E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Feininger / Burdow / Hüneke "Sweetheart, es ist alle Tage Sturm" Lyonel Feininger – Briefe an Julia (1905–1935)
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-98568-010-8
Verlag: Kanon Verlag Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-98568-010-8
Verlag: Kanon Verlag Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Ines Burdow
Lyonel und Julia Feininger – eine Spurensuche
Mitte 2018 bekam ich die Transkripte von ungefähr 850 Briefen Lyonel Feiningers an seine zweite Frau Julia in die Hände. Der damalige Leiter der Quedlinburger Lyonel-Feininger-Galerie, Michael Freitag, beauftragte mich, eine Lesung zu konzipieren, die 2019 im Rahmen des Veranstaltungsprogramms zur Ausstellung »Die Feiningers – ein Familienbild am Bauhaus« stattfinden sollte. Zusammen mit dem Künstler Frank Diersch entwickelte ich ein Live-Hörspiel zum Thema. Michael Freitags enormes Wissen und Rückfragen bei Dr. Roland März, ebenfalls ein Feininger-Experte, halfen uns dabei. Die Briefe ließen mich allerdings nicht los. Briefe, die 1905 beginnen und 1935 enden. Dreißig Jahre Leben, dreißig Jahre Zeitgeschichte aus der Perspektive Lyonel Feiningers, das meiste davon unveröffentlicht oder lediglich verstreut auffindbar in Ausstellungskatalogen und wissenschaftlichen Fachpublikationen, oft auf einzelne Zitate reduziert, in denen Feininger sich zu seinem Kunstverständnis äußert, zu wichtigen Figuren des Kunstmarkts seiner Zeit oder zu Verhandlungen bei Verkäufen. Die Ausgabe, die Sie nun in Händen halten, bietet erstmals eine gebündelte und umfangreiche Auswahl der Briefe, die viele Aspekte, welche in den dreißig Jahren Thema der sehr persönlichen Korrespondenz waren, auffächert. Sie bietet also ein komplexes Bild, vor allem mit Blick auf die gemeinsame Geschichte der beiden Schreibenden. Es sind Briefe, die eine außergewöhnliche Liebesgeschichte erzählen und uns durch die Zeiten führen. Die Zeiten vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg, die Zeiten während der Weimarer Republik, der Deutschen Inflation, der Entstehung, Blüte und Schließung des Bauhauses, die Zeiten der Weltwirtschaftskrise, des aufkommenden Nationalsozialismus bis hin zur Machtergreifung Hitlers, die dazu führt, dass Lyonel und Julia Deutschland Richtung Amerika verlassen müssen. Julias jüdische Abstammung und Lyonels als »entartet« stigmatisierte Kunst brachten die Familie, trotz amerikanischer Staatsbürgerschaft, zunehmend in Gefahr. In New York fanden sich deren Mitglieder nach und nach wieder zusammen. Bei der intensiven Beschäftigung mit den Lebensumständen Julia und Lyonel Feiningers haben mich ihr beeindruckender Lebensweg, der Zusammenhalt, die Weltoffenheit und der Mut der beiden, immer wieder Neues zu wagen, tief berührt. Wie sehr sie gekämpft haben, Zustände für sich herzustellen, die sie nicht zuletzt auch zum inneren Überleben brauchten und um ihre Liebe und Partnerschaft zu schützen. Alles war in Bewegung, nichts blieb, wie es war – und immer wieder wagen sie sich auf neues Terrain, in der Hoffnung auf eine bessere Welt. Es ist anrührend zu lesen, wie liebevoll Freundschaften gepflegt werden. Und Lyonel, dem Öffentlichkeit nicht geheuer war und der davon ausging, dass Kunst nicht wirklich lehrbar sei, ging fast fünfzigjährig mit Gropius das große und für seine Zeit revolutionäre Experiment des Bauhauses ein. Das Bauhaus in Weimar war zunächst einmal eine Idee, als Antwort auf drängende kulturelle Probleme, auch im Bereich der Erziehung und Bildung, letztlich aber die gesamte Lebensführung betreffend. Hier sollte mit neuen Formen experimentiert werden. Und so bezog in wechselhaften Zeiten das Bauhaus 1919 im beschaulichen Weimar die vom belgischen Architekten Henry van de Velde für die dortige Großherzogliche Kunstschule und die Kunstgewerbeschule errichteten Gebäude. Die »neuen« Lehrenden teilen sich vorerst ihre Ateliers mit Professoren wie auch mit Studenten und Studentinnen der alten Schulen, deren Lehrtätigkeit oder Studium vom Krieg unterbrochen worden waren und die an der neuen Institution bleiben wollten. Lyonel und Julia sehen sich und ihre Familie mit der »sozialen und wirtschaftlichen Situation einer Nation konfrontiert, […] die durch Krieg und Revolution ausgeweidet worden war, mit Aufständen und Gewalt auf der Straße, dem drohenden Gespenst der Inflation und Engpässen«, schreibt der jüngste Sohn, T. Lux Feininger, in seinen Lebenserinnerungen »Zwei Welten«. Und er erinnert sich, »dass der Künstler mit dieser Aufgabe über sich hinauswuchs; mehr noch: dass er ungeahnte Kräfte in sich entdeckte und dass seine Kunst blühte und Früchte trieb wie nie zuvor.