E-Book, Deutsch, Band 10, 580 Seiten
Reihe: Ein-Leon-Ritter-Krimi
Eyssen Verräterisches Lavandou
V01. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8437-3181-2
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Provence-Krimi | Dieser spannende Urlaubskrimi entführt Sie in die Provence
E-Book, Deutsch, Band 10, 580 Seiten
Reihe: Ein-Leon-Ritter-Krimi
ISBN: 978-3-8437-3181-2
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Remy Eyssen, geboren 1955 in Frankfurt am Main, arbeitete als Redakteur u.a. bei der Münchner Abendzeitung. Anfang der Neunzigerjahre entstanden seine ersten Drehbücher. Bis heute folgten zahlreiche TV-Serien und Filme für alle großen deutschen Fernsehsender im Genre Krimi und Thriller. Mit seiner Krimireihe um den Gerichtsmediziner Leon Ritter begeistert er seine Leserinnen und Leser immer wieder aufs Neue und landet regelmäßig auf der Bestsellerliste.
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2. Kapitel
Leon hatte sich an diesem Morgen freigegeben. Die Rechtsmedizinische Abteilung in der Klinik Saint-Sulpice kam auch mal einen halben Tag ohne ihn aus. Also beschloss er, diesen Tag zu genießen, und dazu gehörte ein frisches Baguette zum Frühstück. Docteur Leon Ritter nahm die Abkürzung in den Ortskern von Lavandou. Er genoss es, den schmalen Pfad entlangzulaufen, der in diesem Jahr besonders grün und üppig war. Es hatte dieses Jahr bis in den Mai geregnet, jetzt platzte die Natur geradezu vor Saft und Kraft und bunten Blüten. Bougainvilleen und Jasmin quollen über die Mauern, die den Pfad und die Treppen zwischen den Gärten begrenzten. Die ersten Smaragdeidechsen krochen aus den Mauerspalten und wärmten sich in der Morgensonne. Für Leon fühlte es sich an wie ein Spaziergang durch das Paradies. Er hatte es nie bereut, nach Lavandou gezogen zu sein. Es war ein ungewöhnlicher Karriereweg gewesen, von der Medizinischen Fakultät der Uni Frankfurt bis an die Strände des Mittelmeers. Und wenn ihn jemand fragte, warum er die Professur in der renommierten Rechtsmedizin der Uni Frankfurt damals abgelehnt hatte, dann sagte er: Um morgens einen Spaziergang durch das Paradies zu machen. Wo es nach Wacholder, Rosmarin und Eukalyptus roch und man hinter den ockerfarbenen Dächern der Häuser das Meer glitzern sehen konnte. Der Ort Le Lavandou hatte den Anschluss an den modernen Tourismus verschlafen, sagten die Leute, damals, irgendwann in den Siebzigerjahren. Und Leon erinnerte sich, wie er als kleiner Junge mit seinen Eltern regelmäßig im Sommer eine Tante an der Côte d’Azur besucht hatte. Damals hatten die Fischer in Lavandou noch vom Doradenfang gelebt, und der aufblühende Tourismus war seinen Urlaubern hinterhergestolpert, die sich in Saint-Tropez, Grimaud oder Sainte-Maxime niederließen. Lavandou hatte unter jungen Leuten als rückständig und ein wenig verpennt gegolten. Aber das war schon lange her. Die Menschen in Lavandou waren nicht langweilig und verschlafen, sondern sie ließen sich einfach nicht gern von den neuesten Trends treiben. Auf diese Weise ging es zwar etwas langsamer vorwärts, aber dafür konnten allzu große Bausünden und andere sogenannte Errungenschaften des modernen Tourismus vermieden werden. Und das Wichtigste war: Lavandou hatte seine französische Seele behalten. »Bonjour, Docteur«, rief Denis, der gerade das Rollgitter vor seinem Eissalon hochschob. Seine gefrorenen Leckereien waren weit über die Grenzen des Ortes hinaus bekannt. Um diese Zeit waren erst wenige Leute auf den Straßen, und man konnte sich kaum vorstellen, wie sich durch die engen Gassen bereits in wenigen Stunden die Touristen drängen würden. In der Bäckerei Pain du Port standen allerdings schon die ersten Kunden Schlange. Das Brot von Serge Roux wurde von allen geschätzt, was umso erstaunlicher war, weil der Bäcker ein wenig sympathischer Zeitgenosse war. Er war unscheinbar, schmal, aber kräftig. Und er schien ständig schlechte Laune zu haben, als wäre das Leben selbst schon eine Zumutung. Vor einem Jahr war seine Frau gestorben. Seitdem hatte Roux sich noch stärker zurückgezogen. Trotzdem ging Leon gern in die Bäckerei am Hafen. Zum einen weil das Brot wirklich köstlich war, und zum anderen hatte Lilou, seine Stieftochter, über die Semesterferien einen Aushilfsjob bei Serge Roux angenommen. »Bonjour, Monsieur Roux«, sagte Leon freundlich, als er den Laden betrat und die Tür ein kleines Glockenspiel auslöste. »Docteur«, brummte der Mann hinter dem Tresen, der sich ein kariertes Küchenhandtuch wie eine Schürze in den Gürtel gesteckt hatte. In diesem Moment tauchte Lilou aus den Tiefen der Bäckerei auf und schenkte Leon ein breites Lächeln. Sie trug ausgefranste Jeans und ein T-Shirt mit dem Aufdruck Pain du Port. Um den Kopf hatte sie sich ein Tuch geknotet, das ihr etwas von einer Piratenbraut gab. »Bonjour, Monsieur le Médecin Légiste«, grüßte Lilou ihren Stiefvater mit einem frechen Grinsen. Leon legte ihr liebevoll die Hand auf die Schulter, als sie sich näherte. »Pain au Chocolat«, Leon zeigte vier Finger, »quatre.