Erdrich | Jahr der Wunder | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 480 Seiten

Erdrich Jahr der Wunder

Roman
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8412-3234-2
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 480 Seiten

ISBN: 978-3-8412-3234-2
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der neue Roman von Pulitzer-Preisträgerin Louise Erdrich.Während sich in Minneapolis wütender Protest gegen rassistische Polizeigewalt formiert, wird eine kleine Buchhandlung zum Schauplatz wundersamer Ereignisse: Flora, eine treue Kundin, stirbt an Allerseelen und treibt fortan als Geist ihr Unwesen im Laden. Besonders Tookie, die dort nach einer Gefängnisstrafe arbeitet, erhält rätselhafte Zeichen. Denn die beiden Frauen verbindet mehr als ihre Liebe zur Literatur. Tookie muss sich den Geistern der Vergangenheit und ihrer indigenen Herkunft stellen. Und sich wie alle in der Stadt fragen, was sie den Lebenden und den Toten schuldet.Louise Erdrich zeigt eindrucksvoll, wie erhellend Literatur in düsteren Zeiten sein kann - und verfasst zugleich eine Liebeserklärung an Lesende, Bücher und jene, die sie verkaufen.»Bezaubernd, hinreißend und witzig.« The New York Times.»Ein Wunder ... Ein absolut origineller, erheiternder Roman.« Boston Globe.

Louise Erdrich, geboren 1954 als Tochter einer Ojibwe und eines Deutsch-Amerikaners, ist eine der erfolgreichsten amerikanischen Gegenwartsautorinnen. Für ihren Roman »Der Nachtwächter« erhielt sie 2021 den Pulitzer-Preis. Louise Erdrich lebt in Minnesota und ist Inhaberin der Buchhandlung Birchbark Books. Im Aufbau Verlag und im Aufbau Taschenbuch sind ebenfalls ihre Romane »Die Wunder von Little No Horse«, »Liebeszauber«, »Die Rübenkönigin«, »Der Club der singenden Metzger«, »Der Klang der Trommel«, »Solange du lebst«, »Das Haus des Windes« und »Ein Lied für die Geister« sowie »Von Büchern und Inseln« lieferbar. Gesine Schröder übersetzt seit 2007 aus dem Englischen und hat u. a. Jennifer duBois und Curtis Sittenfield ins Deutsche übertragen. Nach Aufenthalten in den USA, Australien, Indien, England und Kanada lebt sie in Berlin.

