E-Book, Deutsch, 229 Seiten
Erhardt Deutsche Kriminalgeschichte
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-17-036730-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Verbrechen und Strafe als Spiegel der Gesellschaft
E-Book, Deutsch, 229 Seiten
ISBN: 978-3-17-036730-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Verbrechen und Täter üben seit jeher eine abstoßende Faszination auf die Menschheit aus. Dabei enthält der Einzelfall stets auch die Signatur des jeweiligen Zeithorizontes und reflektiert das kollektive Bewusstsein. Die Kriminalgeschichte ist insofern ein elementarer Baustein der Sozial-, Politik- und Rechtsgeschichte.
Elmar Erhardt führt den Leser anhand berühmter Verbrechen von 1800 bis zur Gegenwart durch über zwei Jahrhunderte Kriminalgeschichte. Die Brutalität der beschriebenen Verbrechen erweist sich hierbei oft lediglich als eine banale Konstante, während der rechtliche Umgang mit den Verbrechen ein erhellendes Schlaglicht auf den gesellschaftlichen und historischen Kontext wirft.
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2 Johannes Bückler – der »Schinderhannes« (um 1800)
2.1 Der 21. November 1803: Blutgericht in Mainz
»Die Wälle und benachbarten Anhöhen wimmelten von Neugierigen. Über die Hälfte gehörten sie zum weichen, zärtlichen Geschlechte, von denen sogar ein großer Theil die Metzeley von 20 Menschen ohne sonderliche Anfälle von Weichheit mit ansehen konnte.«1 So berichtete die »Mainzer Zeitung« am Tag nach der Hinrichtung des berühmt-berüchtigten Räuberhauptmanns »Schinderhannes«, der mit bürgerlichen Namen Johannes Bückler hieß. Mit ihm waren 19 seiner Mitverurteilten unter der Guillotine gestorben. Zehntausende Neugierige strömten am 21. November 1803 zur öffentlichen Hinrichtungsstätte vor den Toren der Stadt Mainz, wo sich heute der Stadtpark befindet. In fünf offenen Wagen wurden die 20 zum Tode Verurteilten zum Richtplatz gefahren. In einem zeitgenössischen Bericht von Johann Gottlob Schulz hieß es: »Es schlug 12 Uhr. […] Dann kamen die fünf Leiter Wagen mit den Verbrechern. Auf dem ersten Wagen saßen fünfe, Schinderhannes in einem rothen Hemde oben an. Zur Auszeichnung hatte man ihm eine weiße Kappe aufgesetzt. Mit rothen Hemden, dem Zeichen des Mörders, waren überhaupt sieben bekleidet. Er war, wie die übrigen, mit den Händen auf den Rücken an die Wagenleitern angebunden. […] Es war ein höchst niederschlagender Anblick für den Menschen von Gefühl, diese zwanzig Schlachtopfer der Gerechtigkeit dahin schleppen zu sehen. […] Schinderhannes wurde zuerst hingerichtet. Als er auf die Guillotine kam, betrachtete er einige Augenblicke das Beil, dann sagte er mit ziemlicher Fassung: ›Ich sterbe willig, ich habe den Tod verdient; aber von diesen‹, indem er auf die übrigen zeigte, ›sterben wenigstens zehen unschuldig.‹ Er ward angebunden, unter das Beil geschoben, es fiel, und Schinderhannes war nicht mehr.«2 Die Exekution aller zwanzig Verurteilten dauerte nur etwas mehr als zwanzig Minuten. Vorausgegangen war dem Ganzen einer der größten Schauprozesse der deutschen Justizgeschichte. Knapp sechzehn Monate hatten sich die Ermittlungen hingezogen, bis am 24. Oktober 1803 der Prozess gegen den 25-jährigen Räuberhauptmann »Schinderhannes« und 67 Mitangeklagte begann und nach vier Wochen endete. Etwa 400 Zeugen waren vernommen worden. Es ergingen 20 Todesurteile und immerhin 20 Angeklagte wurden freigesprochen. Drei Angeklagte verstarben in der Haft, einer wurde nach Trier überstellt und das Schicksal von drei anderen ist unbekannt. Von 21 Mitangeklagten erhielten sieben eine »Kerkerhaft in Ketten« von 24 Jahren, eine Strafe, die zur damaligen Zeit kaum ein Häftling überlebte, sodass sie einem Todesurteil gleichkam. Neun weitere Mitangeklagte wurden für zweiundzwanzig, vierzehn, zehn, acht oder sechs Jahre »in die Ketten geschmiedet«. Drei »Räuberbräute«, darunter Juliane Blasius, die letzte Geliebte des »Schinderhannes«, kamen für zwei Jahre und fünf Monate ins Zuchthaus. Zwei andere wurden über die Rheingrenze abgeschoben. Die meisten zeitgenössischen Berichterstatter bezeichneten die Mainzer Urteile als »harte Strafen für grause Thaten«, wie sie auch das Gerichtsverfahren als durchaus »fair« bewerteten.3 Abb. 1: Zeitgenössische Darstellung des Schinderhannes (links) und seiner Hinrichtung (rechts) aus dem Jahre 1803. 2.2 Johannes Bückler
