E-Book, Deutsch, 303 Seiten
Egloff / Richter Erziehungswissenschaftlich denken und arbeiten
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-17-041494-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Lehr- und Studienbuch
E-Book, Deutsch, 303 Seiten
ISBN: 978-3-17-041494-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Die Wissenschaft der Erziehung
Isabell Diehm & Frank-Olaf Radtke
Warum Erziehungswissenschaft studieren?
Enttäuschte Erwartungen
Ob im Bachelor- oder Masterstudiengang, ob in den bildungswissenschaftlichen Studienanteilen für das Lehramt, selbst noch in erziehungswissenschaftlichen Promotionsstudiengängen oder Graduiertenkollegs – immer geht es auch um die kaum ausgesprochene, selten ausführlich diskutierte und mitunter durchaus Verlegenheit produzierende Frage: Was zeichnet die Erziehungswissenschaft aus, was unterscheidet sie von den anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, namentlich der Soziologie oder der Psychologie, die sich doch ebenfalls mit Erziehung beschäftigen? In Vorlesungen und Seminaren werden diese Fragen zu oft als überflüssig, als längst geklärt vorausgesetzt und gar nicht erst behandelt. Dabei kommt es immer wieder, spätestens anlässlich von Entwürfen für Abschlussarbeiten, bei Studierenden wie Lehrenden zu irritierenden Beobachtungen und Begegnungen. Die Nachfrage seitens der Lehrenden, welches die besondere erziehungswissenschaftliche Perspektive eines Referates oder einer Ausarbeitung sei, erzeugt nicht selten Ratlosigkeit und Unschlüssigkeit bei den Studierenden. Dieser Erfahrung im Lehrbetrieb ist eine weitere Beobachtung an die Seite zu stellen: Ein großer Teil der Studierenden ist neben dem Studium bereits in unterschiedliche pädagogische Praxisverhältnisse eingebunden: im schulischen Bereich entweder betraut mit Unterrichtsaufgaben, z. T. mit der befristeten Klassenleitung oder mit nach-unterrichtlichen Betreuungs- und Unterstützungsaufgaben; im außerschulischen Bereich in allen denkbaren pädagogischen Kontexten der Einzel- und Gruppenbetreuung und -hilfen. Geschuldet ist dies zumeist einer Mangelsituation. So ist in den vergangenen Jahren die Ganztagsbetreuung im vor- und außer- wie im schulischen Bereich auf gesetzlicher Grundlage quantitativ erheblich ausgebaut worden, ohne die Ausbildung geeigneter pädagogischer Fachkräfte abwarten zu können. Studentinnen begegnen den Dozentinnen1 der Erziehungswissenschaft daher häufig bereits erfüllt von konkreten pädagogischen Erfahrungen, umgetrieben von ungelösten Fragen, die sich aus ihrer täglichen Praxis ergeben. Was sie von der Universität erwarten, ist Hilfe, vielleicht Bestätigung und Ermutigung, neuerdings auch Coaching und Karrieretraining. Häufig mündet die Enttäuschung über das, was ihnen geboten wird, in die Frage: Warum muss ich überhaupt studieren, wo es mir doch darum geht, möglichst effektiv (m)ein Handwerk zu erlernen und know how zu erwerben? Solche Beobachtungen und Erfahrungen beschreiben für die aktuelle Lehr- und Studiensituation in der Erziehungswissenschaft ein offenkundiges Spannungsverhältnis zwischen dem Angebot und den Erwartungen. Dahinter liegt systematisch die Frage nach dem Verhältnis von wissenschaftlicher (Fach-)Disziplin und Profession, letztlich die nach dem Verhältnis von Theorie und beruflicher Praxis. Die Meisterlehre
Was also bietet ein Studium der Erziehungswissenschaft, was kann die Beschäftigung mit der Theorie der Erziehung vor dem Einstieg in den Beruf nützen? Derzeit besteht bei der Ordnung der Berufe ein nicht zu hintergehender Konsens: Ein wissenschaftliches Studium hat (fast) jeglicher pädagogischen Praxis öffentlicher Erziehung vorauszugehen, nur so sei die erforderliche Professionalität zu gewährleisten. Historisch betrachtet, stellt diese Vorgabe gleichwohl eine relativ neue Entwicklung dar. Über Jahrhunderte hinweg haben Novizen, Neulinge im Feld der Erziehung (das hieß: in der Schule), eine Meisterlehre absolviert. Dabei handelte es sich um Männer, oft ausgediente Offiziere. Diese suchten sich Schulmeister, erfahren in der ›Handwerkskunst‹ des Erziehens und Unterrichtens, schauten sich deren Ziele, Stile und Methoden ab und erprobten sich selbst, um das ›Abgeschaute‹ schließlich in ihre eigene Praxis zu übernehmen. Es war also von einer ›Lehrzeit‹ für angehende Lehrer zu sprechen. Später im 20. Jahrhundert wurde diese Art von ›Lehre‹ ergänzt um sogenannte ›Pädagogische