E-Book, Deutsch, Band 27, 300 Seiten
Reihe: Staatlichkeit im Wandel
Etling Privatisierung und Liberalisierung im Postsektor
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-593-43272-4
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Die Reformpolitik in Deutschland, Großbritannien und Frankreich seit 1980
E-Book, Deutsch, Band 27, 300 Seiten
Reihe: Staatlichkeit im Wandel
ISBN: 978-3-593-43272-4
Verlag: Campus
Format: PDF
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Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Inhalt
Dank9
1Einleitung11
1.1Hintergrund der Untersuchung und Fragestellung11
1.2Konzepte, Problemstellung und Forschungsstand14
1.3Forschungsdesign19
1.4Aufbau der Arbeit24
2 Theoretischer Rahmen - Antriebskräfte und Weichensteller25
2.1Internationale und sozioökonomische Antriebskräfte27
2.1.1Globalisierung27
2.1.2Europäisierung29
2.1.3Sozioökonomischer Problemdruck31
2.2Politisch-institutionelle Weichensteller33
2.2.1Interessen- und konflikttheoretische Theorien33
2.2.2Institutionelle Theorien41
2.3Hypothesen48
3 Deutschland - Die Deutsche Bundespost: vom Staatsunternehmen zum Global Player51
3.1Die Ausgangslage - Der Postsektor bis Ende der 1970er Jahre51
3.1.1Die Strukturen der Postpolitik51
3.1.2Reformüberlegungen in den 1960er und 1970er Jahren58
3.2Postreform I - Die Restrukturierung der Bundespost (1989)60
3.2.1Wirtschaftliche und strukturelle Veränderungen im Postsektor bis 198960
3.2.2Die formelle Privatisierung der Bundespost63
3.3Postreform II - Von der Bundespost zur Deutschen Post AG (1994)74
3.3.1Wirtschaftliche Herausforderungen74
3.3.2Die Änderung des Grundgesetzes77
3.4Die Liberalisierung des Postmarktes87
3.4.1Die Teilfreigabe des Marktes für Massendrucksachen87
3.4.2Das Postgesetz 199789
3.5Der Börsengang der Deutschen Post AG und der Liberalisierungsaufschub95
3.5.1Die materielle Privatisierung der Deutschen Post AG95
3.5.2Die Verlängerung der Exklusivlizenz und die internationale Expansion der Deutschen Post AG98
3.6Zwischenfazit102
3.6.1Internationale und sozioökonomische Antriebskräfte102
3.6.2Politisch-institutionelle Weichensteller106
4 Großbritannien - Der Wandel einer altgedienten Institution113
4.1Die Ausgangslage - Der Postsektor bis Ende der 1970er Jahre113
4.1.1Die Strukturen der Postpolitik seit 1969114
4.1.2Die wirtschaftliche Ausgangslage und erste Reformüberlegungen119
4.2Der Postsektor zwischen 1979 und 1997122
4.2.1Die Spezifizierung der Monopolrechte und der Privatisierungsausschluss - Die 1980er Jahre122
4.2.2Der gescheiterte Privatisierungsversuch (1994)127
4.3Die Postreform im Jahr 2000133
4.3.1Wirtschaftliche Herausforderungen für das Post Office133
4.3.2Die formelle Privatisierung des Post Office im Jahr 2000135
4.4Die Liberalisierung des Postsektors145
4.5Die Bemühungen um eine materielle Privatisierung der Royal Mail151
4.5.1Der Versuch einer Mitarbeiterbeteiligung am Unternehmen151
4.5.2Der Entwurf eines neuen Postgesetzes im Jahr 2009153
4.6Die Aufhebung der Veräußerungssperrklausel (2011) und der Börsengang der Royal Mail (2013)157
4.7Zwischenfazit163
4.7.1Internationale und sozioökonomische Antriebskräfte163
4.7.2Politisch-institutionelle Weichensteller167
5 Frankreich - Die Post im Zeichen des Service Public171
5.1Die Ausgangslage - Der Postsektor bis Ende der 1970er Jahre171