Johannes Bückler wurde im Herbst des Jahres 1779 in Mühlen (heute Miehlen) im Taunus als zweiter Sohn von »Johann Bückler, dem Alten«, wie er in den späteren Gerichtsakten genannt wurde, und der Bauerntochter Anna Maria Schmitt geboren. Der »alte« Johann Bückler war zeitweilig als Scharfrichter- und Abdeckerknecht tätig, wodurch die Familie Bückler zur sozial untersten Schicht der damaligen Zeit gehörte. Generationenlang waren die Bücklers Scharfrichter, Wasenmeister und Abdecker gewesen, die auch »Schinder« genannt wurden. So hatte der alte Bückler »krepiertes Vieh auf den Wasen zu holen und abzuhäuten. Waren Pferde und Ochsen an einer Hauptseuche eingegangen, so durfte er für das Abhäuten einen Gulden berechnen«.4 Als die Mutter des Schinderhannes 1784 des Diebstahls von Holz und Leinwand bezichtigt wurde, musste die Familie Bückler Hals über Kopf ihren Wohnort verlassen. In Miehlen, das damals von einem absolutistischen Kleinfürsten streng regiert wurde, hatten Diebinnen mit schwersten Strafen zu rechnen, wahrscheinlich sogar mit der Todesstrafe. So »entwichen die Bücklerischen Eheleute heimlich«.5 Der ohnehin geringe Familienbesitz wurde zwangsversteigert, wobei ein jüdischer Kaufmann den Zuschlag erhielt.6 Wie der Angeklagte Johannes Bückler später zu Protokoll gab, wollte die Familie eigentlich nach Polen auswandern, doch verpflichtete sich sein Vater dann unterwegs für sechs Jahre zum Militärdienst im kaiserlichen Regiment Hildburghausen zu Olmütz in Mähren. Am 21. August 1787 desertierte der alte Bückler und kehrte mit seiner Familie in seinen Geburtsort Merzweiler auf dem Hunsrück zurück. Später wechselte die Familie – der junge Johannes hatte inzwischen mindestens sieben Geschwister – wiederholt die Wohnorte, wie z. B. Hommerich, Kirchenbollenbach, Idar und Veitsroth, wo der Vater vorwiegend als Feldschütz tätig war. In dieser Zeit ging Johannes zur Schule und lernte etwas Lesen, Schreiben und Rechnen, Fertigkeiten, mit denen er sich später bei seinen Kumpanen hervortat. Was die Dorfschulen damals vermitteln konnten, lässt sich anhand der erhaltenen Unterschriften des »Schinderhannes« erahnen. Nur mit Mühe konnte er nämlich seinen Namen »auf das Papier kritzeln«.7 Mit fünfzehneinhalb Jahren begann die kriminelle Karriere von Johannes Bückler. In diesem Alter hatte er sein Elternhaus verlassen, wie er im Mainzer Gerichtsverfahren zu Protokoll gab. Ein Gastwirt hatte ihm einen Louisdor anvertraut, um dafür Branntwein zu kaufen, für den er aber eine bessere Verwendung hatte: Er vertrank das Geld im Wirtshaus mit einem Zechkumpan namens Hannfried. Aus Angst vor Strafe kehrte er nicht nach Hause zurück und irrte einige Zeit durch die Gegend. Weil er kein Geld und nichts zu essen hatte, stahl er ein Pferd und verkaufte es. Noch hatte er wohl Skrupel, seinen Lebensunterhalt mit Diebstählen zu bestreiten und so trat er in die Dienste eines mit ihm verwandten Wasenmeisters namens Nagel in Bärenbach und begann eine Lehre als Abdecker (»Schinder«). Wahrscheinlich stammt aus dieser Zeit der Beiname »Schinderhannes«, den sich Johannes Bückler nach seinen eigenen Angaben in Mainz nicht selbst gegeben hatte, sondern nach seiner Vermutung »der Pöbel« wegen seines Großvaters, der Schinder gewesen war.8 Weil er dann bei seinem Lehrherren einige Viehhäute gestohlen hatte, wurde er öffentlich der Prügelstrafe unterzogen. Nach dieser Demütigung tauchte er unter und stand wohl kurze Zeit als Soldat in österreichischen Diensten. Jedenfalls wurde ihm später nachgesagt, dass er manche Überfälle und Angriffe »in militärischer Manier« durchgeführt habe. Im Jahre 1796 kehrte er zu seinem alten Lehrherren Nagel zurück und ließ sich dort aber bald zu Hammeldiebstählen anstiften. Diese wurden schnell aufgeklärt: Johannes Bückler wurde verhaftet, abgeführt und ins Gefängnis von Kirn gesteckt. Aber, so gab er es später in Mainz an: »Ich entwischte aus meinem Gefängnis in der ersten Nacht«.9 Es erfolgte der erste Steckbrief, ausgeschrieben auf den aus dem Gefängnis entwichenen »Johannes Pückler«, datiert auf den 14. Dezember 1796. 2.3 Die kriminelle Karriere des »Schinderhannes«
Mit der Unterschlagung eines einzigen Louisdors im Alter von fünfzehneinhalb Jahren hatte Johannes Bückler die Weichen für seine kriminelle Karriere gestellt. Nachdem er aus dem Gefängnis entwichen war, schloss er sich einem losen Bund von Vagabunden, Dieben und Räubern an. Dazu gehörten unter anderen seine späteren Kumpane Jakob Fink (der »Rote Fink«) und Peter Petri, der den bekannten Beinamen »Schwarzer Peter« bekommen sollte. Schinderhannes knüpfte Kontakte zu anderen Hunsrückbanden, wie z. B. einer Bande von...