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Weitere Infos & Material


Erde zu Erde
Im Gefängnis bekam ich ein Wörterbuch. Es wurde mir mit einer persönlichen Notiz per Post gesendet. Dies ist das Buch, das ich auf eine einsame Insel mitnehmen würde. Später ließ meine Lehrerin noch andere Bücher folgen. Aber wie sie es vorhergesehen hatte, erwies sich vor allem das Wörterbuch als unendlich nützlich. Das erste Wort, das ich darin nachschlug, war »sentence«. Ich hatte ein unfassbares Strafmaß – a sentence – von sechzig Jahren Haft aufgebrummt bekommen, von einem Richter mit einem unverbrüchlichen Glauben ans Jenseits. Deshalb verfolgte mich dieses Wort mit seinem gähnenden c, den feindseligen kleinen es, den scharfen Zischlauten und dem zweifachen n, dieser repetitive Alptraum von einem Wort aus lauter hinterrücks stichelnden Buchstaben, die ein einsames menschliches t umstanden, jede Minute eines jeden Tages. Ich weiß genau, ohne das Wörterbuch hätte dieses leichte Wort, das so schwer auf mir lastete, mich erdrückt – oder was von mir übrig war nach meiner verqueren Tat. Ich war in einem schwierigen Alter, als ich straffällig wurde. In den Dreißigern zwar, aber ich klammerte mich an die körperlichen und mentalen Gepflogenheiten der Jugend. Es war das Jahr 2005, aber ich feierte wie 1999, trank und nahm Drogen wie mit siebzehn, trotz aller Proteste meiner ein schlechtes Jahrzehnt älteren Leber. Aus allen möglichen Gründen wusste ich nicht, wer ich war. Jetzt, wo ich es besser weiß, kann ich sagen: Ich bin eine hässliche Frau. Nicht die Sorte, über die Männer Bücher und Filme schreiben, und plötzlich kommt da dieser Schwall blendender, belehrender Schönheit. Ich hab’s nicht so mit Erkenntnismomenten. Und innere Schönheit besitze ich auch nicht. Zum Beispiel lüge ich gern, und ich bin gut darin, Leuten sinnloses Zeug anzudrehen, das sie sich nicht leisten können. Jetzt allerdings, wo ich rehabilitiert bin, verkaufe ich bloß noch Wörter. Sammlungen von Wörtern zwischen zwei Pappdeckeln. In Büchern steht alles, was du wissen musst, bis auf das, was am Ende zählt. An dem Tag, als ich mein Verbrechen verübte, lag ich meinem Schwarm Danae zu den dürren weißen Füßen und kämpfte mit einem inneren Ameisenhaufen. Das Telefon klingelte, und Danae fummelte sich den Hörer ans Ohr. Sie lauschte, sprang auf, kreischte. Umklammerte das Telefon mit beiden Händen und verknautschte ihr Gesicht. Dann wasserwanzten ihr die Augen über. Er ist in Maras Armen gestorben. O Gott, o Jesus. Sie weiß nicht, was sie mit der Leiche tun soll! Danae schleuderte das Telefon von sich, warf sich wieder aufs Sofa, heulte und zappelte mit den spinnengliedrigen Armen und Beinen. Ich verkroch mich unter dem Couchtisch. »Tookie! Tookie! Wo bist du?« Ich stemmte mich auf ihre jagdhüttenen Elchpolster und versuchte mein verstörtes Liebchen zu trösten – wiegte sie und drückte mir ihren gelben Zauskopf an die Brust. Danae war älter als ich, aber dürr wie eine flaumige Vorpubertäre. Wenn sie sich an mich schmiegte, fühlte ich mein Herz sich weiten und wurde zu ihrem Schutzschild. Oder vielleicht erzeugt das Wort »Bollwerk« das passendere Bild. »Ist schon gut, ich hab dich«, sagte ich mit möglichst rauer Stimme. Je lauter sie weinte, desto glücklicher war ich. »Und nicht vergessen«, fügte ich von ihrem hilflosen Schniefen hocherfreut hinzu, »du bist eine Gewinnerin!« Zwei Tage davor hatte Danae einen einmalig hohen Gewinn im Casino eingestrichen. Aber es war zu früh, um über die rosige Zukunft zu reden. Danae packte sich an die Kehle, versuchte sich die Luftröhre herauszureißen, knallte den Kopf auf den Couchtisch. Von unheimlicher Kraft erfüllt, zerschlug sie die Lampe und versuchte sich mit einer der Plastikscherben aufzuschlitzen. Wo sie doch allen Grund hatte zu leben. »Scheiß auf das Geld. Ich will ihn! Budgie! O Budgie, meine Seele!