5.1.1Die Strukturen der Postpolitik171
5.1.2Die interne Reorganisation der Post in den 1970er Jahren177
5.2Die PTT in den 1980er Jahren179
5.2.1Die wirtschaftliche Situation der französischen Post179
5.2.2Die ausbleibende Reform181
5.3Die Reform der Post im Jahr 1990185
5.4Der Postsektor in den 1990er Jahren192
5.4.1Ökonomische Herausforderungen und interne Reorganisation192
5.4.2Politische Kontinuität196
5.5Die Liberalisierung des Postsektors197
5.5.1Ein erster Liberalisierungsschritt197
5.5.2Der überparteiliche Konsens gegen eine Liberalisierung201
5.5.3Die verzögerte Marktöffnung203
5.6Die formelle Privatisierung der französischen Post207
5.6.1Wirtschaftliche Situation der La Poste in den 2000er Jahren207
5.6.2Die Umwandlung der französischen Post in eine Aktiengesellschaft210
5.7Zwischenfazit219
5.7.1Internationale und sozioökonomische Antriebskräfte221
5.7.2Politisch-institutionelle Weichensteller222
6 Vergleich der Reformpolitik in Deutschland, Großbritannien und Frankreich227
6.1Politikprofile - Die Restrukturierungspolitik im Vergleich227
6.2Determinanten der Postreformen in Deutschland, Großbritannien und Frankreich231
6.2.1Internationale und sozioökonomische Antriebskräfte231
6.2.2Politisch-institutionelle Weichensteller238
7 Fazit253
Abkürzungen261
Abbildungen und Tabellen263
Literatur265
Dokumente293
Liste der Interviews299
Dank
Diese Arbeit ist am Sonderforschungsbereich 597 "Staatlichkeit im Wan-del" der Universität Bremen entstanden. Während meiner dortigen Tätig-keit habe ich von der stimulierenden intellektuellen Atmosphäre und den Diskussionen mit meinen Kolleginnen und Kollegen enorm profitieren können. Mein besonderer Dank gilt denjenigen, die mich während des Verfassens der vorliegenden Arbeit unterstützt haben. Allen voran möchte ich mich bei Herbert Obinger und Susanne K. Schmidt für die Betreuung meiner Dissertation bedanken. Ihre überaus hilfreichen Kommentare und ihre menschlich angenehme Art haben zum Gelingen meines Forschungsprojekts entscheidend beigetragen.
Stefan Traub möchte ich für seine Ratschläge aus wirtschaftswissen-schaftlicher Perspektive danken, die stets eine Bereicherung meiner Arbeit waren. Mein Dank gilt ferner Reimut Zohlnhöfer und Roy Karadag für konstruktive Anmerkungen und weiterführende Impulse.
Großer Dank gilt darüber hinaus Karsten Mause, Sebastian Streb, Da-niel Seikel, Sylvia Hils, Falk Lenke, Jan-Ocko Heuer und Tilman Krüger für hilfreiche Kommentare zu verschiedenen Aspekten der Dissertation. Erheblich profitiert habe ich zudem von den Diskussionen mit den Mit-gliedern der Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS).
Hervorheben möchte ich die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die mir durch die finanzielle Förderung des Sonderforschungsbe-reichs ein sehr gutes Arbeitsumfeld gewährt hat. Hierzu gehören For-schungsaufenthalte in Großbritannien und Frankreich, die es mir erlaub-ten, auch dort Interviews zu führen, Datenmaterial zu sammeln und mich mit Experten vor Ort auszutauschen. In diesem Zusammenhang möchte ich mich besonders bei Olivier Rozenberg, Vlad Gross und Filip Kostelka bedanken, die mich während meines Aufenthalts an der Sciences Po in Paris in meiner Arbeit unterstützt und meinen Aufenthalt menschlich bereichert haben.
