Fenner | Selbstoptimierung und Enhancement | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 420 Seiten

Fenner Selbstoptimierung und Enhancement

Ein ethischer Grundriss
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8463-5127-7
Verlag: UTB
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein ethischer Grundriss

E-Book, Deutsch, 420 Seiten

ISBN: 978-3-8463-5127-7
Verlag: UTB
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Selbstoptimierung ist der in der Gegenwart derzeit am meisten diskutierte gesellschaftliche Trend.

Diese ethische Einführung konzentriert sich auf die Selbstoptimierung im engen Sinn oder das „Enhancement“, d.h. auf technikbasierte, vorwiegend biomedizinische Methoden zur menschlichen Selbstverbesserung im Unterschied zu traditionellen Methoden.

Sie erläutert zunächst die grundlegenden, aber in der Debatte meist nicht genauer beachteten Konzepte „Glück“, „Gerechtigkeit“, „Freiheit“ und „Natur“.

Im Anschluss gibt sie einen Überblick über die unterschiedlichen Formen des Enhancements, arbeitet in einer klaren Sprache die verschiedenen Problemebenen heraus und systematisiert und prüft die wichtigsten Positionen und Argumente zur Selbstoptimierung.

Ziel ist es, durch eine kritische Prüfung der Argumente für und gegen einzelne Optimierungsmaßnahmen zur Versachlichung und Rationalisierung der öffentlichen Diskussion beizutragen.

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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1 Einleitung: Begriffsklärungen, Positionen und kultureller Kontext 9
1.1 Analyse der Begriffe „Selbstoptimierung“, „Selbst“ und „Enhancement“ 11
1.2 Kulturelle Voraussetzungen und Ambivalenz des Selbstoptimierungstrends 20
1.3 Wunscherfüllende Medizin und die Abgrenzung von Therapie und Enhancement 31
1.4 Wichtige Unterscheidungen und Positionen von Biokonservativen bis Transhumanisten 42
2 Normative Bezugsgrößen 59
2.1 Glück oder gutes Leben als individualethischer Maßstab 62
2.2 Gerechtigkeit als sozialethischer Maßstab 77
2.3 Freiheit und Würde 86
2.4 Normalität und Natur 104
3 Körperliches Enhancement 119
3.1 Schönheitsoperationen 120
3.2 Unsterblichkeit und Lebensverlängerung 148
3.3 Digitale Selbstvermessung und Quantified Self 154
3.4 Doping im Sport 159
4 Neuro-Enhancement 167
4.1 Emotionales Enhancement 173
4.2 Kognitives Enhancement 212
4.3 Moralisches Neuroenhancement 231
4.4 Kritik am Neuroenhancement insgesamt 242
5 Genetisches Enhancement 289
6 Schluss 319
Bibliographie 331
Sachregister 349
Personenregister 355


