Erdheim | Bist du wahnsinnig geworden? | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 132 Seiten

Erdheim Bist du wahnsinnig geworden?

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7076-0627-0
Verlag: Czernin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 132 Seiten

ISBN: 978-3-7076-0627-0
Verlag: Czernin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Clautschi' wächst in der Nachkriegszeit in Wien auf, zusammen mit ihrer älteren Schwester und ihrer Mutter, einer Psychoanalytikerin der ersten Stunde und Kommunistin jüdischer Herkunft. Sie ist hin- und hergerissen zwischen dem Stolz auf die intellektuelle, 'bessere' Herkunft einer anerkannten und bewunderten 'Frau Doktor' und der traurigen Realität einer völlig überforderten Mutter. Das Kind darf weder in einen Kindergarten, noch mit anderen Kindern spielen, muss mit ihrer Schwester Aufgaben erledigen, für die beide noch zu klein sind, versinkt mit ihrer Familie im Schmutz und ist den Erzählungen der Mutter über ihre Arbeit, oft sexueller Natur, schutzlos ausgeliefert. Durch den zeitlichen Abstand, aus dem heraus sich Claudia Erdheim in 'Bist du wahnsinnig geworden' an die eigene Kindheit erinnert, und die vollkommen nüchterne, unsentimentale Schilderung des erzählenden Kindes ist dieser Coming-of-Age-Roman besonders eindrücklich. Eine ganze Generation, geprägt von der unverarbeiteten jüngsten Kriegsvergangenheit, wird sich in diesem unprätentiösen Bericht wiederfinden. Claudia Erdheims Romandebüt ist 1984 erstmals erschienen und absolut wert wiederentdeckt zu werden.

Claudia Erdheim, geboren 1945 in Wien. Studium der Philosophie und Logik in Wien, München und Kiel. Lehraufträge an den Universitäten Kiel und Hamburg. Von 1984 bis 2005 Lehrbeauftragte am philosophischen Institut Wien. Claudia Erdheim lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Seit 1984 zahlreiche Buchveröffentlichungen; diverse Preise und Stipendien.