Für das Korrekturlesen großer Passagen meiner Doktorarbeit danke ich Gunnar Zamzow, Laura Schibbe und Thorsten Hüller. Ein großer Dank gilt Dieter Wolf, Tristan Hoff und Monika Sniegs für ihre vielfältigen Hilfestellungen. Schließlich bin ich auch meinen Interviewpartnern zu Dank verpflichtet, die sich die Zeit genommen haben, meine Fragen zu beantworten.
Ich widme dieses Buch meiner Familie, insbesondere meiner Frau Me-lissa, die mich stets großartig unterstützt und ermutigt hat. Für alle ver-bliebenen Fehler und Unklarheiten ist allein der Autor verantwortlich.
Andreas Etling
Bremen, 20. Mai 2015
1Einleitung
1.1Hintergrund der Untersuchung und Fragestellung
Wer in den letzten Jahren die Presse verfolgte, konnte sich dort einerseits über den Höhenflug der Aktie der Deutschen Post AG und deren Ambitionen als kommende ›Volksaktie‹ informieren, musste aber auch andererseits erfahren, dass die ehemalige Bundespost sich vollständig von ihren firmeneigenen Filialen trennte (FAZ 06.09.2013; SZ 17.05.2010). Diese Nachrichten wären für interessierte Leser vor kaum mehr als 25 Jahren wohl undenkbar gewesen, sind aber direkte Folge der Restrukturierungswelle, die den Postsektor in den letzten Jahrzehnten erfasst hat und die im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht.
Mit dem Postwesen wird ein zentraler Bereich der öffentlichen Dienstleistungen der OECD-Staaten in den Blick genommen, dessen wirtschaftliche und soziale Grundprinzipien sich in der Vergangenheit auch in anderen öffentlichen Sektoren durchsetzten (Coase 1939: 424). Die Postadministrationen gehörten lange Zeit zum Kernstück der nationalen Kommunikationsinfrastruktur und trugen zum Ausbau des modernen Staatswesens bei. Ungeachtet der Entwicklungen in der Kommunikationstechnologie hatten die Postdienste zum Teil bis in die jüngste Zeit eine wichtige Bedeutung für die Regional-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik (J. I. Campbell u.a. 2005: 15; Wachter u.a. 2001). Und nicht zuletzt wegen seiner sicherheitspolitischen Relevanz bildete der Postsektor einen Teil der öffentlichen Verwaltung, sodass auch in etwaigen Krisenfällen die Kommunikation sichergestellt werden konnte. Daher wurden die Postdienste über Jahrzehnte oder teilweise sogar Jahrhunderte als öffentliche Monopoldienstleistung erbracht. Darüber hinaus stellte die staatliche Organisation des Postwesens die traditionelle Regulierungsform eines Sektors dar, der aufgrund der Subadditivität der Kostenfunktion Tendenzen zur Monopolbildung aufweist. Die Post als integraler Bestandteil des Staates hat sich derart im gesellschaftlichen Gedächtnis verankert, dass auch heute noch in der Wissenschaft auf die Funktionsfähigkeit des Postwesens als zentrale Maßeinheit für die Messung der staatlichen Leistungsfähigkeit rekurriert wird (Chong u.a. 2014).
Dennoch waren die staatsnahen Sektoren (Mayntz/Scharpf 1995b) und damit auch der Postsektor seit den 1980er Jahren einer wettbewerbsorientierten Restrukturierung durch die Politik unterworfen. Dieser Wandel von öffentlichen Monopoldienstleistungen zum privaten Wettbewerbsmarkt, der in der Literatur als Übergang vom Leistungs- zum Regulierungsstaat (Grande 1997; Majone 1994; 1997) oder als regulatory capitalism (Levi-Faur 2005) bezeichnet wurde, zeichnet sich durch ein verändertes Verhältnis in der Arbeitsteilung zwischen Staat und Gesellschaft aus. So hat der Staat in der jüngsten Vergangenheit die Leistungserbringung an private Unternehmen delegiert, während er allerdings weiterhin regulatorisch in den Markt eingreift.
