E-Book, Deutsch, 287 Seiten
Fischer Agnete
3. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7584-1545-6
Verlag: epubli
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 287 Seiten
ISBN: 978-3-7584-1545-6
Verlag: epubli
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Agnete ist 97 Jahre alt und lebt allein am Waldrand. Eines Tages bekommt sie Besuch von einem seltsamen Mann. Was will er von ihr? Kennt er womöglich ihr Geheimnis? Falls ja: Wieso will er dann nur reden? Agnete fasst Vertrauen und begibt sich mit ihm auf eine Reise in ihre Vergangenheit. Unwissend, dass diese Reise große Auswirkungen auf ihre Zukunft haben wird.
Ich bin Hesse mit unterfränkisch-oberschlesischen Wurzeln. Gelebt habe ich schon in mehreren Ecken der Welt und überall war es wichtig, ankommen zu können. Offenheit und Toleranz sind mir daher sehr wichtig. Seit 2015 wohne und arbeite ich in Frankfurt am Main. Als studierter Orientalist und Kulturgeograph mit Schwerpunkt Entwicklungsforschung und politischer Geographie bin ich als Autor ein klassischer Quereinsteiger. Die Idee, Romane zu schreiben, hatte ich schon länger. Die Zeit, sie zu Papier zu bringen, allerdings nicht. Im Corona-Lockdown 2020 habe ich gemerkt, dass ich ein Ventil brauche, um mich sinnvoll und kreativ zu beschäftigen. Ich fand das Ventil im Schreiben. Mittlerweile habe ich schon drei Romane herausgebracht: 'Wie sieben Jahre Regenwetter', 'Herr Gutermann' & 'Agnete'.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Von Engeln, Feen und Büchern
»Das ist aber ein schöner Name.« »Vielen Dank. Den hat mir mal ein Kind in Genua gegeben, kurz nach der Pest. Woanders bin ich als Engel bekannt. Manchmal auch als Dschinn. Als gute oder schlechte Fee, das hängt vom Märchen ab. Je nach Region werde ich etwas anders dargestellt. Äußerlich. Mit einer anderen Motivation. Oder einer anderen Vorgehensweise. Aber im Großen und Ganzen ist das egal.« »Herr Gutermann also.« »So ist es. Freunde und gute Bekannte nennen mich auch Griesgram oder Besserwisser. Aber eher mit einem Augenzwinkern.« »Und hast du einen Vornamen? Oder wie soll ich dich nennen?« Herr Gutermann nickte. »Ich habe unzählige Vornamen. Aber ich kann mich nicht für einen entscheiden. Du kannst mich also nennen, wie du möchtest.« »In Ordnung, dann bleibe ich bei Herr Gutermann.« »Und woher kommst du? Bist du … von hier? Von der Erde?« Herr Gutermann schmunzelte. »Das kann ich weder mit Ja noch mit Nein beantworten. Mein Zuhause befindet sich hier, ja. Nicht in der Gegend, sondern sehr weit weg. Auf der Haide nennt man die Gegend. Aber sie ist nicht zwangsläufig Teil dieser Welt.« »Wie meinst du das? Wie kann ich mir das vorstellen?« »Nun … ich versuche es mal, so zu erklären: Wenn Wanderer an meinem Wohnzimmer vorbeikommen, sehen sie höchstwahrscheinlich nur eine kleine Baumgruppe, zwei Sitzbänke und einen weißen Stein.« Agnete setzte einen ungläubigen Blick auf. »Einen weißen Stein? Sitzbänke?« »Ja. Und das ist keine Täuschung oder so, die Baumgruppe, die Sitzbänke und der Stein existieren alle.« »Aber?« »Für mich sind sie so viel mehr.« »Das musst du jetzt schon genauer erklären.« »Mache ich, mache ich. Die Baumgruppe ist alles Mögliche. Fundament, Wände, Flure, Stockwerke, Gänge, Schränke. Nahrungsmittellieferant, Klimaanlage, Dusche. Musikanlage. Manchmal schlafe ich auch auf zwei besonders starken Ästen.