« Freundlich wandte er sich an Monsieur Roux und fragte: »Und, wie macht sie sich?« Roux antwortete nicht, sondern drehte sich um, wo die Backwaren in einem breiten Regal und Körben zum Auskühlen gelagert waren und hinter denen man weitere Mitarbeiter erkennen konnte. »Wo bleiben die Pains au Chocolat, verdammt?«, schimpfte Roux. »Sind gerade fertig, Monsieur«, sagte Lilou und rief dann laut in Richtung Backstube: »Die Pains-Choc, Françoise, allez hopp!« In diesem Moment kam eine große, kräftige Frau von Anfang zwanzig, die ein noch heißes Backblech vor sich her balancierte, aus den Tiefen der Backstube und bewegte sich dabei etwas ungelenk durch den engen Gang des Verkaufsraums. »Excusez-moi«, sagte Françoise zögernd zu ihrem Chef. »Sie waren noch zu heiß.« »Dann sehen Sie zu, dass wir wenigstens schon mal die Croissants verkaufen. Schlafen können Sie zu Hause«, fuhr Roux die junge Frau an. »Entschuldigen Sie, Patron«, sagte Françoise verunsichert. »Mein Fehler.« »Das ist Françoise, meine Kollegin«, stellte Lilou die junge Frau vor und zeigte dann auf Leon. »Das ist mein Vater.« »Madame«, sagte Leon mit gespielter Höflichkeit. Lilou lächelte. Die Bezeichnung »Vater« entsprach eigentlich nicht ganz der Wahrheit, aber Leon mochte es, wenn Lilou ihn als ihren Vater vorstellte. Er hatte sich immer eine Tochter wie Lilou gewünscht. Eines Tages war er in Lavandou einer Frau begegnet, wie er sie sich immer vorgestellt hatte. Es war die Frau, mit der er vom ersten Augenblick an zusammenbleiben wollte. Und eine Tochter gab es noch dazu. Das war vielleicht für ihn der wichtigste Grund gewesen, in Lavandou zu bleiben: Wegen der Liebe zu Isabelle und ihrer Tochter Lilou. Und wegen des Familienlebens, das sie seit zehn Jahren miteinander führten. »Ah, und ein Baguette, bitte«, fügte Leon hinzu und deutete auf die Brote im Regal hinter dem Bäckermeister. In diesem Moment machte Françoise einen unüberlegten Schritt nach hinten und stieß mit der Hüfte gegen ihren Kollegen Antoine. »Pass auf, Françoise!«, rief Lilou ihrer Kollegin noch zu, aber es war bereits zu spät. Das Blech rutschte Françoise aus der Hand und schmetterte mit der Kante auf den Boden. Die Pains au Chocolat sprangen wie wilde Frösche über den Boden der Bäckerei. »Merde alors«, fluchte der Bäcker laut. »Kannst du nicht aufpassen? Träumt hier rum«, schimpfte Roux. »Nur Mist im Kopf. Ist doch wahr.« »Es tut mir leid.« Françoise war den Tränen nahe. »Ich … ich mach das schon …«, sagte Antoine, ein dunkelhaariger Kollege, und kniete sich auf den Boden. Ohne seinen Chef oder seine beiden Kolleginnen anzusehen, sammelte er die abgestürzten Pains au Chocolat auf und warf sie in den Mülleimer. »Danke«, sagte Lilou zu dem jungen Kollegen. Antoine sagte nichts und sah nur betreten zu Boden. »Kannst du nicht aufpassen?«, schnappte Roux in Richtung von Françoise. »Was glaubst du, was wir hier tun?« »Es tut mir wirklich leid, Monsieur Roux«, sagte die junge Frau kleinlaut. »Wir verkaufen Brot, wir schmeißen es nicht in den Dreck«, Roux konnte seinen Zorn offenbar nur schwer unterdrücken. »Kann ja mal passieren, Monsieur Roux«, versuchte Leon zu schlichten. Er hatte in seine Tasche zum Geld gegriffen und zählte ein paar Euro ab. »Françoise ist so eine freundliche Person«, sagte er lächelnd. »Ich glaube, manche Kunden kommen vor allem ihretwegen in die Bäckerei.« »Sie haben gut reden. Klar, Sie müssen ja auch keine Bäckerei führen, in diesen Zeiten«, brummelte Roux vor sich hin. Antoine schob die restlichen abgestürzten Backwaren mit einem breiten Besen zusammen, Lilou bückte sich und versuchte noch ein paar Pains einzusammeln, die unter das Regal gerutscht waren. »Lass nur, ich mach das schon«, sagte Antoine, ohne Lilou anzusehen. »Ist sicher schwierig im Moment, klar. Kann ich mir vorstellen«, entgegnete Leon, während er sich im Geschäft umsah. Draußen waren die ersten Kunden eingetroffen und stellten sich bereitwillig am Eingang an, um das erste Baguette des Tages noch ofenwarm in Empfang zu nehmen. »Der Preis für mein Mehl ist seit Corona um dreißig Prozent gestiegen. Dann noch der Strom für die beiden großen Backöfen. Vierzig Prozent teurer.« Der Bäcker streckte Leon die Hand hin und zeigte vier Finger. »Vierzig Prozent!« Roux schob mit dem Fuß einen Eimer vor Françoise, den er sich von unter dem Tresen geangelt hatte. »Ich will keinen Krümel mehr am Boden sehen.« »Ich kümmere mich schon, Patron«, stotterte Antoine und kehrte dabei schnell und geschickt die Reste vom Boden. »Warte, ich helfe dir«, sagte Lilou, die die...