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1. SCHWERE ZEITEN
Meine Fingernägel schneidet sie zu kurz; ins Kino nimmt sie mich mit; ins Kino! Ein Ort absoluter Primitivität! Zu fremden Leuten im Gemeindebau geht sie mit mir; zu fremden Leuten! Und noch dazu zu solchen, die im Gemeindebau wohnen; die sind ja dumm und primitiv; verwahrlostes Gesindel; Kriminelle wohnen dort. Und dann der Dialekt! Zäntt putzen sag ich statt Zähne putzen. Jetzt reicht es aber; alles, was recht ist; das geht wirklich nicht mehr. Das letzte Kindermädel wird entlassen. Ich bin gerade fünf. Es passiert im Speiszimmer, das Zimmer, das immer schon das Speiszimmer war, seit den Zeiten der Großeltern. Meine Mutter tobt, das Mädchen weint und ich mach in die Hose. Im Gemeindebau und im Kino ist es doch schön! Was für ein Prachtexemplar war doch das vorige Kindermädel; die war nicht kriminell; die hat Matura gehabt und sogar ein abgebrochenes Medizinstudium. Endlich kann meiner Mutter niemand mehr dreinreden. Sei still; gib eine Ruh; mach mich nicht nervös, schimpft sie die ganze Zeit vor sich hin. Ich muß mich jetzt fertig machen. Setz dich inzwischen am Diwan und gib eine Ruh. Wo sind die 100 Schilling? Wo ist der Erlagschein? Wo hat dieser Trampel die Schuhe hingetan? Ständig rennt sie von einem Zimmer ins andere. Irgendwer muß doch dran schuld sein, daß sie ihr Halstuch nicht finden kann. Wir gehn gleich; zieh dir inzwischen schon den Mantel an. Gleich gehn wir nie; aber den Mantel zieh ich an. Endlich ist es soweit. Das Kind darf sie nicht verlieren; die Kleine ist so ein lebhafter Bengel. Ganz fest nimmt sie mich an der Hand; den kleinen Finger legt sie vorsichtshalber noch um mein Handgelenk, damit ich ihr nicht auskomm. Irgendetwas Unverständliches murmelt sie die ganze Zeit vor sich hin; und bös schaut sie drein. So ziehn wir los, einmal zu den Russen, einmal nach Mariahilf. Auf der Mariahilfer Straße verkauft ein Mann türkischen Honig; Berge türmen sich davon auf seinem Wagen; ein rotes Kapperl hat er auf mit einem Quastel dran; wie ein Türke schaut er aus. Kaufen wir einmal türkischen Honig? Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage. Warum nicht? Der ist sicher voller Tuberkelbazillen; da hustet doch jeder Tuberer drauf. Komm jetzt weiter! So ein Blödsinn dieser Türke. Vor jeder Auslage bleibt sie stehn und rührt sich nicht vom Fleck; sie sieht nichts; was kostet das? Sie ist ja so myopisch; das Stück vom Herzmansky bis zum Gerngroß dauert eine Ewigkeit. Die einzige Rolltreppe in Wien gibt es beim Gerngroß. Ich zerr an ihrer Hand; können wir nicht einmal mit der Rolltreppe fahren? Nein! Wenigstens vorbeischaun; wenigstens anschaun. Nein, das ist zu gefährlich; komm jetzt; und meine Mutter zerrt in die andere Richtung. In Mariahilf kaufen wir meistens nichts; so schnell geht das nicht; das muß sie sich erst überlegen. In die Stadt gehen wir nie; da ist alles zu teuer; sogar der Meinl ist in der Stadt teurer als anderswo; und überhaupt, da kaufen nur die wirklich vornehmen Leute ein. In den russischen Geschäften wird aber sehr viel gekauft. Eine BDM-Tasche hat meine Mutter immer umgehängt und ein großes, grünes Netz, wie einen Rucksack. Polnische Zuckerln, Stoffe, Fleisch, Schweizer Uhren gibt es da; aber auch Zucker; 5-Kilo-Packungen; davon wird gekauft; die Kleine kann noch nichts tragen; aber die Große ist eh so robust; die kann ja auch einmal allein hinfahren und Zucker kaufen. 10 Kilo kann sie schon tragen; meine Schwe­ster ist ja schon zehn. Da nimmst du diese Aktentasche; das war meine Aktentasche, die ich als Studentin gehabt hab; da gehn gut zweimal 5 Kilo rein. Zucker muß man zu Hause haben, als Reserve; 30 Kilo, besser 50, für den dritten Weltkrieg; in einem alten Kasten bewahrt ihn meine Mutter auf; und in der unteren Hälfte Packpapier und Sackerln. Auf der Fahrt nach Hause ist sie immer sehr nervös; es ist schon so spät; sie muß ja in die Ordination. Die Straßenbahn ist schon wieder so voll; dichtgedrängt stehen wir auf der Plattform; jetzt hält mich meine Mutter nicht mehr an der Hand; sie kann das nicht leiden, wenn die Straßenbahn so voll ist; sie drängt sich einfach vor; sie schaut sich gar nicht um nach mir; und gesagt hat sie auch nichts; ich kann sie gar nicht mehr sehen; jetzt ist sie weg. Die Straßenbahn hält; das ist die Elisabethstraße; da steigen wir öfter aus; aber nur, wenn wir in die andere Richtung fahren; ich steig halt trotzdem aus; vielleicht ist sie ausgestiegen; weg ist sie. Jetzt fährt die Straßenbahn wieder los. Wo ist sie denn? Der Schaffner läutet schon ab und holt mich in die Straßenbahn zurück. Einen Sitzplatz hat meine Mutter ergattert, Kriegsversehrtenplatz. Sie nimmt mich auf den Schoß; ganz bös schaut sie drein; sie tobt vor Wut. Die ganze Straßenbahn ist aufgeregt. Von allen Seiten prasselt es auf meine Mutter ein; können S’ nicht aufpassen auf Ihr Kind! Dieses