E-Book, Deutsch, Band 10, 172 Seiten, E-Book
Reihe: Geist und Wissen
Evers Logos und Sophia Das Königsportal und die Schule von Chartres
1. Erstauflage 2012
ISBN: 978-3-86935-161-2
Verlag: Steve-Holger Ludwig
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, Band 10, 172 Seiten, E-Book
Reihe: Geist und Wissen
ISBN: 978-3-86935-161-2
Verlag: Steve-Holger Ludwig
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Die Kathedrale von Chartres ist ein Symbolbau, in dem sich das Wissen, die Kunst und die Spiritualität des hohen Mittelalters verdichten. Er bewegt auch uns heutige Menschen – in unserem religiösen Empfinden, unseren künstlerischen Sinnen und unserem Wissen um die Wurzeln der abendländischen Kultur. Die »Renaissance des 12. Jahrhunderts« ist die eigentliche Geburtsstunde des modernen Europas, ihre Sakralbauten deren sichtbare Zeugen.
Zu den eindringlichsten Bildwerken der Epoche gehört das berühmte Königsportal von Chartres. Es entstand um 1150 im Übergang der Spätromanik zur Frühgotik als Ausdruck eines neuen Gottes- und Menschenbildes. Über 200 Skulpturen veranschaulichen dies in Form eines reichen Figurenschmucks.
Der vorliegende Band ist der bislang ausführlichste Versuch, die verbliebenen Fragen an das Bildwerk zu klären. Die Antworten finden sich in jenem kühnen Brückenschlag von religio und ratio, der die Gedankenwelt der Zeit und besonders der Kathedralschule von Chartres prägte.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Die Wahrheit allen Seins. Thierry von Chartres und der Platonismus des 12. Jahrhunderts
»Am Anfang war die Kathedrale von Chartres, oder genauer: Jene bewundernswürdige romanische Pforte, die man das Königsportal nennt, und die genau zu jener Zeit entstand, als die Schule von Chartres in ihrem hellsten Licht strahlte«, so beginnt Éduard Jeauneau sein Grundlagenwerk über die Schule von Chartres.40 Der Zusammenhang zwischen Schule und Portal springt vor allem angesichts der Darstellung der Sieben Freien Künste ins Auge, die im rechten Seitentympanon die vergöttlichte Maria wie Heiligenfiguren umgeben. Sind die damaligen Lehren über Gott und Welt dann nicht die notwendigen Schlüssel zur Deutung der Bildgehalte in diesem monumentalen Werk mit seinen über 200 Einzelfiguren? Mehrere Autoren haben diesen Grenzgang zwischen Geistes- und Kunstwissenschaft bereits erprobt; ich folge dem Pfad, teils auf ihren, teils auf eigenen Spuren. Mit den meisten Autoren vermute ich, dass wir in Thierry von Chartres († ca. 1156) jenen geistigen Führer vor uns haben, der uns von der Gedankenwelt der Schule von Chartres zur Bilderwelt des Königsportals geleitet. Zur Entstehungszeit war er der führende Theologe und mit Abstand der gebildetste Gelehrte in Chartres. Neben seinem Amt als Kanzler der Schule war er – noch bedeutsamer und einflussreicher – zugleich Erzdiakon, also Verwaltungschef der Diözese und damit praktisch der Stellvertreter des Bischofs.41 Nimmt man hinzu, dass dieser Bischof Gottfried von Lèves oft in kirchenpolitischen Geschäften verreist und möglicherweise in der Planungszeit des Westportals bereits krank war (er starb 1148, also noch während der Ausführung des Portals)42, dann dürfen wir schließen: Was immer in diesen Jahren in Chartres geschah, konnte jedenfalls nicht ohne den Willen des Thierry geschehen. Jedoch: Dass Thierry derjenige Theologe gewesen sein könnte, der den Bildhauern das Bildprogramm vorgab, bleibt in der Literatur meist eine beiläufige Vermutung. Auch Katzenellenbogen43, der ausführlich auf Thierry eingeht, begrenzt die Indizien auf das offenkundigste bildhauerische Zeugnis, jenes Bogenrund der Sieben Freien Künste. Dieser Fächerkanon war damals allerdings Gemeinbestand aller Magister von Chartres; mehrere von ihnen hätten dieselbe Bildidee haben können. – Einen tieferen Blick auf geistige Verwandtschaften unternimmt Halfen44; wir kommen darauf zurück. Die nachfolgenden Seiten gehen der Vermutung nach, dass sich Spuren des Denkens von Thierry auch in anderen Teilen des Bildwerks finden – wodurch sich umgekehrt die Hinweise auf seine Urheberschaft verstärken. 1. Vita. Was wissen wir von Thierry?
