Fischer Karl Kraus
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-552-05997-9
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Widersprecher. Biografie
E-Book, Deutsch, 1008 Seiten
ISBN: 978-3-552-05997-9
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
„Vieles von dem, was Kraus schrieb, trifft unsere Zeit noch genauer als seine eigene.“ (Jonathan Franzen) Jens Malte Fischer holt Karl Kraus mit einer großen Biografie zurück in die Gegenwart. Ausgezeichnet mit dem Bayerischen Buchpreis 2020
Im Alter von 25 Jahren gründet er "Die Fackel", die er von 1911 bis 1936 alleine schreibt, die "Letzten Tage der Menschheit" werden zur radikalen Abrechnung mit dem Weltkrieg, die "Dritte Walpurgisnacht" nimmt es auf mit der Hitlerei. Karl Kraus: Das sei der größte und strengste Mann, der heute in Wien lebe, heißt es bei Elias Canetti. Kraus, geboren 1874 im böhmischen Jicin, gestorben 1936 in Wien: Für die einen war er Gott, für andere der leibhaftige Gottseibeiuns. Sein Name ist legendär geblieben, doch wofür er stand, das verblasst mehr und mehr. Jens Malte Fischer holt ihn jetzt mit einer großen Biografie in die Gegenwart. Persönlichkeit und Werk, Freund- und Feindschaften, Sprüche und Widersprüche zeigen einen der größten Schriftsteller in seiner Zeit und darüber hinaus.
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I Karl Kraus wohnt
Am 12. Februar 1912 zog Karl Kraus hier ein und blieb dort bis zu seinem Tod 1936: Lothringerstraße 6, im 1. Bezirk. Er hatte, auch als er schon als Schriftsteller etabliert war, relativ lange bei seinen Eltern gewohnt, zunächst in der Maximilianstraße 13 im 1. Bezirk (ab 1919 hieß sie Mahlerstraße, nach 1938 Meistersingerstraße und dann wieder ab 1946 bis heute Mahlerstraße; eine kleine österreichische Geschichte in Straßennamen), dann in der Elisabethstraße 4. Seine erste eigene Wohnung befand sich ganz in der Nähe in der Elisabethstraße, eine weitere in der Dominikanerbastei 22. Die Lothringerstraße führt vom Karlsplatz zum Stadtpark. An ihrem Anfang stehen Häuser, die nahezu Ringstraßencharakter haben und heute als ziemlich prunkvoller »Altbau« bezeichnet werden. Leopold Liegler nennt die Nummer 6 das »vielleicht geschmackloseste Haus dieser Gegend, über und über mit gipsernen Ornamenten bedeckt«.1 In der Tat war es kein Haus, das Adolf Loos, dem Kämpfer gegen das Ornament, gefallen hätte, aber das scheint Kraus gleichgültig gewesen zu sein, ganz im Sinne seines Aphorismus: »Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst.«2 Als Kraus einzog, war es faktisch ein Neubau, 1904 fertiggestellt. Der Architekt war Julius Goldschlager. Gegen die Straße war das Haus anders als heute durch Portalpfeiler und einen schmiedeeisernen Zaun abgetrennt. Im Hochparterre war und ist die Wohnung, keineswegs groß, wenn auch für eine alleinstehende Person ausreichend. Es war das eine Zweieinhalbzimmerwohnung: ein großes Arbeitszimmer, ein relativ kleines Schlafzimmer, ein Bad und ein Vorraum als Diele. An der Eingangstür zum Vorzimmer war ein geräumiger Briefkasten angebracht, sehr groß, weil die Umschläge mit den Korrekturen der aktuellen Fackel aus der Druckerei hineinpassen mussten. Diese wurden gegen acht Uhr in der Früh von einem Boten gebracht, der einen Schlüssel zur Wohnung hatte, damit Kraus, der sich dann erst vor Kurzem zum Schlafen niedergelegt hatte, nicht gestört wurde. Vom Vorzimmer ging rechts das Badezimmer ab, in das Kraus einen kleinen Gaskocher gestellt hatte — mehr war nicht nötig, denn er nahm seine Mahlzeiten grundsätzlich außer Haus ein. Die eigentliche Küche, als solche nicht benötigt, im Souterrain (wie damals nicht unüblich), war durch eine Wendeltreppe vom Badezimmer aus zu erreichen und in eine Mischung aus Archiv, Registratur und Poststelle umfunktioniert worden. Links vom Vorzimmer aus ging es ins sehr große Arbeitszimmer mit einem angemessen großen Fenster. Der Freund Karl Jaray ließ sehr bald nach dem Tod von Kraus die Wohnung (mit Ausnahme der Küche und des Bades) vom Fotografen J. Scherb im letzten Zustand (Juli 1936) fotografieren. Sie macht auf den Fotos den Eindruck, Kraus habe sich nur eben auf ein Nachtmahl wegbegeben. Das Bett soll in dem Zustand abgebildet sein, in dem der Bewohner darin starb. So ist ein ungewöhnlicher Blick in die sogenannte Privatsphäre möglich — einen ähnlichen Eindruck vermitteln ja die Fotos, die Edmund Engelmann in der Wohnung Sigmund Freuds aufgenommen hat, unmittelbar vor dessen letzter Reise in die Londoner Emigration. Kraus hielt ansonsten seine häuslichen Verhältnisse vor der Öffentlichkeit (wie sein privates Leben überhaupt) streng verborgen. Dass er etwa einen jungen Mann, den er gerade erst kennengelernt hatte, wie den Verleger Kurt Wolff, mit zu sich nach Hause nahm, nachdem man sich in einem Café getroffen hatte, war