« Die Lektüre der Briefe zeigt, dass Julia und Lyonel die Entscheidung, nach Weimar zu ziehen, zusammen trafen und trugen. Weimar, das war auch das zärtlich erinnerte Städtchen, das ihnen schon zu Beginn ihrer Liebe, als Julia noch dort studierte, Zuflucht gewesen war – und jetzt eben als Speerspitze der Avantgarde den Aufbruch in eine neue Zeit markieren soll. Dass Lyonel Feininger, der Amerikaner mit deutschen Wurzeln, heute zu den bedeutendsten Künstlern der Klassischen Moderne zählt, war klar – doch Julia Feininger? In den Briefen konnte ich neben einem feinsinnigen, wortgewandten, humorvollen Menschen, fortschrittlichen Vater, liebenden Ehemann und dem zweifelnden Künstler und Beobachter der politischen Vorgänge der Zeit auch die Künstlerin Julia Berg, ehemals Lilienfeld und bald darauf Julia Feininger entdecken. Es braucht nicht viel, um der Korrespondenz zu entnehmen, dass beide nicht nur intensiv auf derselben Wellenlänge schwangen und sich immer wieder empathisch und sensibel aufeinander einstimmen konnten, sondern auch bei allem anderen auf Augenhöhe agierten. Allerdings muss diese Julia in Lyonels Worten entdeckt werden, denn nur dessen Briefe wurden von ihr nach seinem Tod gesichtet, in Auszügen von ihr zu einem Manuskript zusammengestellt und in dieser Form zur Veröffentlichung freigegeben – wobei das offenbar von ihr geplante Publikationsprojekt nicht zustandekam. Und doch ist es ein wichtiges Anliegen dieser Ausgabe, Julia, so gut es geht, aus dem Schatten ihres Mannes zu holen und sie ihm wieder an die Seite zu stellen, was Lyonel Feininger sicher gefreut hätte. Gleichzeitig respektiere ich ihren Wunsch, ihre eigenen Briefe nicht dazuzustellen. In der Quedlinburger Ausstellung »Die Feiningers – ein Familienbild am Bauhaus« haben mich damals auch die Fotos von Julia neugierig gemacht. An ihr war über die Jahre eine deutliche Wandlung auszumachen: Ein frühes Foto, das wohl Lyonel gemacht hat, zeigte die junge Julia auf einem Ast sitzend im weißen Kleid der wilhelminischen Zeit, mit üppig hochgestecktem Haar, mit verliebtem Lächeln den Betrachter durch die Kamera anschauend. Auf einem anderen frühen Foto wirkt sie, ebenfalls in für die Kaiserzeit typischer Mode, mit ausgestelltem Rock, geschnürter Taille, großem Hut und komplizierter Hochsteckfrisur etwas matronenhaft. Auf dem nächsten Foto jedoch sah ich eine entspannte, selbstsicher wirkende moderne Frau, lässig auf einen Schreibtisch gestützt, mit kurzem Haar und geradem, direktem Blick. Sehr harmonisch wirkt ein Atelierfoto: Julia im Sessel sitzend und Lyonel aus einem Buch vorlesend, während er an der Staffelei steht und malt. Im Netz finde ich jedoch auch Fotos, auf denen Julia, noch als recht junge Frau, erschreckend müde und gealtert wirkt. Das Plakatmotiv für die Quedlinburger Ausstellung zeigte damals einen Anblick, wie ihn wohl auch Julia vor Augen gehabt haben mag: Lyonel mit Hut, Mantel, Brille und Pfeife mit den drei Söhnen, vorn im Bild Andreas, auf Feiningers Arm der kleine Laurence und T. Lux im Kinderwagen. Was für ein untypisches Foto für diese Zeit! Wir sehen einen Vater auf ganz alltägliche Weise mit seinen Kindern, als wären die vier beim Spaziergang vom Fotografen oder der Fotografin überrascht worden, als wäre eine Fotografie solch eines Familienvaters mit Kinderwagen zu dieser Zeit das Normalste auf der Welt. Welch eine Familie, die aus der Verbindung von Julia und Lyonel hervorgegangen ist: Aus Andreas wird ein wegweisender Fotograf, aus Laurence ein in seinem Spezialbereich bahnbrechender Musikwissenschaftler und aus Lux ein eigenwilliger Maler und Pädagoge von ganz eigenem Rang. Und doch: Das Buch »Die Familie Feininger« wäre ein anderes, ein ganz eigenes Projekt. Der 150. Geburtstag von Lyonel Feininger am 17. Juli 2021 bietet nun den ersehnten Anlass, seine Briefe an Julia endlich der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wenn auch erst einmal in einer Auswahl aus dem enorm umfangreichen Typoskript, das Julia nach seinem Tod 1956 in den sechziger Jahren erstellt hat. Bei der Briefauswahl habe ich mich vor allem auf das Paar konzentriert, auf die gemeinsame Entwicklung während der intensivsten Schaffensperiode des Künstlers Feininger in äußerst bewegten Zeiten. Lyonels wichtigste Ansprechpartnerin und Kritikerin war Julia – sie war lebenswichtig, so scheint es, für den empfindsamen Künstler, der sich immer wieder durch tiefe innere Täler kämpfen musste. Julia war es, die ihn von Anfang an auf seinem Weg unterstützte, ihm den Rücken freihielt und ihren eigenen künstlerischen Werdegang für Lyonels Schaffen zurückstellte. In der Quedlinburger Ausstellung hatte Michael Freitag Skizzen und Bilder der beiden aus den ersten...