« Agnete musste grinsen. Sie stellte sich ein immergrünes, torfig-erdiges Waldreich vor, dessen Untergrund aus unzähligen Wurzeln und weichem Boden bestand. »Und der Stein ist Teil meines Büros. Dort habe ich ein Telefon, meinen Notizblock mit Stiften und dort lade ich auch mein Tablet auf, wenn es leer ist. Alles schön an Ort und Stelle verstaut. Für vorbeikommende Menschen sieht es aber nur aus wie ein weißer Stein.« »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ein Tablet ist. Aber ich verstehe schon, der Stein ist demnach wie ein Sekretär für dich.« »Korrekt!« »Und der Rest?« »Der Rest. Nun, die Sitzbänke sind, ganz banal, zum Sitzen da. Zum Diskutieren, zum Reflektieren. Wie ein Sofa eben.« »Du reflektierst also dort vor dich hin?« »Ich selbst auch, ja. Aber vor allem andere.« »Andere? Deine Freunde?« Herr Gutermann winkte ab. »Aber nein, meine Freunde reflektieren nicht. Die müssen nicht reflektieren. Sagen sie zumindest.« »Und wer reflektiert dort dann?« »Ach, gelegentlich lade ich irrlichternde Menschen in mein Zuhause ein. Menschen, die hinterfragen. Menschen, die bereuen wollen. Menschen, die bereuen sollen.« »Das ist ja spannend. Und wieso bin ich dann dort nicht? Muss ich denn nichts bereuen?« »Eine sehr gute Frage, liebe Agnete. Die Antwort liegt aber klar auf der Hand: Deine Aufgabe muss hier gelöst werden. Ich könnte dir in meinem Zuhause oder an anderen Orten nicht helfen.« »Ich verstehe. Aber wenn ich gern mal zu dir eingeladen werden würde? Dein Waldreich klang zu verlockend, weißt du?« Herr Gutermann strahlte über das ganze Gesicht. Er liebte Besuch. Und er liebte sein Zuhause. Was könnte also besser sein, als Besuch zu sich einzuladen? »Sehr gerne. Aber darüber reden wir, wenn die Zeit gekommen ist.« Agnete nickte stumm. »In Ordnung. Du hast gerade von meiner Aufgabe gesprochen. Was genau machst du hier? Was genau ist meine Aufgabe? Und deine?« »Wenn ich das wüsste, Agnete. Wenn ich das wüsste. Manchmal sind meine Aufträge glasklar. Da muss ich nur nach Schema F vorgehen und nach zwei Tagen ist die Sache geritzt. Und manchmal … manchmal muss ich mir den Auftrag erst noch zusammensuchen.« »Und wer beauftragt dich? Gott?« Herr Gutermann brach in schallendes Gelächter aus. »Gott? Aber nein, nicht schon wieder der. Was habt ihr nur alle mit ihm? Das hat mich kürzlich auch jemand gefragt. Das ist wie eine Obsession bei euch.« »Wer dann? Wen gibt es denn da noch?« »Ich hatte ganz vergessen, dass du gläubig bist. Mal mehr, mal weniger, nicht wahr? “Du sollst nicht töten” und so, eher Auslegungssache. Wen es da noch gibt? Viele. Unzählig viele. Ich kenne auch nicht alle. Es tauchen immer wieder neue auf und alte verschwinden oder verstecken sich, verändern sich.« »Und die sind alle da oben?« Agnete deutete gen Himmel. »Nein nein, Gott bewahre. Oh, der war lustig, oder? Die sind überall. Auch nicht immer in Menschenform. Weißt du, es macht manchmal schon Sinn, mit Pflanzen zu sprechen, Bäume zu umarmen und so. Du kannst nie wissen, wer sich dahinter wirklich verbirgt.« »Ich verstehe.« Agnete hielt kurz inne. Sie überlegte, was sie da gerade von sich gegeben hatte. Dann korrigierte sie sich. »Also nein, eigentlich verstehe ich nicht, aber ich akzeptiere zumindest.« Der Mann lächelte sie sanft an. »Das ist eine wichtige Voraussetzung für unser Vorhaben. Und für das Leben insgesamt. Und das, was danach kommt. Oder nicht.« »Was kommt denn danach?« »Du stellst die richtigen Fragen. Nur leider in den unpassendsten Momenten.« »Was passt denn gerade nicht?