Den »hervorragendsten Philosophen Europas« – so nannte Clarembald von Arras seinen verehrten Lehrer Thierry.45 Ein anderer Schüler, Hermann von Carinthia (= Kärnten), übersandte ihm 1143 die »Planisphären« des Ptolemäus, die er soeben aus dem Arabischen übersetzt hatte, mit der Widmung: »Dir, meinem gewissenhaftesten Lehrer Theodoricus, bei dem ich keineswegs zweifle, dass die Seele Platons sich vom Himmel wieder zu den Sterblichen herabgelassen hat«46. Bernardus Silvestris, Altersgenosse von Thierry und wie er ein angesehener Lehrer, widmete ihm seine »Cosmographia« mit den Worten: »Dem weitberühmten Doktor der Wissenschaften Thierry«.47 Offenbar genoss Thierry hohes Ansehen unter seinen Zeitgenossen. In den Jahrzehnten und Jahrhunderten nach seinem Tod erinnern sich führende Gelehrte an ihn und zitieren aus seinen Schriften, darunter Johannes von Salisbury († 1180), der ihn seinen »Magister Theodoricus, hochbewanderter Erforscher der Künste« nennt.48 Zum Ende des Mittelalters greift Nikolaus von Kues († 1464) nochmals auf seine zahlensymbolische Deutung der Schöpfung und der Trinität zurück.49 Gemessen an dieser Berühmtheit unter seinen Zeitgenossen erstaunt, wie wenig gesicherte Lebensdaten und Schriften wir von ihm besitzen. Erst allmählich hat die moderne Forschung ihn als einen selbständigen Denker des hohen Mittelalters erkannt50 und die meisten seiner Schriften kritisch ediert. In deutscher Übersetzung liegt erst eines seiner Hauptwerke und auch dieses nur zur Hälfte vor.51 Insgesamt bleibt Thierry im Schatten anderer großer Meister aus dem Umkreis der Schule von Chartres wie seiner Altersgenossen Gilbert von Poitiers und Wilhelm von Conches oder seines Schülers Alanus ab Insulis – sei es weil ihnen tatsächlich der geistige Vorrang gebührt oder weil von ihnen weitaus mehr Schriften überliefert sind. Angesichts der vielen berühmten Namen unter seinen Schülern ist durchaus denkbar, dass Thierry mehr ein Mann des gesprochenen als des geschriebenen Wortes war. Auch sonst müssen wir uns unser Bild von seiner Persönlichkeit aus Bruchstücken zusammensetzen.52 Manche Erwähnungen eines Thierry in Urkunden der Zeit können nicht sicher auf ihn bezogen werden; der Name war nicht selten, zudem gibt es unterschiedliche Schreibweisen (Theodoricus, Theodericus, Therricus, Terricus, Tedricus…). Geboren wurde er in der Bretagne (»Theodoricus Brito«), vermutlich kurz vor 1100 und möglicherweise als jüngerer Bruder des Bernhard von Chartres, der sein Vor-Vorgänger als Leiter der Kathedralschule war und vermutlich um 1126 starb.53 Der erste plausible Hinweis auf ihn bezieht sich auf das Jahr 1121: Kein geringerer als Pierre Abaelard erwähnt in seiner »Leidensgeschichte« einen »gewissen Magister Terricus« aus Chartres, der ihn vor dem Glaubensgericht von Soissons gegen den päpstlichen Legaten vehement verteidigte. Offenbar wirkt Thierry also in relativ jungen Jahren unter seinem älteren Bruder Bernhard als Lehrer in Chartres. In den 1130er Jahren finden wir Thierry fast sicher nicht in Chartres, sondern als Lehrer in Paris, wo er sich wachsende Berühmtheit erwirbt.54 Er unterrichtet alle Sieben Freien Künste, wobei sein Interesse sich zunächst auf das sprachliche Trivium richtet und sich