Ellinger / Kleinhenz | Soziale Benachteiligung und Resonanzerleben | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 202 Seiten

Ellinger / Kleinhenz Soziale Benachteiligung und Resonanzerleben

Entfremdungsprozesse in der Schule
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-17-040442-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Entfremdungsprozesse in der Schule

E-Book, Deutsch, 202 Seiten

ISBN: 978-3-17-040442-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Obwohl das Bildungswesen zum Abbau sozialer Ungleichheit beitragen sollte, werden ungleiche Startbedingungen in der Schule reproduziert. Kinder aus armen und sozial randständigen Gruppen haben signifikant weniger Schulerfolg als Kinder aus Mainstream-Familien. Das Buch will einen blinden Fleck in der pädagogischen Forschung aufzeigen, indem es diese Benachteiligung jenseits der gängigen Ressourcenfixierung betrachtet und stattdessen das kindliche Erleben in den Blick nimmt. Notwendig sind dafür sowohl eine Beschäftigung mit der Vielfalt an Lebenswelten, in denen Kinder aufwachsen, als auch eine kritische Analyse der einseitig bürgerlich präfigurierten Institution Schule. Das Buch lädt zum Nachdenken über schulische Resonanz- und Entfremdungsprozesse im Spannungsfeld verschiedener sozialer Prägungen ein.
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Kindheit in Deutschland: Ungleiche Wirklichkeiten
  Wir besuchen fünf verschiedene Familien, die in jeweils einem der 13 Stadtbezirke Würzburgs wohnen. Unsere Protagonisten sind sechs Jahre alt und sollen noch im Laufe des Jahres eingeschult werden. Ihr Leben in dieser speziellen Nachbarschaft, ihr Kontakt zu Freunden und Verwandten und die vielen kleinen und großen Sorgen und Vorlieben sind typisch für ihre soziale Lebenslage. In den kommen 27 Leseminuten sollen nicht Stereotype gebildet, sondern individuelle Wirklichkeiten nacherzählt werden. Paula
Paula lebt mit ihrer Familie im Norden der Stadt. Ihre Eltern stammen beide aus der Gegend und haben im Stadtteil Versbach ein hübsches Einfamilienhaus gekauft. Der Ortsteil ist verkehrstechnisch gut angebunden und liegt dennoch im Grünen. Die Familie ist froh, dass sie direkt am Waldrand wohnen, denn sie »sind viele und brauchen Platz zum Atmen«, wie Mama immer sagt. Paula hat zwei ältere Schwestern und Ludwig, den Golden Retriever. Außerdem wohnt auch Helen, Au-pair aus England, bei ihnen. Paulas Eltern sind beide Gymnasiallehrer und erzählen beim Mittagessen immer wieder lustige Geschichten aus dem Englisch- oder Geografieunterricht. Bevor Paula im September endlich auch in die Schule kommt, werden sie wie in jedem Jahr alle zusammen Urlaub in der Toskana machen. In diesem Jahr haben sie das Motto »Auf den Spuren der Etrusker« gewählt und letzte Woche schon zwei Bildbände in das Regal des Wohnwagens geräumt. Ende August werden sie ihren ERIBA und die Zelte in Fiesole aufbauen und von dort aus mit den Fahrrädern Tagestouren unternehmen. Paulas Vater hatte sie zum Geburtstag mit einem gebrauchten Pedelec in ihrer Größe überrascht. So können sie gemeinsam die Umgebung erkunden, ohne dass die Kleinste abgehängt wird. Na ja, ehrlich gesagt ist Paula eigentlich sowieso ziemlich fit. Im Unterschied zu ihrer Schwester Franzi, die sich – seit sie ins Gymnasium gekommen ist – eigentlich nur noch in ihrem Zimmer verschanzt, hat sie keine Angst vor den Familienradtouren. Paula trainiert seit vorletztem Jahr im Hockey-Club