanienbäumen vor den Häusern. Ich konnte das Blöken von Lämmern hören und das Muhen der Kühe. Ich kam an einer Schmiede vorbei und an einem amtlich aussehenden Gebäude, von dem ich erst später erfahren sollte, dass es das Rathaus war. Einen Krämerladen entdeckte ich allerdings nirgendwo, und so lief ich wieder zum Ortsanfang zurück, wo ich linker Hand eine Mühle gesehen hatte. Ich hoffte, dort etwas zu essen kaufen zu können. Und da … Käthe Müllers Augen brannten, und in ihrer Nase kitzelte es. Kurz darauf musste sie mehrmals niesen. Wahrscheinlich bin ich die einzige Müllerin weit und breit, die so empfindlich auf Mehlstaub reagiert, ärgerte sie sich nicht zum ersten Mal, während sie mit Daumen und Zeigefinger den Rotz von ihrer Nase entfernte. Den ganzen Winter über hatte sie einigermaßen Ruhe gehabt, doch jetzt, da die ersten warmen Sonnenstrahlen durch die Luken in die Mühle fielen, ging die Nieserei wieder los. Schniefend nahm sie einen neuen Sack zur Hand, befestigte ihn an der Mahlgangsöffnung, legte einen Riegel um und ließ im nächsten Moment einen Schwall Mehl in den Sack rauschen. Um die unnötige Luft daraus zu verdrängen, stauchte sie ihn ein paarmal kräftig. Bevor sie ihn zuband, langte sie einer Eingebung folgend hinein und ließ eine Hand voll Mehl durch ihre Finger rieseln. Wie sie es sich gedacht hatte: viel zu grob! Dabei hatte die Wirtin des »Fuchsen« diese Woche ausdrücklich feines Mehl bestellt. »Gerhard!«, kreischte Käthe. Im nächsten Moment wurde das Tor aufgerissen. »Verflixt noch mal, der Mühlstein gehört geschliffen, merkst du das denn nicht? Wie oft hat dein Vater, Gott hab ihn selig, dir gesagt, wie wichtig es ist, den …« Sie drehte sich um und schrak zusammen, als sie Franziska Breuer sah. »Grüß Gott, Käthe!« Mit einem letzten Schwung bugsierte die »Fuchsen«-Wirtin ihren Leiterwagen durch das Tor, bevor es hinter ihr zuschlug. Die Müllerin grüßte brummend zurück. Hätte die Frau nicht ein paar Minuten später kommen können? Jetzt wusste sie gleich, dass das Mehl nicht so fein war, wie es sein sollte. Und überhaupt: Was tat sie hier, wo sie sonst doch immer ihre Tochter schickte? Wahrscheinlich ließ sich Gerhard deshalb nicht blicken! Hätte sich Kathi Breuer angesagt, würde er sich schon seit Ewigkeiten wie ein Taugenichts im Mahlstüble herumdrücken, um sie nur ja nicht zu verpassen! Käthe wies auf den Sack Mehl zwischen ihren Beinen. »Das ist der letzte, die drei anderen hab ich schon abgefüllt.« Ein Ächzen unterdrückend hievte sie einen Sack nach dem andern auf den Leiterwagen. Wehe, wenn sie ihren Sohn in die Finger bekam … »Brauchst du sonst noch etwas?«, fragte sie Franziska Breuer, als der letzte Sack verstaut war. »Ja, pack mir Salz ein. Und Zucker. Und wenn du noch ein, zwei Töpfe saure Gurken hättest?« Die Müllerin runzelte die Stirn. »Seit wann kaufst du Gurken zu?« Normalerweise stellten die Breuers alles selbst her, was sie ihren Gästen im Wirtshaus anboten. Und Gurken pflanzten sie auch in ihrem Gemüsegarten an. Ja niemanden einen Pfennig verdienen lassen! Den Hals nicht voll kriegen können! – so nannte Käthe das, jawohl! Sie nieste laut und heftig. »Seit ich feststellen musste, dass unsere Fässer schon im Dezember zur Hälfte leer gefressen waren. Und wir wissen auch, wem wir das zu verdanken haben!« Über Franziskas Gesicht huschte eine dunkle Wolke. »Dieses g’schlamperte Luder hätte ich schon im letzten Herbst rausschmeißen und nicht noch bis Lichtmess warten sollen!