Buch, Deutsch, Band 63, 483 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 214 mm, Gewicht: 606 g
Reihe: Campus Historische Studien
Osteuropäische Einwanderer in Paris 1880-1940
Buch, Deutsch, Band 63, 483 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 214 mm, Gewicht: 606 g
Reihe: Campus Historische Studien
ISBN: 978-3-593-39634-7
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Ethnologie | Volkskunde Volkskunde Minderheiten, Interkulturelle & Multikulturelle Fragen
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Historische Migrationsforschung
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Mentalitäts- und Sozialgeschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Europäische Geschichte Europäische Regional- & Stadtgeschichte
Weitere Infos & Material
Inhalt
Einleitung 7
I. Vier historisch-ethnographische Skizzen 18
A. Der plecl fun paris: St. Gervais 18
1. Bemerkungen zur Quellenbasis 19
2. Berufe 25
3. Wohnen 47
4. Migrantische Infrastruktur I: Einrichtungen 56
5. Migrantische Infrastruktur II: Straßenhandel und Geschäfte 60
6. Migrantische Infrastruktur III: Gaststätten 70
7. Migrantisches Idyll und sozialer Brennpunkt I: St. Gervais als Rotlichtviertel 78
8. Migrantisches Idyll und sozialer Brennpunkt II: Jugendliche Karrierestrategien, Gewalt und Einwanderermilieu 91
9. Einheimisch werden I: Virtueller sozialer Raum, Repräsentation und Anerkennung 96
10. Repräsentation und Konflikt: Einwanderer und Franzosen 117
B. Ort des Vergnügens und Verbrechens: Clignancourt 127
1. Bemerkungen zur Quellenbasis 129
2. Berufe 134
3. Wohnen 137
4. Migrantische Infrastruktur I: Einrichtungen 143
5. Migrantische Infrastruktur II: Straßenhandel, Trödel und Geschäfte 149
6. Migrantische Infrastruktur III: Gaststätten 162
7. Ort des Vergnügens und des Verbrechens? Milieus und Devianz in Clignancourt 170
8. Verkehrsformen, Netzwerke und Interaktionen 191
C. Revolutionäre, Bohemiens und andere: Val de Grâce 208
1. Bemerkungen zur Quellenbasis 210
2. Berufe 214
3. Wohnen 216
4. Migrantische Infrastruktur I: Einrichtungen 220
5. Migrantische Einrichtungen II: Kantinen und Gaststätten 227
6. Einwanderermilieus auf der rive gauche 237
7. Kontaktformen und Identifizierungen 256
D. Alte und neue Aristokraten: La Muette 262
1. Bemerkungen zur Quellenbasis 264
2. Berufe 269
3. Wohnen 275
4. Migrantische Infrastruktur: Einrichtungen und Organisationen 277
5. Einheimisch werden II: Milieus und Repräsentationen in La Muette 283
6. Vergemeinschaftungsformen und Milieubildung 296
7. Häusliche Bedienstete 303
II. Symbolische Vergemeinschaftung, Organisierung, öffentlicher Raum 312
A. Vergemeinschaftungsformen 312
1. Vorbemerkung 312
2. Amicales: Netzwerkbildung und Formierung von Öffentlichkeit 313
3. Organisierte und private Wohltätigkeit: Vergemeinschaftung und Eigensinn 327
4. Religiöse Vereinigungen: Lokalität und Internationalismus 337
B. Migrantische Politik und öffentlicher Raum 351
1. Petr Lavrov 1881-1900: Politik, Repräsentation und Deutungshoheit 351
2. Paradigmenwechsel und Akteure: Migrantische Revolutionäre und Polizei um 1890 360
3. Einheimisch werden III: Migrantische revolutionäre Organisierung 1906-1914 369
4. Einheimisch werden IV: Migrantische gewerkschaftliche Organisierung und Streikformen 382
5. Öffentlicher Raum, Repräsentation und migrantisches Nationalbewusstsein im Ersten Weltkrieg 393
6. Verlorene Staatlichkeit, neue Staatlichkeit, Kommunismus: Symbolische Räume und Repräsentation 1918-1940 411
7. Scholom Schwartzbard, Pavel Gorgulov und Herszel Grynszpan: Zugänge zum hegemonialen Diskurs 428
Schlussbemerkungen 446
Quellen und Literatur 468
Abkürzungen 483