Würzburg. Ihre beiden besten Freundinnen sind auch dabei. Und weil die ausgerechnet neben ihnen im Haus rechts und im Haus links wohnen, klappt das mit dem Fahrdienst der Eltern ganz prima. Meistens klappt es prima, nicht immer. Letzte Woche hat Paulas Vater beim Abbiegen ein entgegenkommendes Auto übersehen und konnte gerade noch zurück auf die eigene Spur. Es hat nicht ganz gereicht und die beiden Autos sind aneinander entlang geschrammt. Aber zum Glück konnten sie selber in die Werkstatt fahren und haben dort einen Leihwagen bekommen. Paula spielt oft ausgelassen und fantasievoll mit ihrem Hund Ludwig und ihren beiden besten Freundinnen. Bei Maja im Garten haben sie gemeinsam mit ihren Vätern ein tolles Baumhaus gebaut und dort schon öfter übernachtet. Dann liegen sie in der Dunkelheit auf dem Rücken und sehen sich durch das offene Fenster die Sternbilder und die Wolken an. Manchmal klettern sie auch nochmal runter und besuchen Vivians Mutter in ihrer Werkstatt, die sie hinter der Garage hat. Dort stellt sie aus Baumstämmen Skulpturen her. Das macht sie immer erst abends, wenn die Kids im Bett sind. Vorher hat sie keine Zeit dazu. Paula ist ein neugieriges und lebensfrohes Mädchen. Mia
13 Kilometer südlich von Paula lebt die gleichaltrige Mia. Wie jedes fünfte Kind in Deutschland wächst Mia in einer sozio-ökonomischen Gefährdungslage auf. Vor drei Jahren hat die Familie eine 4-Zimmer-Wohnung in einem der Hochhäuser am Heuchelhof zugewiesen bekommen. Seit dem Umzug fährt Mia, so oft sie kann, mit dem Lift ganz nach oben in den 17. Stock und erkundet von dort aus die Gegend ringsum. Genau gegenüber kann sie in die Fenster des Nachbarhochhauses blicken. Allerdings sieht sie nicht, was dahinter ist. Rechts vorbei kann man zwischen den anderen Hochhäusern bis zum Sportplatz schauen. Wenn es dunkel ist und die Scheinwerfer das Fußballfeld beleuchten, fühlt sich Mia nach New York gebeamt. Im Wohnzimmer hängt ein Plakat von New York, auf dem viele Hochhäuser zu sehen sind – und dazwischen ganz klein ein Fußballplatz, auf dem ein paar Jungs kicken. Irgendwann – »wenn wir mal reich und berühmt sind«, sagt Mias Mutter immer – werden sie alle zusammen nach New York fliegen. Aber dafür reicht das Geld hinten und vorne nicht. Mias Vater arbeitet seit drei Jahren als Aushilfskraft am Bau der A3-Talbrücke Heidingsfeld mit. Vorher war er arbeitslos, und was wird, wenn die Brücke fertig ist, weiß er noch nicht. Um mehr zu verdienen, hat er sich in den Schichtdienst einteilen lassen und muss immer im Wechsel eine Woche sehr früh, eine Woche sehr spät und eine Woche nachts zur Arbeit. Mia hat ihren Vater in den letzten drei Jahren fast nur müde oder gereizt erlebt. Wenn er Urlaub hat, jobbt er bei der Schrottpresse. Dort hat er im letzten Jahr auch seinen alten Mercedes gefunden. Der sollte verschrottet werden, war aber noch fahrbereit und bis auf den TÜV topfit. Mia liebt den satten Sound des Autos, wenn sie mit offenen Fenstern an einer Mauer vorbeifahren und Papa Gas gibt. Sie ist gerne dabei, wenn ihr Vater irgendetwas zu schrauben, zu lackieren oder zu polieren hat. Im Augenblick ist allerdings der Anlasser kaputt und weil das Geld grad knapp ist, kann er nicht repariert werden. Mias Mutter arbeitet als Kassiererin bei REWE und spart jede Woche etwas Geld, damit sie alle zusammen übernächstes Jahr im Sommer vielleicht für eine Woche ins Disney-Land fahren können. Alle zusammen heißt: Mama und