erst im höheren Alter dem mathematisch-naturkundlichen Quadrivium und zuletzt ganz der Theologie zuwendet. Vermutlich hält er während seiner Pariser Zeit zugleich weiter Kontakt nach Chartres, das nur ein Tagesritt entfernt liegt; womöglich nimmt er dort ab 1136 zusätzlich das einträgliche Kirchenamt eines Erzdiakons von Dreux, einer der fünf ländlichen Untergliederungen der großen Diözese von Chartres wahr. Sicher ist, dass er sich 1141 noch in Paris befindet; in einem Scherzgedicht aus diesem Jahr auf die Pariser Lehrer wird er mit folgendem Zweizeiler bedacht: »Hier sieht man jenen Gelehrten aus Chartres Dessen Zunge heftig dreinschlägt wie ein Schwert.«55 Im selben Jahr nimmt er teil am Konzil von Sens, bei dem Bernhard von Clairvaux die Verurteilung des Abaelard erwirkt. Weitgehend sicher ist weiterhin, dass er 1142 zum Erzdiakon von Chartres56 und zugleich zum Kanzler der Kathedralschule berufen wird, als sein Vorgänger Gilbert das Amt des Bischofs von Poitiers übernimmt. Belegt ist weiterhin, dass er 1148 am Konzil von Reims zugegen ist, wo dieser Gilbert sich im anschließenden Konsistorium mit Erfolg gegen die Kritik des Bernhard von Clairvaux an seiner Trinitätslehre verteidigt.57 Dort befreundet er sich mit dem Erzbischof Albero von Trier, den er im August 1149 zusammen mit einem weiteren Gelehrten zum Reichstag nach Frankfurt begleitet. Alberos Biograph Balderich berichtet: »Und wie sie nun auf dem Schiffe dahinfuhren, ergötzte sich der Erzbischof an ihrem Streitgespräch und Wortgefecht solchermaßen, dass er ihnen dafür reiche Gabe austeilte.«58 Die Bootsfahrt auf der Mosel wäre unser letztes Bild von Thierry geblieben, wäre nicht in der Bibliothek von Troyes ein gereimter Nachruf auf ihn gefunden worden, der im Stil der Zeit kurz nach seinem Tod unter Gelehrten kursierte.59 Diesen 46-zeiligen »Epitaph« muss ein kundiger Kollege oder Schüler des Thierry verfasst haben. Er würdigt ihn darin als »würdigen Nachfolger des Aristoteles«, der u.a. als Erster im lateinischen Westen zwei neu übersetzte Werke des Aristoteles genutzt und publiziert habe. Erstaunlicher ist jedoch der zweite Teil dieses Gedichts: Wir erfahren daraus, dass Thierry sich in seinen letzten Lebensjahren (vermutlich ab 1150) aus allen öffentlichen Tätigkeiten zurückzog und in ein Zisterzienser-Kloster eintrat.60 Ein solcher Rückzug zum Lebensende war damals nicht ungewöhnlich, aus Gründen der Versorgung wie des Seelenheils; erstaunlich nur, dass Thierry den Orden des Bernhard von Clairvaux wählt, der sich zeitlebens als Gegner der schulischen Gelehrsamkeit hervorgetan hatte. Welches Bild können wir uns von seinem Temperament machen? Sein hitziger Auftritt in Soissons 1121 lässt auf eine kantige, auch des Sarkasmus fähige Persönlichkeit schließen. Dem entspricht der zitierte Zweizeiler aus dem Jahr 1141, in dem ihm eine »Zunge wie ein Schwert« zugeschrieben wird. Am deutlichsten wird seine Persönlichkeit vielleicht aus einem ironischen Selbstbild: Er sei ein Mensch »von barbarischer Abstammung, in seiner Rede geschmacklos, an Leib und Seele ungestalt, neidisch, verleumderisch, gegen Feinde unterwürfig, doch gegen Freunde niederträchtig.«61 Versteht sich, dass er mit diesem Zerrbild nicht sich selbst,...