Für das Postwesen bedeutete dieser Wandel, dass zunächst die finanzi-ell attraktiven Telekommunikationssparten von den häufig defizitären Postdienstleistungen getrennt sowie die üblicherweise als staatliche Admi-nistrationen geführten Dienste in öffentliche oder privatrechtliche Unter-nehmen umgewandelt und zum Teil veräußert wurden. Darüber hinaus wurden die Monopolmärkte für den Wettbewerb sukzessive geöffnet sowie meist zeitgleich politisch unabhängige Regulierungsinstitutionen geschaffen, die das Konkurrenzprinzip in einem zum Monopol neigenden Markt durchsetzen und die Einhaltung der Prinzipien des Universaldienstes überwachen sollten.
Gegenüber anderen staatsnahen Sektoren - etwa der Telekommunika-tion oder der Elektrizität - weist der Postsektor allerdings ein abweichen-des, erklärungsbedürftiges Reformmuster auf. Im Postwesen setzte sich Deutschland als Pionier an die Spitze der Reformen, während Großbritannien und Frankreich vergleichsweise spät wettbewerbsorientierte Restrukturierungen einleiteten. Dieses Reformmuster widerspricht dem sogenannten British Paradigm (Clifton u.a. 2003: 85), also der Annahme, dass ausgehend von der Pionierrolle Großbritanniens in der Restrukturierung des öffentlichen Sektors ein Diffusionsprozess wettbewerbsorientierter Reformen stattgefunden habe (Bortolotti/Siniscalco 2004: 23ff.; Ikenberry 1990: 102; Starr 1990: 25; Wright 1994). Im Mittelpunkt der Analyse steht daher die Beantwortung folgender Frage: Wie können die länderspezifischen Unterschiede der wettbewerbsorientierten Reformen im Postsektor in Deutschland, Großbritannien und Frankreich zwischen 1980 und 2013 erklärt werden?
Die vorliegende Arbeit untersucht, wie trotz des redistributiven Cha-rakters des Postsektors und des damit einhergehenden hohen Konfliktpo-tenzials eine Durchsetzung der Reformprozesse möglich war. Mindestens drei potenzielle Konfliktfelder zeichnen sich diesbezüglich ab: Erstens dürfte aufgrund der höheren Arbeitsstandards im öffentlichen gegenüber dem privaten Sektor und den durch eine Privatisierung zu erwartenden Entlassungen eine Restrukturierung bei den Arbeitnehmern der staatlichen Postunternehmen auf Widerstand stoßen. Zweitens sollte angesichts der regionalpolitischen Bedeutung des Postsektors eine Restrukturierung gerade von der Bevölkerung im ländlichen Raum abgelehnt werden. Und drittens zeigen Umfragen, dass die öffentliche Organisation des Postsektors generell in der Bevölkerung große Zustimmung fand und eine Privatisierung skeptisch betrachtet wurde (CSA 2009; Infas 1992; YouGov 2010). Vor diesem Hintergrund ist für die vergleichende Staatstätigkeitsforschung aufschlussreich, wie diese Konflikte in Anbetracht der unterschiedlichen parteipolitischen und institutionellen Konfigurationen in den betrachteten Ländern gelöst werden konnten.
Vor diesem Hintergrund argumentiert die vorliegende Arbeit wie folgt: Erstens wird auf die Bedeutung des sozioökonomischen Problemdrucks und der Effekte der EU-Politik auf den Postsektor verwiesen. Diese Faktoren haben den wettbewerbsorientierten Reformprozess angestoßen, wobei ökonomischer Problemdruck eher im Bereich der Privatisierung wirkte, während die Rolle der Europäischen Union insbesondere in der Regulierungs- und Liberalisierungsfrage bedeutsam war. Zweitens war die ideologische Neuausrichtung der politischen Parteien zugunsten marktliberaler Positionen und somit der politische Wille zur Umsetzung der Restrukturierungsmaßnahmen wichtig. Und drittens spielten die Möglichkeiten der Regierungen zur Vermeidung von Schuldzuweisungen durch die Wähler (blame avoidance) bei der Durchführung der Reformen eine wesentliche Rolle. Als zentral für die Vermeidung von Schuldzuweisungen erwiesen sich dabei die Konfiguration des Parteienwettbewerbs und die unterschiedliche institutionelle Ausgestaltung der Regierungssysteme.