Seminare‹, Einrichtungen, die sowohl theoretische wie praxisbezogene Phasen der Ausbildung zukünftiger Lehrerinnen diesseits der Gymnasien kombinierten – nun waren auch Frauen zugelassen. Die seminaristische Form der Ausbildung hat sich bis heute in der zweiten Phase der Ausbildung der Lehrerinnen, im Referendariat, ebenso wie im ›Anerkennungsjahr‹ der Erzieherinnen erhalten. Nur für die zukünftigen Gymnasiallehrer, die lange Zeit fast ausschließlich männlich waren, war eine universitäre Ausbildung institutionalisiert. Freilich war dieses Studium allererst auf die Unterrichtsfächer zugeschnitten, welche die Absolventen später unterrichten wollten, etwa Mathematik, Physik, Deutsch, Latein etc. Das fachbezogene Studium wurde lediglich um wenige Pflichtstunden im Fach Pädagogik ergänzt. Erst in den 1970er Jahren wurde eine wissenschaftliche Ausbildung für alle zukünftigen Lehrkräfte vorgeschrieben – nicht zuletzt auch aus standes- und besoldungspolitischen Gründen. Von nun an mussten auch die auszubildenden Haupt-, Real- und Grundschullehrerinnen, die zuvor an den ›Pädagogischen Seminaren‹ ausgebildet worden waren, pflichtgemäß ein explizit erziehungswissenschaftliches Studium durchlaufen – vor dem Eintritt in den Beruf. Dessen Anteil gegenüber dem Studium der Unterrichtsfächer wurde mit der Zeit deutlich erhöht. Die Verwissenschaftlichung der Pädagogik
Die moderne Gesellschaft beschreibt sich als Wissensgesellschaft, in der alle Teilbereiche des sozialen Lebens: Recht, Gesundheit, Politik, Wirtschaft, Sport etc. ihre Legitimation zunehmend aus wissenschaftlich gesichertem Wissen beziehen. Verwissenschaftlichung ist in vielen Berufen zu beobachten, z. B. dem des Ingenieurs, des Arztes, des Juristen, des Pfarrers etc. Eine wissenschaftliche Ausbildung wurde zunehmend als Voraussetzung für kompetent-berufliches, aber bald auch alltägliches Handeln angesehen, eine ›Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche‹ ist als der allgemeine Trend im 20. Jahrhundert festzuhalten. Der Soziologe Max Weber (1919) sprach von einer »Entzauberung der Welt« und bezeichnete damit eine stetige Verdrängung religiöser und künstlerischer Weltbeschreibungen und -anschauungen zugunsten einer sich auf dem Vormarsch befindlichen wissenschaftlichen Rationalität. Gefragt sind seither ›wissenschaftlich ausgebildete Praktikerinnen‹, bzw., so lautet die Terminologie: ›Professionelle‹. Ein Studium wird zur Zulassungsbedingung für alle professionalisierten Berufe, das sind diejenigen, die in das Leben anderer Menschen folgenreich eingreifen (können) und dafür Verantwortung übernehmen müssen. Dies gilt schließlich auch für die öffentlich verantwortete Erziehung und für (fast) alle angehenden Pädagoginnen, welche in einem öffentlich verantworteten Raum erzieherische Berufe ausüben. Die obligatorische wissenschaftliche Ausbildung hat nachgeholt, was für andere Professionen bereits viel früher selbstverständlich war. Vor diesem Hintergrund ist zu sehen, dass sich die hergebrachte, im 19. Jahrhundert begründete akademische ›Pädagogik‹ im 20. Jahrhundert allmählich von einer Kunstlehre zur ›Erziehungswissenschaft‹ als einer weiteren Sozialwissenschaft entwickelt hat. Ebenfalls in den 1970er Jahren, als mit der politisch gewollten Bildungsexpansion die Zahl der Studentinnen anstieg, wurde zur Kanalisierung der ›Studentenströme‹ für den außerschulischen Bereich der Studiengang der ›Diplom-Pädagogik‹ (ebenso wie das Diplom in Psychologie und Soziologie) erfunden, ohne dass ein Berufsfeld bereits definiert gewesen wäre. Die Planer gingen nicht von bestehenden Stellenbeschreibungen aus, von den Absolventinnen wurde vielmehr erwartet, sich eigene Berufsfelder gestaltend zu erschließen. Der Studiengang war nicht als ›Passung‹ auf existierende Berufsprofile ausgelegt, sondern hoffte auf innovative Profilierungsstrategien. Eine große Ausnahme bezüglich der weithin beanspruchten Akademisierung pädagogischer Ausbildungen bildet bis heute der Bereich der vor- und außerschulischen Erziehung. Erzieherinnen in Kindertagesstätten und Horten haben in der Regel kein Studium absolviert, die Berufsbezeichnung »staatlich anerkannter Erzieher«2 wird im Rahmen einer Fachschulausbildung (und anschließender staatlicher Prüfung) erworben. Neben einem nicht-akademischen Fachunterricht erinnern die verschiedenen praktischen, auf teilnehmende Einübung angelegten Ausbildungsphasen weiter...