« »Die Antwort auf deine Frage ist so umfangreich, dass ich sie dir in drei Jahren noch erzählen würde. Pausen nicht mitgerechnet. Und die Zeit haben wir nicht. Noch nicht. So viel weiß ich schon. Wir müssen unseren Auftrag verstehen und dann handeln. Vielleicht schneller als uns lieb ist. Danach können wir ausruhen und wieder Kaffee trinken.« »Wir müssen? Wirklich?« »Zwingen kann ich keinen, das steht nicht in meiner Macht. Aber ich kann dir sagen, dass es essenziell ist, dass du mit an Bord bist. Du bist der Schlüssel.« »In manch anderer Situation könnte das als Kompliment aufgefasst werden.« »Das ist es auch in dieser. Es ist Kompliment und Tatsache in einem.« Agnete lächelte verschämt. »Und was ist, wenn du den Auftrag nicht erledigst? Wenn wir die Situation nicht lösen?« »Das kann ich dir nicht pauschal beantworten, Liebes.« »Hast du schonmal etwas nicht gelöst?« »Sicher, sicher. Wenn man so viele Jahre wie ich auf dem Buckel hat, kommen auch einige Pleiten hinzu. Ich will nicht sagen, dass ich für das Aussterben der Dinosaurier verantwortlich gemacht werden kann, aber bei mir waren auch schon einige Klopper dabei.« »Zum Beispiel?« »Das sprengt im Detail hier und jetzt den Rahmen, aber sagen wir mal so: Die ein oder andere Seuche hättet ihr sicher nicht gebraucht. Und ich rede gerade nur von der Erde.« »Von der Erde? Wovon denn auch sonst?« »Agnete, es gibt natürlich nicht nur diese Welt.« Die alte Frau fasste sich an die Stirn. »Mir schwirrt der Kopf.« »Kann ich verstehen. Das höre ich des Öfteren, wenn ich irgendwo auftauche. Ehrlich gesagt wäre es sehr komisch, wenn keine Nachfragen kämen. Willst du dich kurz hinlegen?« Sie schüttelte sanft den Kopf. »Es geht schon. Wie gehen wir also vor? Hast du eine Idee?« »Grob, ja. Ich glaube, dass der Stammbaum eine Rolle spielt.« »So? Denkst du, dass meine Familie ein Geheimnis hatte?« Der Mann stach mit seinem langen Zeigefinger in die Luft und durchbohrte sie dabei regelrecht. »Eines? Unzählige. Eure Geschichte ist löchrig wie ein Schweizer Käse. Angefangen bei der Verwandtschaft deiner Mutter bis hin zu eurer Herkunft insgesamt.« »Wie meinst du löchrig? Nur weil ich nicht wusste, wer meine Verwandtschaft mütterlicherseits ist?« »Auch, aber das war nicht ausschlaggebend. Du musst wissen, dass ich ein Buchliebhaber bin. Ich habe daheim Bücher von jedem Menschen, egal ob tot, lebendig oder irgendwo dazwischen. Deswegen meinte ich vorhin auch des Öfteren, dass ich dieses oder jenes schon mal gelesen hatte.« Agnetes Augen wurden größer. »Bücher von jedem Menschen? Wie soll ich mir das denn vorstellen?« »Einfach wie ein großes Regal. Ein sehr großes Regal.« Agnete stellte sich ein Regal vor, das von ihrer Terrasse bis zur Stadt ging und in der Höhe erst am Mond anstieß. Ob das überhaupt reicht, überlegte sie weiter. »Das muss unendlich groß sein.« »Das stimmt, ich habe selbst noch nicht alles sichten können. Manchmal gehe ich strukturiert vor und schaffe eine ganze Sektion am Wochenende. Und manchmal verzettle ich mich in einer Geschichte oder muss irgendwo einschreiten, dann dauert es eben etwas länger mit der Inventur.« »Und was hat deine Bibliothek nun mit meiner Familie zu tun?« »Du bist doch auch ein Mensch, oder? Und deine Eltern waren auch welche.« »Natürlich bin ich das. Sind sie das gewesen.« »Und ich habe Bücher von jedem Menschen.« »Also auch von uns.« »Und das ist eben der Punkt: Dein Buch war schon anders als die meisten und das von deinem Vater war mit nichts zu vergleichen.« »Wie...