1.2 Kulturelle Voraussetzungen und Ambivalenz des Selbstoptimierungstrends
1.2.1 Kulturelle Voraussetzungen
Individualisierung Ideengeschichtlich betrachtet lässt sich der Trend zur Selbstoptimierung als konsequente und logische Fortsetzung verschiedener neuzeitlicher Individualisierungsschübe verstehen: Auf gesellschaftlicher Ebene verloren traditionelle Sozialzusammenhänge wie Verwandtschaft, Nachbarschaft oder Religionsgemeinschaft immer mehr an Bindungskraft. Zu den großen sozialen und geistesgeschichtlichen Umbrüchen auf diesem Weg zählen die Reformation und die Glaubenskriege mit dem Zerbröckeln eines einheitlichen, stabilen Orientierungssystems, der besonders im Calvinismus geförderte, mit erhöhter Selbstbeobachtung und Selbstdisziplinierung verbundene religiöse Individualismus, die Idealisierung der Innerlichkeit in der Romantik und der drastische Rückgang der religiösen Sozialisierung seit den 1960er Jahren in Europa (vgl. Leefmann, 102). Auf individueller Ebene hat sich in der Aufklärung das in der Renaissance aufkommende Selbstverständnis eines einzigartigen und autonomen Subjekts durchgesetzt, das sich mittels seiner subjektiven Rationalität sein eigenes Gesetz gibt. Dank des Siegeszugs der sich aus ihrem metaphysischen und religiösen Korsett befreienden Naturwissenschaften und der Technik macht sich der neuzeitliche Mensch die äußere Wirklichkeit verfügbar, um seine eigenen Bedürfnisse zu stillen. Unter Zurückweisung vorgegebener traditioneller Rollenbilder und Lebensmuster orientieren sich die Menschen zunehmend an selbst gesetzten Zielen, sodass in den 1960er Jahren ein Wertewandel weg von Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu ästhetischen und Selbstentfaltungswerten diagnostiziert wurde (vgl. Fenner 2003, 467). Auf wirtschaftlicher Ebene wurde die Individualisierung durch eine liberalistische Ökonomie und eine kapitalistische Kultur mit dem Prinzip des freien Marktes begünstigt, in der das individuelle Streben nach Gewinn und dem maximalen Erfüllen der subjektiven Wünsche den zentralen Motor darstellt. Neben seinen zahlreichen negativen Seiten hat der Kapitalismus den meisten Menschen in den westlichen Wohlfahrtsstaaten infolge des Wirtschaftswachstums einen hohen Lebensstandard, eine enormen Erweiterung der Lebensmöglichkeiten, mehr Freiheit, Flexibilität und Mobilität gebracht. Nicht zuletzt auch dank mehr freier Zeit wurden damit die Bedingungen dafür geschaffen, dass die Menschen sich vermehrt mit sich selbst und ihrem Leben beschäftigen konnten. Der aus der Soziologie stammende Begriff der Individualisierung bezeichnet also den historischen Prozess eines Zugewinns an Autonomie und Wahlmöglichkeiten der Individuen, die sich aus fragwürdig gewordenen metaphysischen, religiösen und sozialen Ordnungssystemen und Strukturen herauslösen. Je weniger der Einzelne von Gott, dem Schicksal oder der Tradition vorgegebene Aufgaben und Rollenmuster zu übernehmen gewillt ist, desto mehr rückt nun das eigene Selbst als einziger Orientierungspunkt in den Vordergrund und wird zur neuen Quelle von Normativität. Individuelle Selbstgestaltung und Lebensplanung gelten als die großen existentiellen Herausforderung des modernen Menschen, der alle Entscheidungen über Ausbildung, Beruf, Familie und Wohnort selbstreflexiv und selbstverantwortlich treffen und seinen individuellen Lebenslauf selbst entwerfen muss (vgl. Beck 2003, 216ff./Selke 2014a, 188). Noch vor der Konjunktur des Schlagworts „Selbstoptimierung“ war in den 1970er und 80er Jahren der Begriff „Selbstverwirklichung“ für diese neue Innenorientierung in Mode gekommen, der gleichfalls eine Schlüsselkategorie des modernen Selbstverständnisses darstellt. Obgleich das Konzept der „Selbstverwirklichung“ von den deutschen Idealisten in die Philosophie eingeführt wurde, verhalf ihm erst die humanistische Psychologie in den 1970er Jahren zum Durchbruch. Selbstverwirklichung meint allgemein die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, indem man seine eigenen Möglichkeiten und Talente ungeachtet gesellschaftlicher Erwartungshaltungen ausschöpft. Dabei hat auch die Vorstellung von „Selbstverwirklichung“ eine Individualisierung erfahren, da grundsätzlich zwei Deutungsmöglichkeiten offen stehen (vgl. Fenner 2007, 92): Im essentialistischen capacity-fulfillment-Modell wird von einem bereits vorgegebenen metaphysischen oder biologisch angeborenen „Selbst“ ausgegangen, das