Papa, Mia, ihre große Schwester Lara und »die beiden Kleinen«, Max und Alex. Mia teilt sich mit ihrer 8-jährigen Schwester das Zimmer nach Süden, die 3 und 4 Jahre alten Jungs schlafen im Zimmer direkt neben der Eingangstür. Das Mädchenzimmer ist groß genug, dass dort zwei richtige Betten und an der Wand dazwischen ein großer Schrank stehen können. Ihre Hausaufgaben erledigt Lara am Wohnzimmertisch. Wenn Mia auch bald in der Schule ist, müssen sie sich irgendwie absprechen, denn dort liegen ja auch immer die Spielsachen der Jungs herum. Eine Möglichkeit wäre, dass sie sich ein großes Brett besorgen, das sie wie einen portablen Tisch ins Bett mitnehmen können, um darauf zu schreiben. Wenn Mias Mutter mittags arbeiten muss, haben die beiden Schwestern im Haushalt alles im Griff. Dann kochen sie für Max und Alex Spaghetti oder Fischstäbchen und gehen rüber zum Spielplatz. Sie sind schon ein eingespieltes Team: Jacken an, Schuhe, Taschentücher, Hausschlüssel und Mützen. Die Klamotten der Jungs hatten sie früher selbst auch schon an. Auf dem Spielplatz treffen sie meistens auch Fe, Maike, Mo oder Seb. Während die Kleinen an den Geräten spielen und im Sand buddeln, machen sie Sachen für Große. Zum Beispiel beobachten sie gerne Pärchen, wenn sie irgendwo versteckt knutschen. Oder sie graben selber im Sand nach Regenwürmern, staunen über Ameisenstraßen und retten Fliegen aus Pfützen und der Abdeckung der Rutschbahn. Mia ist ein waches, interessiertes und fröhliches Mädchen. Sie genießt ihr Leben und freut sich auf die Schule. Ben
Etwas mehr als zehn Kilometer südlich lebt Ben mit seinen Eltern, seinem Bruder und der Oma mütterlicherseits. Die Zellerau ist ein Würzburger Stadtteil, der den Ruf hat, Heimat von sozialen Randmilieus zu sein. In der Diktion unserer Risikogruppen lebt Bens Familie in einer sozio-kulturellen Gefährdungslage. Vater Manfred hat nach der Schule bei der Waschanlage angefangen und ist seitdem dort beschäftigt. Er verdient aus seiner Sicht nicht schlecht und schiebt in Stoßzeiten auch Überstunden am Hochdruckreiniger. Mutter Eva arbeitet auf 450-Euro-Basis im Tattoo-Studio und hilft am Wochenende in einer Diskothek im Gewerbegebiet aus. Tattoos und Graffiti sind ihre Hobbys. In der Nachbarschaft gilt sie als Künstlerin, weil sie Sachen gut aussehen lässt. Sie hat die Außenwände ihres Wohnblocks gesprayt und die Mülltonnen genial lackiert. Seit einigen Monaten probt sie in einer neu zusammengestellten Band im Keller von Haus Nummer 17. Dort hat der städtische »Sozialfuzzi« mit den Jugendlichen der Gegend Rhythmusinstrumente selbstgebaut und daraus eine sogenannte Beatstomper-Band gemacht. Musik tut auch Ben gut. Er ist oft dabei, wenn seine Mutter gemeinsam mit seinem Bruder Linus Teil der 12-köpfigen Truppe ist. Linus geht seit drei Jahren zur Schule, aber darüber wird in der Familie schon lange nicht mehr geredet. Oma hat neulich mal gesagt, dass sie froh ist, wenn die Jungs aus der Schule raus sind und die selbstherrlichen Lehrer nicht mehr ertragen müssen. Solche Äußerungen klingen in Bens Ohren merkwürdig, denn er will gerne erst einmal überhaupt in die Schule kommen. Seine Mutter hat damals erwidert, Linus soll seine Noten nicht persönlich nehmen....


Prof. Dr. Stephan Ellinger und Lukas Kleinhenz M.A. forschen und lehren am Lehrstuhl für Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen der Universität Würzburg.



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