Als wesentlich erweist sich für die Quellenlage wie für die Betrachtung des Alltagslebens und der Vergemeinschaftungsstrategien in den einzelnen Vierteln, dass die Bevölkerung der quartiers populaires den Wohnplatz und seine Umgebung - Treppenhaus, Hinterhof, Straße, Café - als unmittelbaren, sozialen und in diesem Rahmen öffentlichen Raum verstand und nutzte. Die Lebensweise in den studentischen wie in den wohlhabenderen Vierteln unterschied sich hiervon weniger wegen eines sozialen Gefälles, das zwischen ArbeiterInnen und häufig mittellosen migrantischen Studierenden auch gar nicht bestand. Die Ereignisarmut - und die darüber vermittelte geringe soziale Kohärenz - in den migrantischen Studierendenmilieus wird aber ohne weiteres erklärbar, wenn wir davon ausgehen, dass die Studierenden, als gewollte künftige gesellschaftliche Elite, nicht auf die Aneignung ihrer unmittelbaren Umgebung hin orientiert waren, sondern auf eine Partizipation an einem nationalen öffentlichen Raum und die Aneignung (oder, bei den Revolutionären, Veränderung) der dort geltenden Regeln. Die Tendenz zur Isolierung von der einheimischen Umgebung mochte umso stärker sein, da dieser nationale öffentliche Raum nicht der des Aufenthaltslandes war, sondern der des Herkunftslandes. In analoger Weise erklärt sich dann auch - neben der durch das soziale Gefälle zu erklärenden anderen Lebensweise - die Blässe des öffentlichen Alltagslebens für La Muette: Zum einen entspricht die Privatheit der eigenen Wohnung dem Selbstverständnis des (gehobenen) Bürgertums und der Aristokratie: Das Alltagsleben der gehobenen Schichten spielt sich innerhalb der Wohnung oder des Hauses ab und nicht in den öffentlichen Bereichen, die in den quartiers populaires so wichtig waren. Hinzu kommt, dass ein großer Teil der öffentlichen Aktivitäten, deren Träger und Trägerinnen die wohlhabenderen, vornehmlich russischen Migranten im XVI. Arrondissement gewesen sind, als möglichst weitgehende Rekonstruktion des verlorengegangenen Staatswesens gemeint war.
In den migrantischen quartiers populaires St. Gervais und Clignancourt bestand eine weitgehende Einheit zwischen dem topographischen Raum, in dem die Migrantinnen und Migranten lebten, und dem sozialen Referenzraum, auf den hin ihre Handlungen ausgerichtet waren, in dem ihnen Bedeutung beigemessen wurde und in dem sie ihren Sinn entfalteten. Die kognitive und identitäre Bedeutung dieser beiden Viertel erwies sich dabei nicht als vormoderne, idyllische Einheit von Gemeinschaft, Klasse und Wohnort. Weder St. Gervais noch das Einwandererviertel in Clignancourt waren migrantische Oasen, die vollkommen unabhängig von ihrer unmittelbaren Umgebung entstanden wären und sich entwickelt hätten. Zudem wies ihre Bedeutung erstens in je spezifischer Weise über die in ihnen wohnende migrantische Bevölkerung hinaus: Es wurde gezeigt, dass St. Gervais auch von osteuropäischen Einwanderern, die nicht dort lebten, häufig aufgesucht wurde: zum Besuch des Gottesdienstes, zur Einnahme von Mahlzeiten, zum Besuch von Bekannten, zum Einkaufen und für Freizeitaktivitäten. In etwas geringerem Maße galt dies auch für Clignancourt, wo zusätzlich mit der place Pigalle und dem "russischen Dreieck" südlich des quartier ein sozialer Kontaktraum be- oder entstand, der seine Anziehungskraft nicht mehr durch die migrantische Einwohnerschaft, sondern durch ein spezielles kulturelles Angebot gewann. Zudem unterschied sich die Klientel dieser Einrichtungen in sozialer Hinsicht von denjenigen, die die Einwandererviertel im engeren Sinne aufsuchten: Handelte es sich dort um Besucher, in geringerem Maße um Besucherinnen, die sich als Arbeiter, Handwerker und kleine Gewerbetreibende in einer vergleichbaren sozialen Situation befanden wie die Einwohnerschaft selbst, zogen die Vergnügungslokale im Süden von Clignancourt eine finanzkräftigere Kundschaft an, die ihren Wohnsitz in anderen Arrondissements der französischen Hauptstadt hatte.