« Sie rammte mich vom Sofa. »Er sollte bei mir sein, nicht bei ihr. Bei mir.« Diesen Sermon bekam ich seit einem Monat zu hören. Danae und Budgie hatten zusammen durchbrennen wollen. Ein kompletter Umsturz der Realität. Sie hatten beide behauptet, sie wären in eine Paralleldimension des Begehrens vorgestoßen. Aber dann gab ihnen die alte Welt eins über die Rübe. Eines Tages nüchterte Budgie sich aus und kehrte zu Mara zurück, die nicht einmal ein schlechter Mensch war. Sie hatte es immerhin geschafft, clean zu werden und clean zu bleiben. Glaubte ich zumindest. Jetzt allerdings sah es danach aus, als wäre Budgies Versuch, wieder normal zu werden, gescheitert. Wobei sterben ja auch normal ist. Danae stieß ein Geheul aus. »Weiß nicht, was sie mit seiner Leiche tun soll! Was, was, was soll das heißen?« »Du bist wahnwitzig vor Trauer«, sagte ich. Ich gab ihr gegen diese Heulerei ein Küchenhandtuch. Es war dasselbe Handtuch, mit dem ich die Ameisen zu bekämpfen versucht hatte, obwohl ich wusste, dass ich halluzinierte. Sie hielt es sich vors Gesicht und wiegte sich vor und zurück. Ich ignorierte die zerquetschten Ameisen, die ihr durch die Finger rannen. Sie zuckten immer noch mit den Beinchen und wedelten mit zarten Fühlern. Eine Idee durchfuhr Danae. Es schüttelte sie, und sie erstarrte. Dann drehte sie den Hals, plärrte mich aus geröteten Augen an und sprach grausige Worte. »Budgie und ich sind eins miteinander. Ein Körper. Seinen Körper sollte ich haben, Tookie. Ich will Budgie, meine Seele!« Ich verdünnisierte mich zum Kühlschrank und holte ein Bier heraus. Ich brachte es Danae. Sie schlug meinen Arm weg. »In dieser Lage müssen wir einen klaren Kopf bewahren!« Ich stürzte das Bier hinunter und sagte, wir müssten uns kaputtsaufen in dieser Lage. »Wir sind schon kaputt! Das Irre ist doch, sie hat ihm ein Jahr lang den Sex verweigert, und jetzt hat sie seinen gottgegebenen Körper.« »Es war ein ganz normaler Körper, Danae. Er war kein Gott.« Sie war für meine Einwände unempfänglich, und die Ameisen waren Feuerameisen; ich kratzte mir die Arme blutig. »Wir treten ihr die Tür ein«, sagte Danae. Ihre Augen waren flammend rot geworden. »Wir gehen da rein wie gottverdammte Marines. Wir bringen Budgie nach Hause.« »Er ist doch schon heimgegangen.« Sie schlug sich auf die Brust. »Ich, ich, ich bin sein Zuhause.« »Ich geh dann mal.« Ich kroch auf die kaputte Tür zu. Dann kam der Hammer. »Warte, Tookie. Wenn du mir hilfst, Budgie herzuschaffen, ja? Wenn du ihn zurückholst? Dann kriegst du den Casinogewinn. Das ist ein Jahresgehalt, also, für eine Lehrerin, Süße. Oder für eine Schuldirektorin? Das sind 26 000 Dollar.« Ich hielt auf der schmierigen Fußmatte inne und überlegte auf allen vieren. Danae spürte meine Ehrfurcht. Ich legte den Rückwärtsgang ein, wälzte mich herum und blickte in ihre kopfüber gedrehte zuckerwattige Miene. »Ich gebe sie dir gern. Aber bitte hilf mir, Tookie.« Ich hatte schon so vieles in diesem Gesicht gesehen. Das glitzernde Glühen, die Lamettariesenräder und so manches mehr. Die vier Winde, wie sie die großmaschige grüne Welt durchfuhren. Blätter, die sich in ein künstliches Gewebe verflochten und mir den Blick versperrten. Nie hatte ich gesehen, wie Danae mir Geld anbot. Egal, welchen Betrag. Und dieser Betrag war verlockend. Es war verstörend, berührend und das Folgenreichste, das sich je zwischen uns abgespielt hatte. »Oh, Babe.« Ich legte die Arme um sie, und sie hechelte wie ein weicher Hundewelpe. Öffnete den nassen Schmollmund. »Du bist meine beste Freundin. Du kannst das schaffen. Du kannst mir Budgie wiederbringen. Sie kennt dich nicht. Mara hat dich noch nie gesehen. Und du hast doch den Kühltransporter.« »Jetzt nicht mehr. North Shore Foods haben mich gefeuert«, sagte ich. »Nein!«, rief sie. »Warum...



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