1.2Konzepte, Problemstellung und Forschungsstand
In den 1980er Jahren wurde der öffentliche Sektor in weiten Teilen der OECD-Staaten von einem breiten Reorganisationstrend erfasst, der bis heute anhält. Zentrale Dimensionen dieser wettbewerbsorientierten Re-strukturierung waren erstens die formelle und materielle Privatisierung staatlicher Unternehmen. Unter dem Begriff der formellen Privatisierung (oder auch Organisationsprivatisierung) wird die Veränderung der Rechts-form einer Organisationseinheit verstanden. Darunter kann die Umwand-lung einer unselbstständigen Verwaltungseinheit in einen öffentlichen Betrieb sowie darauf folgend die Transformation in ein privatrechtliches Unternehmen gefasst werden. Die anschließende Veräußerung des privat-rechtlichen Unternehmens an private Investoren wird als materielle Privatisierung bezeichnet (Mayer 2006: 19f.). Jede dieser Stufen der Privatisierung zeichnet sich zumindest theoretisch durch eine Abnahme politisch diskretionärer Eingriffe und einer sukzessiven Schärfung ökonomischer Zielsetzungen gegenüber nicht-ökonomischen Zielen aus (Boycko u.a. 1996; Shapiro/Willig 1990). Weitere zentrale Elemente einer wettbewerbsorientierten Restrukturierung sind zweitens die Liberalisierung von Märkten, d. h. die Aufhebung bestehender rechtlicher Marktzutrittsschranken, und drittens die Schaffung eines sektorspezifischen Regulierungsrahmens, der häufig mit der Delegation der Regulierungskompetenzen an politisch unabhängige Regulierungsinstitutionen verbunden wird. Zusammengenommen sollen diese Maßnahmen durch die Hervorhebung der Marktkräfte und durch die Minderung des öffentlichen Einflusses auf die Erbringung der Dienstleistungen die ökonomische Performanz des Sektors verbessern und die mit Monopolen verbundenen Wohlfahrtsverluste reduzieren (Beesley/Littlechild 1992: 23ff.; Bös 1986; Shleifer 1998: 141f.).
Diese Effizienzüberlegungen mögen zwar während der Reformen der staatsnahen Sektoren eine Rolle in den Erwägungen der jeweiligen Regie-rungen gespielt und zum Teil die Ausrichtung der Reformen mitbestimmt haben, allerdings widerspricht die sektorale Ausdifferenzierung der Regu-lierungsniveaus im internationalen und intersektoralen Vergleich einer rein auf ökonomischen Faktoren aufbauenden Erklärung (vgl. Abb. 1, S. 15).
So wies der Postsektor aufgrund des bereits im Wettbewerb stehenden Paketmarktes Anfang der 1980er Jahre gegenüber anderen staatsnahen Sektoren ein vergleichsweise geringes Regulierungsniveau auf. Infolge umfassender Reformen im Telekommunikations- und Elektrizitätssektor hatten diese Mitte der 2000er Jahre nicht nur den Postsektor in Fragen der Wettbewerbsorientierung überholt, sondern auch die Varianz der Regulierungsniveaus zwischen den Sektoren hatte sich deutlich vergrößert.
Abbildung 1: Restrukturierung staatsnaher Sektoren in 21 OECD-Ländern, 1980 bis 2007
Quelle: Conway/Nicoletti (2006) und OECD (2011). Die Y-Achse zeigt das staatliche Regulierungsniveau (Staatsbesitz, Marktzugangsbeschränkungen) an, wobei niedrigere Werte von geringerem staatlichen Regulierungsausmaß zeugen (Maximalwert (6); Minimalwert (0)). OECD-Länder: Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Japan, Kanada, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz, Spanien, USA.