Der Charakter beider quartiers populaires veränderte sich außerdem im Verlaufe der Zwischenkriegszeit: Zwar gehörte die Mehrzahl der migrantischen Einwohner weiterhin der jüdischen Religion an beziehungsweise entstammte jüdischen Familien. Nach dem Ersten Weltkrieg bildeten sich aber parallel dazu polnisch-katholische (in St. Gervais) und russische (in Clignancourt) Submilieus heraus, die die bereits zuvor bestehenden osteuropäisch-jüdischen Waren- und Dienstleistungsangebote wahrnahmen. In St. Gervais verfügten diese ab Mitte der zwanziger Jahre über eigene Treffpunkte. Für Clignancourt ist eine solche Verschiebung auf der Alltagsebene nicht nachweisbar, wohl aber gab es dort Niederlassungen russischer und ukrainischer politischer Vereine - darunter der russischen faschistisch-antisemitischen Mladoross - in unmittelbarer Nähe zum osteuropäisch-jüdischen Einwandererviertel. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass damit ein räumlicher Bezug intendiert war, etwa in dem Sinne, dass die Jungrussen sich möglichst nahe an der Höhle des Löwen installieren wollten. So fehlte es an jeglichen (registrierten) Übergriffen der russischen Faschisten auf jüdische Migranten und umgekehrt.
Gerade der Umstand, dass insbesondere St. Gervais von seinen migrantisch-jüdischen Bewohnern und Bewohnerinnen als jüdisches, von den später hinzukommenden Polen als osteuropäisches (oder ostmitteleuropäisches) Viertel interpretiert wurde, verdeutlicht ein wesentliches Merkmal der migrantischen Anwesenheit in den quartiers populaires: die multiple und parallele Interpretation des städtischen Raumes. Selbst in St. Gervais, dem plecl fun paris, überschritt der migrantische Anteil an der Gesamtbevölkerung nie ein gutes Viertel. Rein quantitativ betrachtet kann also von einem osteuropäischen oder ostjüdischen Viertel im Herzen von Paris nicht die Rede sein. Die osteuropäisch-jüdische Einwohnerschaft des Viertels verfügte zwar bereits vor dem Ersten Weltkrieg über ein reiches Spektrum an Einrichtungen - Geschäften, Gaststätten, Synagogen -, die im städtischen Weichbild unmittelbar sichtbar waren und eine Wahrnehmung des Viertels als Eigenes stützten. Diese Interpretation widersprach aber auf der Ebene des Alltagslebens nicht einer parallelen beziehungsweise weiterbestehenden Vereinnahmung durch die französische Bevölkerung. Es gab keine nachweisbaren Territorial- oder Deutungskonflikte zwischen Migranten und französischer Einwohnerschaft, sehen wir vom kollektiven Vorgehen migrantischer Mieter gegen eine französische Nachbarin oder einer Massenschlägerei zwischen - nicht im Viertel selbst wohnenden - Bauarbeitern und migrantischen Jugendlichen ab. Dabei ist freilich zweierlei zu berücksichtigen: Zum einen sind die ersten 14 Jahre seit dem Beginn einer zahlenmäßig bedeutenderen Einwanderung in das Viertel, also die Jahre 1881-1895, nicht dokumentiert. Zum anderen gab es spätestens im Jahre 1912 eine Initiative französischer Geschäftsleute in St. Gervais, die sich im Magistrat der Stadt über eine als unlauter apostrophierte jüdisch-migrantische Konkurrenz beklagten. Es gibt aber nur außerordentlich wenige Hinweise auf ein tatsächliches Vorgehen französischer gegen jüdische Gewerbetreibende, sehen wir einmal von eventuell verschärfter Fahndung nach Verstößen gegen die Ladenschluss- und Arbeitszeitgesetze seitens der Berufsverbände ab. Diese Initiative wirkte offensichtlich wenig auf das Alltagsleben, sondern spielte sich im administrativ-öffentlichen Raum ab, wo sie immerhin Anlass zu einer in der vorliegenden Arbeit mehrfach zitierten Studie des Sozialhygienikers Maurice Lauzel gab. Antisemitische und xenophobe Zumutungen blieben selten und auf der Ebene individueller Invektiven, die ihrerseits darauf hinwiesen, dass selbst einige Franzosen die migrantische Interpretation des Viertels teilten.