lediglich in der Welt realisiert werden muss. Dieses von vielen humanistischen Psychologen von Goldstein über Fromm bis Maslow vertretene Entfaltungsmodell der Selbstverwirklichung wird gern mit der Analogie zum Wachstum eines Samenkorns illustriert, bei der allerdings die zentrale Rolle von Vernunft, Erziehung und Bildung in der menschlichen Entwicklung unterschätzt wird. Denn die genetischen Anlagen und Fähigkeiten sind beim Menschen so unbestimmt, dass sie zu höchst unterschiedlichen positiven oder negativen Zwecken einsetzbar sind (vgl. dazu Fenner 2003, 372; 472f.). Aufgrund dieser zweifelhaften Prämissen dominiert heute das individualistische aspiration-fulfillment-Modell, bei dem die Freiheit der Individuen viel stärker betont wird. Es gilt dann nicht ein vorgegebenes „Selbst“ zu realisieren, sondern die wichtigsten Wünsche oder Ziele eines Individuums (vgl. Kipke 2011, 82f.; 209). Subjektivierung und Psychologisierung des Glücks Dieser vielschichtige Prozess der Individualisierung und die Suche nach neuen innerlichen Quellen normativer Handlungsorientierung haben zu einer Renaissance der antiken Individualethik geführt: Nachdem Themen der individuellen Lebensführung wie die Frage nach dem Glück und guten Leben sowohl in der Philosophie als auch in der Öffentlichkeit jahrhundertelang zugunsten moralischer Belange vernachlässigt wurden, genießen sie seit den 1970er Jahren erneut hohe Aufmerksamkeit (vgl. Fenner 2007, 7). Die Dominanz der Fremdorientierung und des Ideals der Selbstlosigkeit war gebrochen, sodass Selbstorientierung und Selbstsorge nicht länger als egoistisch verpönt waren. Während allerdings in Antike und Mittelalter von objektiven Kriterien für menschliches Glück ausgegangen wurde, hat im Laufe der neuzeitlichen Individualisierungsprozesse eine Subjektivierung und Individualisierung des Glücks stattgefunden: Das Individuum soll keine vorgegebenen Aufgaben mehr im Kosmos oder einem göttlichen Schöpfungsplan erfüllen, sondern seine ganz persönlichen Wünsche und Ziele realisieren und sein Glück in der Selbstverwirklichung finden (vgl. Höffe, 19/Kipke 2011, 209f.). Im Zeichen eines anhaltenden „Glücksbooms“ wird der Büchermarkt überschwemmt von einer Fülle populärwissenschaftlicher, spiritueller bis hin zu kabarettistischer Ratgeberliteratur, die zusammen mit Feuilletonbeiträgen und Blogs den Weg zum Glück weisen. Es wird im Sinne des typisch neuzeitlichen Macht- und Machbarkeitsdenkens suggeriert, das Glück sei planbar und herstellbar und jeder könne sein eigenes Glück „schaffen oder aufbauen“ (Lyubomirksy, 24). In ihrer schlichtesten Form bietet die Lebenshilfeliteratur Anleitungen zum Selbermachen und gibt einfache Rezepte, wie man sein Leben zu einem glücklichen machen kann. So soll man etwa „Krisen als Chancen“ betrachten und widrige Umstände positiv deuten, „achtsam“ oder „authentisch“ leben, sich selbstgewählte Ziele setzen und sich selbst optimieren. Je aufdringlicher die Werbeindustrie den Menschen Glück durch den Erwerb bestimmter Güter oder die Nutzung spezifischer Dienstleistungsangebote verspricht, scheint das Glück selbst zur Pflicht erhoben zu werden. Kritische Zeitgenossen sprechen angesichts der omnipräsenten Glücksverheißungen von einer „Diktatur des Glücks“ und einer „Glückshysterie“, weil jedem eingeimpft wird: „Du musst glücklich sein, sonst lohnt sich dein Leben gar nicht“ (Schmid 2012, 8). Das intensivierte Glücksstreben und die Betrachtung des individuellen Glücks als Indiz für eine gelingende Selbstverwirklichung und Lebensführung haben dem Selbstoptimierungstrend den Weg bereitet und ihn angekurbelt. Nachdem in der Antike vornehmlich die Philosophie für Fragen der Lebenskunst und des Glücks der Einzelnen zuständig war, scheinen sie aber seit ihrer Renaissance in den Zuständigkeitsbereich der Psychologie gerückt zu sein: Von einer Therapeutisierung oder Psychologisierung des Glücks lässt sich insofern sprechen, als sich immer häufiger Psychologen und Psychotherapeuten für Experten menschlichen Glücks erklären und Unterstützung bei einer gelingenden Selbstverwirklichung bieten. In den 1970er Jahren kam es zu einem allgemeinen „Psycho-Boom“, weil das Interesse der Bevölkerung an einer im weitesten Sinn verstandenen Therapie als sozialer Praxis...


Fenner, Dagmar
Prof. Dr. Dagmar Fenner forscht und lehrt am Philosophischen Seminar der Universität Basel.



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