« Was folgte, war eine Schimpftirade auf Luise, die Magd, die von Franziska beim Klauen erwischt worden war und die daraufhin am zweiten Februar ihr Bündel hatte nehmen müssen. Käthe stieß die Tür zu der kleinen Kammer auf, die sie nach dem Tod ihres Mannes eingerichtet hatte. Ein paar Regale, eine grob gezimmerte Verkaufstheke, mehr stand nicht darin. Hier bot Käthe Salz, Zucker und ein paar Gewürze an, außerdem Marmelade, eingelegte Gurken und Dörrobst. Die Rombacher selbst kauften nicht viel, meist waren es Städter auf der Durchreise, die mit einem Topf Marmelade ein Stück Landleben nach Hause nehmen wollten. Ihnen zuliebe band Käthe sogar ein rotes Schleifchen um jeden Topf. Hauptsache, der Verkauf der Lebensmittel brachte ein kleines Zubrot ein. Auf dem untersten Regalboden standen die Gurken- und Krautfässer. Käthe holte eins der mittelgroßen Fässer hervor. Wenn man der »Fuchsen«-Wirtin Glauben schenkte, war Luise nicht nur eine diebische Elster gewesen, sondern obendrein vom Teufel selbst besessen! Sie rollte ein Gurkenfass neben die Mehlsäcke auf den Leiterwagen und wartete darauf, dass Franziska mit dem Schimpfen aufhörte. »Keiner will mehr richtig schaffen! Aber jetzt werden andere Seiten aufgezogen, das sag ich dir. Und die Kathi seht ihr auch nicht mehr so schnell. Wenn ich die zum Einkaufen schicke, ist immer der halbe Tag vorbei, und das Tagwerk bleibt liegen!« »Du weißt, deine Katharina ist bei uns immer gern gesehen!«, erwiderte die Müllerin. Dann nannte sie ihren Preis für die Lebensmittel. Das älteste Breuer-Mädchen wäre ihr als Schwiegertochter mehr als willkommen. Kathi konnte zupacken, nett anzusehen war sie auch, und dass der Gerhard ganz vernarrt in sie war, ließ sich nicht übersehen. Käthe überlegte noch, ob sie eine Andeutung in diese Richtung machen sollte, als Franziska erwiderte: »Und du weißt, dass wir euren Gerhard ebenfalls gern sehen. Aber dass du nicht auf dumme Gedanken kommst! Die Kathi brauchen wir noch ein paar Jahre. Und jetzt, wo wir ohne Magd sind, sowieso. Obwohl ich immer todmüde bin, kann ich manchmal nachts nicht schlafen, weil ich nicht weiß, wer die ganze Arbeit am nächsten Tag machen soll. Es wird einfach immer mehr!« Sie legte Käthe ein paar abgezählte Geldscheine hin. »Übrigens: Könntest du mir morgen noch einmal den Gerhard schicken? Du weißt doch, außer dem Brot müssen diese Woche auch die Pfingstküchle für Samstag gebacken werden. Und jetzt, wo die Luise weg ist …« Wenn die Bauern am Pfingstsamstag ihre Viecher auf die Weiden getrieben hatten, trafen sie sich alljährlich im »Fuchsen« zu Pfingstküchle und Bier. Ja, dafür war ihr Gerhard gut! Käthe ärgerte sich inzwischen, dass sie es in den vergangenen Wochen zugelassen hatte, dass ihr Sohn für den »Fuchsen«-Wirt den Bäckermeister spielte. Ohne Lohn, versteht sich! Wo es doch eigentlich so war, dass die Leute in die Mühle kamen, um durch Arbeit ihre Mahlkosten abzugelten! Resolut schüttelte Käthe den Kopf. »Tut mir Leid. Der Gerhard hat in den nächsten Wochen alle Hände voll zu tun. Eins der Wasserräder muss ausgebessert werden, ein paar Zapfen sind auch schadhaft und … Vielleicht solltet ihr euch wirklich nach einer neuen Magd umschauen.« Sie weidete sich noch an der Enttäuschung, die der Wirtin ins Gesicht geschrieben stand, als das Tor erneut aufging. Die beiden Frauen drehten sich um. »Grüß Gott!« Misstrauisch beäugte Käthe das junge Mädchen, das im Torrahmen stand. Sie hatte es hier im Dorf noch nie gesehen. Und von einem der umliegenden Höfe kam es bestimmt auch nicht. »Wie kann man helfen?« Die junge Frau blinzelte, als ob sie sich nach der grellen Maisonne erst an die Dunkelheit im Inneren der Mühle gewöhnen musste. »Ich wollte fragen, ob … ob ich ein Brot haben kann«, stotterte sie. Käthe runzelte die Stirn. »Brot?«, wiederholte sie. Dann zeigte sie auf das Schild an der Wand, wo sie alle Waren, die sie zum Verkauf anbot, aufgeführt hatte. »Kannst du nicht lesen? Bei uns gibt’s Mehl. Brot müssen die Leute schon selbst backen.« Diesen kleinen Seitenhieb auf Franziska konnte sie sich nicht verkneifen. Sie wusste wohl, dass es Müller gab, die auch Brot backten und verkauften, um ihre Kasse aufzubessern. Nach dem Tod ihres Mannes hatte Käthe ebenfalls mit diesem Gedanken gespielt, ihn dann aber wieder zugunsten des Lebensmittelhandels verworfen. »Ich tät auch dafür bezahlen. Oder dafür arbeiten!«, fügte die Fremde an, als ob Käthe nichts gesagt hätte. »Fleißig bin ich. Und schnell.« Ihre lebhaften Augen flackerten...