Sektorspezifische Erklärungen, wie etwa technische Entwicklungen in der Telekommunikation und in der Elektrizität (Eberlein 2001: 35; Schneider 2001: 176ff.), können zwar die Varianzen zwischen den einzelnen Bran-chen plausibel erklären. Allerdings weist das Postwesen nicht nur gegen-über anderen Sektoren erhebliche Reformunterschiede auf, sondern auch zwischen den Ländern sind verschiedene Restrukturierungsmuster zu er-kennen, sodass sektorspezifische Erklärungsansätze keinen Erkenntnis-mehrwert enthalten (vgl. Tab. 1, S. 16).
Tabelle 1: Reformen im Postsektor im internationalen Vergleich, 1980 bis 2013
Quellen: Eigene Zusammenstellung auf Basis von: Ecorys (2008) und Horstmann (1997), Informationen der Regulierungsbehörden. (*) Die erste Jahreszahl bezeichnet die Umwandlung der staatlichen Administration in öffentliche Unternehmen, die zweite die in privatrechtliche Unternehmen (**) Die rechtliche Privatisierung des Post Office in Großbritannien in ein öffentliches Unternehmen erfolgte bereits im Jahr 1969. (***) Jahr des erstmaligen Verkaufs von Staatsanteilen.
Dem Trend in den staatsnahen Sektoren entsprechend haben Deutschland, Großbritannien und Frankreich seit Ende der 1980er Jahre den Umbau des Postsektors in den drei beschriebenen Dimensionen mit einer Verlagerung hin zu marktwirtschaftlichen Koordinationsformen betrieben. Gleichwohl sind Differenzen im Ausmaß, der Abfolge und den Durchführungszeitpunkten der Reformen hervorzuheben.
So hat Deutschland den Postsektor zeitlich am frühsten und am umfassendsten reformiert, während Frankreich und Großbritannien vergleichsweise spät Restrukturierungsmaßnahmen einleiteten. Dies wird insbesondere in der Privatisierungsdimension und der Frage der Regulierungsinstitution deutlich, während hingegen in der Liberalisierungsdimension Großbritannien die Marktöffnung zuerst vollständig abschloss.
Dieses Reformmuster zeigt nicht nur empirische Abweichungen gegenüber den anderen staatsnahen Sektoren, sondern widerspricht auch Erklärungen, die alleine auf die ideologische Positionierung der Regierungsparteien oder der Durchsetzungsfähigkeit der Regierungen im politischen System abheben. So gelten das französische und das britische Regierungssystem aufgrund der vergleichsweise hohen Machtkonzentration als reformfreundlicher als das fragmentierte politische System Deutschlands. Darüber hinaus wiesen die konservativen Regierungen in Großbritannien in den 1980er und 1990er Jahren ein hohes Maß an ideologischer Offenheit gegenüber einer Reform des öffentlichen Sektors auf. Und auch die französischen Konservativen hatten sich seit den frühen 1980er Jahren ideologisch gegenüber einer Restrukturierung des staatlichen Sektors geöffnet (Abromeit 1988; Denord 2004; Lijphart 1999; Tsebelis 2002).
Trotz dieser empirischen und theoretischen Abweichungen der Re-formpolitik im Postwesen von anderen staatsnahen Sektoren finden sich in der relevanten Literatur nur wenige Arbeiten zum Thema. In der Rechtswissenschaft sind einige Studien über den Postsektor entstanden, die sich aber auf länderspezifische Regelungen beziehen und nicht vergleichend vorgehen. So beschäftigen sich ältere Untersuchungen aus Deutschland mit Fragen der Monopolstellung (Altmannsperger 1969; Zurhorst 1969) und der Organisationsform der Bundespost (Kühn 1971). Neuere Studien betrachten spezifische Probleme der Gesetzgebung in Deutschland (Badura u.a. 2000) und auch in Frankreich (Calley 2006; Chevallier 1990). Andere rechtswissenschaftliche Analysen haben den Liberalisierungsdruck aus der Europäischen Union in den Blick genommen (Geradin 2002; Neu 1999; Szyszczak 2007). Die geschichtswissenschaftliche Literatur ist durch Arbeiten zur nationalen historischen Entwicklung des Postwesens geprägt (Brnjak 2009; Daunton 1985; Le Roux 2002a; Lotz 2007; Malaval 2010; Steinmetz/Elias 1979). Diese Arbeiten zielen aber nicht auf die Erklärung von Veränderungen ab, sondern gehen meist deskriptiv vor.