schwachsinnige Volk mischt sich in alles drein; das geht die gar nichts an; auf den Pofel achtet sie gar nicht. Du weißt doch, daß wir hier nie aussteigen; du kannst doch nicht einfach aussteigen; du hättest doch sehen müssen, daß ich ins Wageninnere geh! Ich sag lieber nichts; sie will eh nicht, daß ich was sag. Was macht man mit dem Kind am Nachmittag? Irgendwie muß man die Kleine ja versorgen. In den Kindergarten kann sie nicht gehn; da ist sie doch die ganze Zeit krank; das kann sich die Frau Doktor nicht leisten; schließlich muß sie ja arbeiten; ihre Praxis kann sie nicht aufgeben; außerdem sind da die Amerikaner einquartiert; und überhaupt, der Kindergarten am Bernsteinplatz, da gehn ja die Proletenkinder hin. Der Kindergarten von der Klinik ist zu weit. Nimmt sie die Kleine halt in die Ordination mit; was soll sie denn machen? Sie kann ja in der Küche sitzen, während sie Patienten hat. Schrecklich eilig haben wir es immer, wenn wir in die Ordination gehn. Im Laufschritt geht es los. Der erste Patient wartet schon vor der Tür; oder er kommt gerade mit dem Roller an der Ecke vorbei. Jeden Tag; ein Jahr nach dem anderen. Da kommt er schon wieder, der Schmecks. Servus, ich muß jetzt rennen. Und weg ist sie. Ich hab ja schon Schlüssel; Gott, froh kann ich sein, daß ich nicht mehr in der Küche sitzen muß. Ein paar Bilderbücher krieg ich; aufs Medikamententischerl legt sie meine Mutter vorm Fenster; nichts ist doch schöner, als den ganzen Tag lesen zu dürfen. Dabei kann ich noch gar nicht lesen. Das macht nichts; Bilderbücher anschaun ist auch schon ein bißchen eine Sublimierung. Spielsachen gibt es keine; die kann man auch nicht von der Wohnung in die Ordination tragen; das ist zu kompliziert; außerdem machen Spielsachen eh nur Unordnung; das geht nicht in der Ordination. Mir ist so fad. Wann kommt endlich wieder ein Patient; wann geht einer; einen Spalt wenigstens kann ich die Tür schon aufmachen, wenn einer kommt oder geht; aus dem Fenster kann ich ihm noch ein bisserl nachschaun; der Spitzbart hat so ein komisches Fahrrad, ein ganz hohes. Die Patienten kommen und gehen ja nur alle fünfzig Minuten. Freundlich zulächeln tun sie mir; sagen tut aber keiner was. Hat meine Mutter nur Männer als Pazwenten? Der Schmecks, der Narrische, der Spitzbart; so heißen sie für mich; der Schmecks hat einen Roller mit einem Dackel drauf; schmecks, sagt meine Mutter immer, wenn ich frag, wie er heißt; und der eine hat im Sommer immer kurze Hosen an. Der wartet immer schon, wenn wir kommen. Warten Sie schon lange? Die Schule hat er so gehaßt, erzählt er mir. Aber alle Kinder gehn doch gern in die Schule? Das kann er gar nicht verstehn. In der Ordination muß absolute Ruhe herrschen. Daß du aber nicht die ganze Zeit aufs Klo rennst! Heimlich schleich ich mich aufs Klo; das Klo ist eh gleich neben der Küche; ganz leise; die Tür kann ich so aufmachen, daß man bestimmt nichts hört; aber die Spülung! Hoffentlich hört sie die Mutti nicht. Vor meinem Fenster ist ein kleiner Garten; da spielen Kinder Ball; das ganze Jahr über schau ich ihnen schon beim Spielen zu; sie winken mir zu; mach doch das Fenster auf; warum soll ich nicht das Fenster aufmachen; die Wohnung ist eh im Parterre. Da, fang; ich werf den Ball zurück; ich setz mich ein bisserl aufs Fensterbrett, da kann man besser spielen; das ist nicht tief; da kann ich ja fast runterspringen; kannst du nicht rauskommen? Nein. Plötzlich steht meine Mutter vor mir. Bist du wahnsinnig geworden? schreit sie mich an und macht wütend das Fenster zu. Aus ist es jetzt mit dem Ballspielen, ein für allemal. Die Kleine ist schon als Teufel auf die Welt gekommen; schon mit knapp drei Jahren ist dieser Fratz kaum zu bändigen. Ein großes Opfer bringt meine Mutter in Pitten, in der Buckligen Welt, in der Sommerfrische. Ins Schwimmbad geht sie mit den Kindern; sie kann gar nicht schwimmen; mit einem Korkreifen will sie es uns beibringen; eigentlich ist das Wasser ja viel zu kalt; zu lang kann sie auch nicht im Wasser stehen, wegen der Niere. Die Kinder hupfen alle ins Bassin; dann raus und wieder rein; eh nur im seichten Wasser; für mich ist überhaupt kein Platz; alle sind sie so groß; und so viele sind da; vorne sind überhaupt keine Kinder; da ist viel Platz; hupf ich halt da rein. Eine Frau springt mir nach; ich brüll wie am Spieß; sie tragt mich zu meiner Mutter. Wieso haben S’ denn des net g’sehn? Soll diesen Trampel doch der Teufel holen; die Kleine hätte ja wirklich nicht ins tiefe Wasser springen müssen; das könnte sie doch schon wissen; so klein ist sie ja auch wiederum nicht mehr; eine Mutter kann doch auch nicht die ganze Zeit aufpassen; nicht einmal gemütlich tratschen kann man; sie kann doch nicht ins Planschbecken gehn mit dem Kind; das kann wirklich niemand von ihr verlangen. Bös ist sie; ein Spielhoserl zieht sie mir an; dann...



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