eine Ausnahme und ein ganz außergewöhnlicher Sympathiebeweis. Zunächst fallen die vielen Bilder auf, in der Mehrzahl Fotos, an den Wänden, nicht nur im Wohn- und Arbeitszimmer, sondern auch im Schlafzimmer und in der Diele — die Wohnung wirkt geradezu gepflastert mit Bildern. Die Räume hinterlassen ingesamt einen abgewohnten Eindruck. Das wird zunächst nicht verwundern, denn es ist nicht überliefert, dass Kraus sich mit Verschönerungen beschäftigt hat. Es verwundert aber dann doch, denn ebenjener Jaray hatte die Wohnung im Herbst 1934, als Kraus seinen letzten größeren Urlaub an der Adria machte, renovieren lassen, aber das mögen in der Kürze der Zeit nur Schönheitsreparaturen gewesen sein (mit Ausnahme des Einbaus einer modernen Heizung), keine Grundrenovierung, für die die Zimmer hätten ausgeräumt werden müssen, was Kraus nicht zugelassen und Jaray sich auch nicht getraut hätte. Es mag aber sein, dass eher die Möbel verschlissen wirken und dieser Eindruck auf die Wände abstrahlt. Stellen wir uns vor, in die Wohnung einzutreten, und sehen uns im Korridor um. Neben der Eingangstür steht links eine Kommode, auf der zwei Reisekoffer liegen. Über der Tür ein gerahmtes Bild, in dem zehn Postkarten mit Porträts von Schauspielerinnen eingefasst sind. Um wen es sich handelt, ist nicht zu erkennen, weil die Aufnahme nicht präzise genug ist, aber es ist zu vermuten, dass es sich neben anderen um seine Lieblinge Charlotte Wolter, Josefine Gallmeyer und Marie Geistinger handelt. Über der Kommode mit den Koffern symmetrisch angeordnet sind zwölf weitere Bilder zu sehen, jedes für sich gerahmt. Dominierend ist die berühmte Abbildung, die Johann Nestroy in einer seiner Glanzrollen (außerhalb der eigenen Stücke) zeigt, als Sansquartier nämlich in der Posse Sieben Mädchen in Uniform von Louis Angely, trotz seines französischen Namens ein Berliner Vaudeville- und Possenautor vom Beginn des 19. Jahrhunderts. Links davon zwei der berühmten Theaterpublikumskarikaturen Honoré Daumiers, darunter Aubrey Beardsleys Zeichnung eines versunkenen Wagner-Publikums The Wagnerites. Unter dem Nestroy ein kleines Bild des alten Burgtheaters am Michaelerplatz, dessen endgültige Schließung Kraus als junger Mann miterlebt und immer bedauert hat. Darunter wiederum drei weitere Fotografien Nestroys in verschiedenen Rollen. Rechts daneben wieder drei Daumier-Karikaturen und darunter nochmals Nestroy in einer anderen großen Rolle, nämlich als Jupiter in Offenbachs Orpheus in der Unterwelt, und zwar als Jupiter, der sich auf amourösen Wegen in eine goldene Fliege verwandelt hat. Schon der Korridor ist also ein Kraus-Raum: Theater, Theater, alles Theater. Betreten wir jetzt das Arbeitszimmer. Vor dem Fenster, das mit schweren Portieren zugezogen werden konnte, ein kleinerer Tisch mit zwei Stühlen. Rechts vom Fenster an der einen Längswand des Zimmers ein großes Bücherregal, das einzige größere in der ganzen Wohnung. Es besteht aus drei nebeneinanderliegenden Fächern verschiedener Breite, ist außerdem in fünf Ebenen übereinander geschichtet. Direkt anschließend rechts ein weiteres Regal. Links noch eines, das offensichtlich mit Fackel-Material vollgestopft ist, in Papier notdürftig eingewickelte Korrekturen, Fahnen etc. Auf der obersten Reihe die Fackel in Quartalsbänden, außerdem Buchausgaben der Werke von Kraus, darunter die Kraus’sche Bibliothek, die alle Besucher durch ihre Kompaktheit, um nicht zu sagen: Beschränktheit überraschte. Alle quer liegenden Bände eingerechnet werden hier, grob geschätzt, rund neunhundert Bücher versammelt sein. Kraus hatte hier immer noch so viel Platz zu verschenken, dass auf der obersten Reihe ein Viertel des Bretts noch mit Bildern verstellt ist. Er war kein Bibliophiler und kein Bibliomane. Er ließ sich Bücher aus Bibliotheken besorgen, wenn er sie brauchte, oder lieh sie sich bei Freunden aus. Bekam er Bücher zugeschickt, die ihm nicht wichtig wurden, verschenkte er sie oder ließ sie zum Antiquar bringen. Die vorhandenen Bücher sind teils schöne und kostbar wirkende Ausgaben der Klassiker: Goethe, Schiller, Shakespeare und Jean Paul. Dann aber auch Widmungsexemplare (wie belegt ist) von Frank Wedekind, Gerhart Hauptmann, Detlev von Liliencron und anderen wenigen Zeitgenossen, die er schätzte. Auf der anderen Längsseite neben einer Art Kommode mit matten Glasfenstern, einem »Kasten«, wie das damals hieß, steht noch ein kleines offenes Regal, in dem sich ebenfalls Arbeitsmaterialien stapeln. Das Wohn- und Arbeitszimmer, Lothringerstraße, Wien, aufgenommen nach dem Tod von Kraus. Vor das große Regal schräg herangestellt ist der durch die immer aufgeklappten Seitenteile enorm breite, wenn auch nicht sehr tiefe Schreibtisch, über und über bedeckt mit Büchern und Papieren. Dieser Schreibtisch war von Adolf Loos entworfen worden — die...