Aus ökonomischer Sicht haben sich verschiedene Studien mit Fragen zur Preisbildung (Coase 1939) und zum natürlichen Monopol sowie zur Regulierung des Postwesens (Blankart 1987; Horstmann 1997; Panzar 1991) beschäftigt. Zudem sind in den letzten 20 Jahren eine stattliche An-zahl an Sammelbänden von Michael Crew und Paul Kleindorfer (beispielsweise: 2006; 2008; 2012) herausgegeben worden, die sich mit verschiedenen Aspekten der ökonomischen und sozialen Regulierung des Postsektors befassen.
Die politikwissenschaftliche Literatur hat sich der Restrukturierung des Postsektors bisher kaum angenommen und ländervergleichende Analysen sind selten. Im Zuge der Reform der Telekommunikation ist eine Reihe von Arbeiten entstanden, die aufgrund der engen institutionellen Verbindung mit dem Postwesen auch den Postsektor behandeln (Grande 1989; Hulsink 1999; S. K. Schmidt 1991; 1996; Schneider 2001; Thatcher 1999; Werle 1990). Diese Arbeiten sind allerdings auf die Telekommunikation zugeschnitten und beleuchten die sektorspezifischen Konstellationen und Strukturen des Postwesens eher am Rande.
Explizit mit dem Postwesen hat sich dagegen Thiem (2004) beschäftigt und einen systematischen Vergleich des institutionellen Wandels des Sek-tors in 26 Industrieländern für den Zeitraum zwischen 1980 und 2000 vorgelegt. Die Studie hebt die nationalspezifischen Verläufe der Reformen hervor, bleibt aber auf einer deskriptiven Ebene und bietet keine Erklärungsansätze für die beobachteten Veränderungen.
Campbell (2002) untersucht die Postreformen in acht verschiedenen Industrienationen bis zum Jahr 2000. Obwohl er ebenfalls die nationalspezifischen Entwicklungspfade hervorhebt, steht im Mittelpunkt der Arbeit die Erklärung der länderübergreifenden Tendenz zur Durchführung wettbewerbsorientierter Reformen. Für die Erklärung greift Campbell auf technische und internationale Faktoren sowie die Diffusion der neokonservativen Ideologie zurück. Indessen hebt Thatcher (2007a: Kap. 12) die Bedeutung der EU-Postrichtlinien im Restrukturierungsprozess des Sektors in vier EU-Mitgliedsstaaten - Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien - zwischen 1989 und 2005 hervor. So haben nach einer Phase anfänglich divergierender Reformprozesse sektorspezifische EU-Richtlinien dazu beigetragen, institutionelle Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten abzubauen und wettbewerbsorientierte Reformen einzuleiten. Zu ähnlichen Befunden kommt Schmitt (2013), die in einer quantitativen Untersuchung von 21 OECD-Ländern die Bedeutung der postspezifischen EU-Richtlinien für den Privatisierungsprozess in den Mitgliedstaaten hervorhebt. Obwohl in diesen Arbeiten unterschiedliche Reformmuster durchaus herausgestellt werden, betonen diese aber letztlich vor allem Konvergenzprozesse.
Dagegen beschreibt Eckert (2009) die unterschiedlichen Reformout-puts im Postsektor in Frankreich, Deutschland, Japan und Singapur, die sie insbesondere auf die politische und gesellschaftliche Relevanz der Postdienste zurückführt. In einem weiteren Artikel untersucht Eckert (2010) nationale Variationen der Delegierung von Regulierungsaufgaben an politisch unabhängige Institutionen in Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Obwohl sie im Bereich der formalen Delegation von Aufgaben Übereinstimmungen zwischen den Ländern ausmacht, konstatiert Eckert zumindest Kongruenzen zwischen der Regulierungspraxis und den jeweiligen nationalspezifischen Kapitalismusmodellen.
Dieser Überblick über die einschlägige Literatur zeigt, dass zwar bereits einige Untersuchungen existieren, die eine gute Einführung in die Eigenheiten des Sektors bieten, diese aber meist auf deskriptiver Ebene bleiben. Die wenigen erklärenden Studien analysieren häufig Konvergenzprozesse oder konzentrieren sich nur auf Teilaspekte der wettbewerbsorientierten Restrukturierung. Eine systematische Untersuchung und Erklärung der Reformmuster im Postsektor steht noch aus. Die vorliegende Arbeit soll daher zur Schließung dieser Forschungslücke beitragen. Bevor im zweiten Kapitel die forschungsleitenden Hypothesen präsentiert werden, wird im nächsten Abschnitt auf das Forschungsdesign und die Fallauswahl eingegangen.
1.3Forschungsdesign
Die Untersuchung der wettbewerbsorientierten Restrukturierung des Postsektors zwischen 1980 und 2013 wird anhand von vergleichenden Fallstudien der Länder Deutschland, Großbritannien und Frankreich durchgeführt. Der Beginn des Untersuchungszeitraums markiert in etwa den Niedergang des Staatsinterventionismus keynesianischer Prägung. Diese auch als Keynesian Welfare State (Jessop 1993; 2002) bezeichnete Formation wurde mit dem Ende des ›Wirtschaftswunders‹ der Nachkriegszeit in den 1970er Jahren von einem Staat abgelöst, der marktorientierte Lösungen für wirtschaftspolitische Probleme bevorzugte. Die Untersuchung setzt also zu einem Zeitpunkt ein, ab dem eine signifikante Veränderung der traditionellen Strukturen der öffentlichen Sektoren zu erwarten ist. Darüber hinaus ermöglicht die Länge des Untersuchungszeitraums von mehr als 30 Jahren nicht nur die detaillierte Beschreibung der Reformprozesse und somit auch die Identifizierung von über lange Zeiträume wirkenden, komplexen Kausalfaktoren und deren Sequenz, sondern auch die Einbeziehung von negative cases (Mahoney/Goertz 2004).
Gegenüber Untersuchungen mit großen Fallzahlen besteht bei verglei-chenden Fallstudien zudem ein Vorteil darin, dass sie es ermöglichen, kausale Mechanismen genau nachzuzeichnen und somit die theoretisch hergeleitete Verbindung zwischen unabhängigen und abhängigen Variablen aufzuzeigen.
"Case studies offer detailed insights into mechanisms, motives of actors, and constraints they face at particular moments which no other method - statistics, experiment, biographies, or even more systematic comparative analysis - can offer […]." (Hancké 2009: 61)
Dies ist insbesondere dann von Vorteil, wenn die forschungsleitenden Hypothesen nicht nur einen einfachen kausalen Zusammenhang zwischen abhängigen und unabhängigen Variablen postulieren, sondern komplexe Ursachen und Interaktionseffekte enthalten (vgl. Kapitel 2). Somit kann der theoretischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte Rechnung getragen werden, die die Relevanz von Pfadabhängigkeiten und der strategischen Interaktion zwischen Akteuren in den Mittelpunkt rückt. Dafür eignet sich besonders die in dieser Arbeit angewendete Prozessanalyse (process-tracing) (Hall 2003). Ein weiterer Vorteil der Prozessanalyse besteht darin, dass mit dem (möglichst) lückenlosen Nachweis einer Verursachungskette eventuelle Scheinkausalitäten, also eine vermeintliche Verbindung gleichzeitiger oder zeitlich aufeinander folgender Ereignisse, die nicht kausal verbunden sind, vermieden werden können (Schimmelfennig 2006: 263f.).